Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.02.2010, Az. XII ZB 168/08

12. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 8999

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Rechtliches Gehör: Erfordernis eines richterlichen Hinweises vor der Berufungsverwerfung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist


Leitsatz

Vor Verwerfung einer Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist dem Rechtsmittelführer durch einen Hinweis rechtliches Gehör zu gewähren, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu der Fristversäumung zu äußern und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 15. August 2007, XII ZB 101/07, NJW-RR 2007, 1718; vom 13. Juli 2005, XII ZB 80/05, NJW-RR 2006, 142 und vom 18. Juli 2007, XII ZB 162/06, FamRZ 2007, 1725) .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 1. Familiensenats des [X.] vom 7. August 2008 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Wert: 17.532 €

Gründe

I.

1

Die [X.]en sind Eheleute. Sie streiten um Trennungsunterhalt. Das Amtsgericht - Familiengericht - hat im schriftlichen Vorverfahren am 27. März 2008 ein Teilversäumnisurteil erlassen, das ausweislich der [X.] dem erst- und zweitinstanzlichen [X.] (im Folgenden: [X.]) in der [X.] in [X.] am 12. April 2008 persönlich zugestellt worden ist. Der [X.] hat per Telefax, eingehend am 28. April 2008 (Montag), Einspruch eingelegt. Das Einspruchsschreiben trägt den Briefkopf des Rechtsanwalts [X.] in A. und die Unterschrift des [X.]s. Durch Urteil vom 9. Mai 2008 hat das Amtsgericht den Einspruch als unzulässig verworfen. Das Urteil ist ausweislich der [X.] am 23. Mai 2008 dem [X.] unter der Kanzleiadresse des Rechtsanwalts [X.] in A. durch Übergabe an Rechtsanwalt [X.] zugestellt worden.

2

Durch undatiertes handschriftliches Schreiben, das beim [X.] am 12. Juni 2008 eingegangen ist, hat der [X.] (Adresse nunmehr: [X.] in [X.]) gegen das Urteil "vom 11. Mai 1008" Berufung eingelegt. Eine Berufungsbegründung blieb in der Folgezeit aus. Durch den angefochtenen Beschluss hat das [X.] die Berufung wegen Nichteinhaltung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, ohne den Beklagten zuvor auf die Fristversäumung hinzuweisen.

3

Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten. Er beruft sich darauf, dass das amtsgerichtliche Urteil seinem Prozessbevollmächtigten nicht wirksam zugestellt worden sei.

II.

4

[X.] führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung an das [X.].

5

1. Auf das Verfahren findet nach Art. 111 [X.] noch das bis zum 31. August 2009 geltende Verfahrensrecht Anwendung. [X.] ist nach §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie erfüllt auch die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO. Die Entscheidung des [X.] ist zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung erforderlich, denn der Beschluss des [X.]s verletzt den Beklagten in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG.

6

2. [X.] ist auch begründet.

7

Zwar sieht § 522 Abs. 1 ZPO im Gegensatz zu § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO für den Fall einer Verwerfung eines unzulässigen Rechtsmittels eine Anhörung der [X.] nicht ausdrücklich vor. Die Pflicht zur Anhörung des Rechtsmittelführers folgt nach ständiger Rechtsprechung des [X.] indessen unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschlüsse vom 15. August 2007 - [X.]/07 - NJW-RR 2007, 1718; vom 13. Juli 2005 - [X.]/05 - NJW-RR 2006, 142 und vom 18. Juli 2007 - [X.] 162/06 - FamRZ 2007, 1725). Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt (hier: zu der vom [X.] angenommenen Fristversäumung) zu äußern.

8

Das [X.] hat dem Beklagten vor seiner Entscheidung den erforderlichen Hinweis auf die Fristversäumung nicht erteilt, so dass die Entscheidung allein aus diesem Grund rechtsfehlerhaft ist. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschluss des [X.]s nicht auf dem [X.] beruht oder sich aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 577 Abs. 3 ZPO; vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 1991 - [X.]/90 -NJW 1991, 3036; Musielak/[X.] ZPO 7. Aufl. § 561 Rdn. 3).

