Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.01.2023, Az. 5 StR 412/22

5. Strafsenat | REWIS RS 2023, 1091

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Gegenstand

Anforderungen an die Revisionsbegründung bei der Rüge einer wesentlichen Beschränkung der Verteidigung; Einsicht der Verteidigung in den Datenbestand der EncroChat-Kommunikation beim Landeskriminalamt


Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 8. April 2022 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Seine auf die Sachrüge und Verfahrensrügen gestützte Revision bleibt ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 [X.]). [X.] Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

2

1. Soweit die vom Angeklagten erhobene [X.] der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt (§ 338 Nr. 8 [X.]) mit der Stoßrichtung erhoben worden ist, dass sein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, hilfsweise dessen Unterbrechung bis zur Gewährung von Akteneinsicht in die von seinem Verteidiger beantragte Beiziehung der „Rohdaten“ von Chats und zugehörigen Bild-Dateien des [X.] abgelehnt oder das Verfahren nicht von Amts wegen ausgesetzt worden ist, erweist sie sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 [X.]).

3

a) Der [X.] liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

aa) In der Hauptverhandlung vom 25. Januar 2022 erklärte der [X.] der Staatsanwaltschaft, es sei eine Möglichkeit der Einsichtnahme in die beim [X.] vorhandenen Daten der [X.] im Zusammenhang mit dem angeklagten [X.] in den Räumlichkeiten des [X.] geschaffen worden. Hierüber habe er den Verteidiger per E-Mail unterrichtet. Der daraufhin geäußerten Annahme des [X.], damit sei dem Begehren der Verteidigung entsprochen worden, diese möge nunmehr zeitnah mit dem [X.] Kontakt aufnehmen, trat der Verteidiger des Angeklagten entgegen und verlangte, dass ihm die Daten (auf DVD) gespeichert überlassen werden sollten. Der Vorsitzende lehnte dies unter anderem mit dem Hinweis ab, dass die von der Verteidigung angezweifelte Datenintegrität doch am besten am „Ursprung der Quelle“ zu prüfen sei.

5

Der Verteidiger des Angeklagten stellte daraufhin den Antrag, eine Sicherung der beim [X.] Sachsen vorliegenden „Rohdaten“ zu den vorhandenen Protokollen der Chats und den darin vorhandenen Bilddateien bestimmter [X.] auf [X.] oder DVD zur Gerichtsakte beizuziehen, der Verteidigung Akteneinsicht in diese „Rohdaten“ zu gewähren sowie das Verfahren bis zur Gewährung der Akteneinsicht auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen, um ausreichend [X.] zur Prüfung der „Original-(Roh-)daten“ zu haben.

6

In der Hauptverhandlung vom 8. Februar 2022 erklärte der Verteidiger, dass er inzwischen beim [X.] Akteneinsicht genommen habe, sich aber nur einen groben Überblick habe verschaffen können, da der Umfang von circa 18.000 Nachrichten zu groß gewesen sei, um diese in einer angemessenen [X.] „abschreiben“ zu können. Im [X.] an die Erklärung beantragte er, den [X.] [X.] (erneut) als Zeuge zum Beweis der Tatsache des von ihm mitgeteilten Umfangs der gespeicherten Nachrichten und darüber hinaus zu bestimmten, im Einzelnen zitierten Chatnachrichten zu vernehmen. Zudem sollte dem Angeklagten ein gegen Missbrauch gesichertes Notebook zum Zwecke der Durchsicht der beim [X.] Sachsen vorliegenden „Rohdaten“ bestimmter [X.] zur Verfügung gestellt und die Nutzung im Haftraum gestattet werden, hilfsweise seine Ausführung über einen [X.]raum von zunächst vier Tagen für jeweils sechs Stunden, da nur so seine ausreichende Information über die Chatinhalte realisierbar sei.

7

Den Antrag auf Beiziehung der „Rohdaten“ inklusive vorhandener Bild-Dateien sowie die Anträge auf Gewährung von Akteneinsicht und Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens lehnte die [X.] mit Beschluss vom 8. Februar 2022 ab. Die Aufklärungspflicht gebiete nicht die Beiziehung der Daten und Gewährung von Akteneinsicht. Der in § 147 Abs. 1 [X.] geregelte Aktenbegriff erfasse die dem Gericht vorliegenden oder mit der Anklageschrift vorzulegenden Akten, die in Fortführung der Ermittlungsakten nach Anklageerhebung entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten. Ein Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestandes begründe diese Vorschrift dagegen nicht. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die seitens der Staatsanwaltschaft vorgelegte Akte unvollständig sei. Ein Zugang zu den bei den Ermittlungsbehörden anlässlich des Verfahrens entstandenen Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, deren Beiziehung durch das Gericht unter [X.] nicht für erforderlich erachtet werde (vgl. [X.], Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18), sei dem Verteidiger durch die Möglichkeit der Einsichtnahme beim [X.] eingeräumt worden.

8

Die in der Hauptverhandlung vom 8. Februar 2022 gestellten Anträge lehnte die [X.] mit Beschluss vom 23. Februar 2022 ab.