9

3. Das [X.] wird nach der Zurückverweisung zu prüfen haben, ob die Zustellung nach § 178 ZPO wirksam war.

Das setzt zunächst voraus, dass es sich bei der Adresse um Geschäftsräume des [X.]s handelte, was bislang noch nicht abschließend aufgeklärt ist. Allein aus den Angaben des [X.]s und des Rechtsanwalts [X.] lässt sich noch nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit der Zustellung folgern. Sie haben zwar übereinstimmend angegeben, der [X.] habe bei Rechtsanwalt [X.] nie eine Kanzleiadresse unterhalten. Nicht erläutert worden ist allerdings, wieso der [X.] mehrere Schreiben unter dem Briefkopf des Rechtsanwalts [X.] versandte. Unter anderem legte er den Einspruch gegen das Teil-Versäumnisurteil des Amtsgerichts unter dem Briefkopf des Rechtsanwalts [X.] ein und wurde der Schriftsatz von dessen Faxgerät aus versandt. Noch im Prozesskostenhilfeverfahren vor dem Senat hat der [X.] auf diese Weise korrespondiert und ein Telefax von der Kanzlei des Rechtsanwalts [X.] versandt. Die Zustellung des angefochtenen Beschlusses hat der Beklagte ausweislich der Rechtsbeschwerdeschrift sogar gelten lassen, obwohl auch der angefochtene Beschluss unter der Kanzleiadresse des Rechtsanwalts [X.] - diesmal durch Einlegung in den "zur Wohnung" gehörenden Briefkasten - zugestellt worden ist.

Wenn nicht festzustellen ist, dass sich an der Kanzleiadresse des Rechtsanwalts [X.] ein Geschäftsraum des [X.]s befand, wird zu prüfen sein, ob der [X.] nicht durch sein Verhalten einen darauf hindeutenden Rechtsschein erzeugt hat, der ebenfalls zur Wirksamkeit der Zustellung führen kann (vgl. [X.]/[X.] ZPO 28. Aufl. § 178 Rdn. 17 m.w.[X.]). Zudem wäre aber in diesem Fall für die wirksame Zustellung erforderlich, dass die Übergabe an eine "dort beschäftigte Person" erfolgte (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO; vgl. dazu einerseits [X.] [X.] 1907, 104; andererseits [X.], 1137).

Schließlich wäre bei einer nicht wirksamen Zustellung im Hinblick auf § 189 ZPO aufzuklären, wie (und wann) der [X.] von dem Urteil des Amtsgerichts erfahren hat. Denn ohne Kenntnis von dem Urteil hätte er keine Veranlassung gehabt, dagegen Berufung einzulegen.

Hahne     

        

Wagenitz     

        

Vézina

        

Dose     

        

Klinkhammer     

        

Meta

XII ZB 168/08

24.02.2010

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Braunschweig, 7. August 2008, Az: 1 UF 74/08, Beschluss

§ 522 Abs 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.02.2010, Az. XII ZB 168/08 (REWIS RS 2010, 8999)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8999

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XII ZB 168/08 (Bundesgerichtshof)


II ZB 4/18 (Bundesgerichtshof)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Rechtsanwaltsverschulden bei Versäumung der Berufungsbegründungspflicht wegen Falschbezeichnung des Berufungsgerichts


XII ZB 235/09 (Bundesgerichtshof)

Wiedereinsetzungsverfahren nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist: Statthaftigkeit des Antrags auf Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist nach …


III ZB 72/22 (Bundesgerichtshof)

Rechtsbeschwerde gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Rechtsanwaltsverschulden bei Falscheingabe des Empfängergerichts …


VIa ZB 6/21 (Bundesgerichtshof)

Wiedereinsetzung im Zivilprozess: Versehentlicher Falschversand des Berufungsschriftsatzes im elektronischen Rechtsverkehr


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.