9

bb) Der Beschwerdeführer rügt, die [X.] habe rechtswidrig die beantragte Aussetzung des Verfahrens unterlassen (§ 265 Abs. 4 [X.]). Sie habe nicht geprüft, wieviel [X.] die Verteidigung angesichts der Größe des zu [X.] für die Realisierung ihres Informationsgewinnungsanspruchs benötigen würde. Die umfangreichen Daten seien nicht übergeben worden. Auch habe der Verteidiger keine Gelegenheit erhalten, diese gemeinsam mit dem Angeklagten zu sichten. Für ein Abschreiben der etwa 18.000 Kommunikationsvorgänge habe die [X.] nicht gereicht. Es sei zudem mit Blick auf die [X.] und die daraus resultierenden Fürsorgepflichten des Gerichts „nicht einzusehen“, dass die Verteidigung sich angesichts der bestehenden Infektionsgefahr Tage und Stunden zu auswärtigen [X.] hätte begeben sollen.

b) Die [X.] ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz [X.]): Es fehlt an der notwendigen Darstellung des [X.] unter Mitteilung der konkreten zeitlichen und sonstigen Umstände, aus denen sich ergibt, warum die der Verteidigung zur Verfügung stehende [X.] zur Datensichtung nicht ausgereicht haben sollte (Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, [X.], 27. Aufl., § 265 Rn. 114; MüKo-[X.]/[X.], 1. Aufl., § 265 Rn. 77; [X.] [X.]/[X.], [X.]., [X.] § 265 Rn. 87). Denn mit der [X.] nach § 338 Nr. 8 [X.] sind neben der geltend gemachten Beeinträchtigung der Rechte des Angeklagten die konkreten Umstände im Einzelnen anzugeben, aus denen sich eine wesentliche Beschränkung der Verteidigung ergibt (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Dezember 1997 – 1 [X.], [X.], 311 f.; KK-[X.]/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 104). Die bloße Mitteilung der Beschlusslage durch den Beschwerdeführer genügt insoweit nicht.

Insoweit verhält sich die Revisionsbegründung schon nicht dazu, ob die Verteidigung durchgehend im Rahmen des [X.] von der ihr jedenfalls seit dem 25. Januar 2022 eröffneten Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Datenbestände beim [X.] Sachsen – bis zur Urteilsverkündung vergingen zweieinhalb Monate – Gebrauch gemacht hat (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13). Ausweislich des vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweisantrags vom 8. Februar 2022 hatte dieser (nur) am 25. Januar 2022 Einsicht in den Datenbestand genommen und einzelne Chatinhalte hieraus zitiert.

Schließlich bleibt völlig offen, ob und wenn ja welche Bemühungen die Verteidigung während der [X.] und dem Lauf der [X.] unternommen hat, um Einsicht in die aus ihrer Sicht vorenthaltenen Datenbestände zu erlangen (vgl. dazu [X.], Beschlüsse vom 11. November 2004 – 5 [X.], [X.]St 49, 317, 328; vom 23. Februar 2010 – 4 StR 599/09, [X.], 530, 531; vom 5. August 2015 – 5 [X.] Rn. 10; Urteil vom 29. Oktober 2021 – 5 [X.], [X.] 2022, 326, 329). Eine Pflicht zu entsprechendem Vortrag besteht sowohl, wenn eine unterbliebene Gewährung von Akteneinsicht geltend gemacht wird (vgl. [X.], Beschlüsse vom 11. November 2004 – 5 [X.], [X.]St 49, 317, 328; vom 5. August 2015 – 5 [X.] Rn. 10), als auch, wenn in der unterbliebenen Beiziehung verfahrensfremder Unterlagen ein Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht erblickt wird (vgl. [X.], Beschluss vom 28. September 2022 – 5 [X.]; NStZ 2023, 116). Nichts anderes kann gelten, wenn – wie hier – die unterlassene Beiziehung zwar nicht beanstandet, aber ein Verstoß gegen einen unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Informationsgewinnungsanspruch behauptet wird.

2. Die Sachrüge zeigt keinen den Angeklagten [X.] Rechtsfehler auf. Dies gilt auch hinsichtlich des Umstandes, dass das [X.] in den Fällen II.6 bis [X.] nicht erörtert hat, ob die als rechtlich selbständige Taten bewerteten Handlungen zu einer Bewertungseinheit zusammenzufassen gewesen wären.

Dabei ist es nicht geboten, festgestellte Einzelverkäufe zu einer Bewertungseinheit zusammenzufassen, nur weil die nicht näher konkretisierte Möglichkeit besteht, dass sie ganz oder teilweise aus einem Verkaufsvorrat stammen ([X.], Urteil vom 18. Juli 2018 – 5 StR 547/17 Rn. 12 mwN). Auch der [X.] gebietet eine willkürliche Zusammenfassung ohne ausreichende Tatsachengrundlage nicht (vgl. [X.], Beschlüsse vom 23. Mai 2019 – 4 [X.]; vom 12. Januar 2016 – 3 [X.]/15).

Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die vom Angeklagten unterstützten [X.] in den Fällen [X.] bis [X.] aus der im [X.]6 angekauften Gesamtmenge stammten, bestanden angesichts der hier vorliegenden Größenordnung des [X.] nicht. Die zeitlichen Abstände zwischen der Erwerbshandlung und den festgestellten Verkaufshandlungen von einer Woche (Fall [X.]), annähernd drei Wochen ([X.]8) und sieben Monaten ([X.] 9) begründeten keinen derart engen Zusammenhang, der für sich genommen die Annahme einer Bewertungseinheit nahelegen könnte. Auch ein enger räumlicher Zusammenhang ist nicht ersichtlich. Dieser ergibt sich jedenfalls nicht allein aus dem Umstand, dass der Angeklagte als Depothalter für den gesondert Verfolgten [X.]    fungierte und die von diesem erworbenen Betäubungsmittel im [X.]6 durch einen Kurier an die Wohnanschrift des Angeklagten geliefert wurden.

Cirener     

  

Gericke     

  

[X.]

  

von Häfen     

  

Werner     

  

Meta

5 StR 412/22

04.01.2023

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Dresden, 8. April 2022, Az: 4 KLs 424 Js 50987/20

§ 147 Abs 1 StPO, § 265 Abs 4 StPO, § 338 Nr 8 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.01.2023, Az. 5 StR 412/22 (REWIS RS 2023, 1091)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1091

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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