Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.11.2017, Az. 3 StR 526/17

3. Strafsenat | REWIS RS 2017, 1596

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Gegenstand

Strafverfahren: Sachverständigengutachten als ungeeignetes Beweismittel


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 15. Mai 2017 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die dagegen gerichtete, auf eine Verfahrensbeanstandung und die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 [X.].

2

I. Dem Urteil liegen im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde:

3

1. Es kam zunächst zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen [X.], in deren Verlauf [X.] eine Bierflasche auf dem Kopf des Angeklagten zerschlug und ihm dadurch Schnittverletzungen am Hals sowie an einem Ohrläppchen zufügte. Anschließend flüchtete [X.], ohne zu bemerken, dass er bei der Auseinandersetzung sein Handy verloren hatte. Während der Angeklagte später im Krankenhaus behandelt wurde, kam es zwischen ihm und [X.] zu einem Telefongespräch, bei dem beide vereinbarten, dass [X.] sein Handy im Krankenhaus abholen solle. Als [X.] im Krankenhaus eingetroffen war und dort mitgeteilt hatte, dass er sich sein Handy geben lassen wolle, setzte der Pfleger, der dem Angeklagten gerade einen Verband angelegt hatte, diesen davon in Kenntnis. Der Angeklagte steckte daraufhin in einem unbeobachteten Moment eine [X.] aus dem Behandlungszimmer ein und verbarg sie unter seiner Jacke. Er hatte spätestens jetzt den Entschluss gefasst, [X.] mit der [X.] anzugreifen, um sich für die zuvor erlittenen Verletzungen und Demütigungen zu rächen.

4

Der Pfleger begleitete den Angeklagten sodann in Richtung Ausgang. Währenddessen verbarg der Angeklagte die [X.] weiterhin unter seiner Jacke, weil der Pfleger nicht bemerken sollte, dass er die [X.] mitgenommen hatte, und weil [X.] sich in Sicherheit wiegen sollte. Ihm war bewusst, dass [X.] nur sein Handy abholen wollte, auf dem Flur des Krankenhauses nicht mit einem Angriff rechnete und deshalb zumindest nur eingeschränkt abwehrbereit war; das wollte er ausnutzen.

5

Auf dem Flur ging der Angeklagte ruhigen Schrittes auf [X.] zu. Als er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, zog er mit einer schnellen Bewegung die [X.] unter der Jacke hervor und stach mehrmals kräftig mit der Spitze der geschlossenen [X.]nklingen auf Hals und Kopf von [X.] ein. Dabei hielt er es für möglich, [X.] tödlich zu verletzen, und nahm dies billigend in Kauf. Nachdem [X.] zunächst erfolglos versucht hatte, den Angriffen auszuweichen, konnte er schließlich in einen Kopierraum flüchten und die Tür zu diesem schließen, ehe der Angeklagte ihm zu folgen vermochte. Da es dem Angeklagten nicht gelang, die Tür zu öffnen, und inzwischen ein Teil des Plastikgriffs der [X.] abgebrochen war, sah er seinen Angriff schließlich als gescheitert an. [X.] hatte sich durch die Stiche mit der [X.] unter anderem eine stark blutende Wunde am Hals zugezogen; er erlitt einen hohen Blutverlust, eine Arterie war allerdings nicht getroffen worden.

6

2. Der aus [X.] stammende Angeklagte, der über die sog. [X.] nach [X.] gelangt war, hatte sowohl in seinem Heimatland als auch auf dem Weg nach [X.] wiederholt "Gewalterfahrungen" gemacht. In [X.] war er von Kriminellen ausgeraubt und von Polizeibeamten mit Strom gefoltert worden; auf dem Weg über den [X.] hatten ihm beispielsweise in [X.] Mitglieder der [X.] Mafia unter Vorhalt von Waffen Geld und Kleidung weggenommen.

7

Die Einlassung des Angeklagten, die [X.] lediglich zum Schutz mitgenommen zu haben, weil er es für möglich gehalten habe, dass [X.] ihn erneut angreifen werde, und dann mit einem unvermittelten Angriff gerechnet zu haben, als ihm [X.] mit nach hinten gezogener Baseballkappe und mit den Händen in den Taschen entgegen gekommen sei, weil dies im nordafrikanischen Raum ein Zeichen von Aggressivität sowie eines bevorstehenden Angriffs darstelle und auf einmal seine Gewalterfahrungen aus [X.] "wieder hochgekommen" seien, hat die [X.] als widerlegt angesehen. Sie ist ferner davon ausgegangen, dass der Angeklagte zur Tatzeit uneingeschränkt schuldfähig war; insbesondere habe sich kein tragfähiger Anhaltspunkt dafür ergeben, dass sich die von ihm geschilderten Gewalterfahrungen in der Tat manifestiert hätten.

8

II. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Jedoch führt die Verfahrensrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs.

9

1. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

In der Hauptverhandlung beantragte die Verteidigerin, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen zum Beweis der Tatsachen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Gewalt- und Angsterfahrungen in der Heimat sowie auf dem Weg von [X.] nach [X.] zum Tatzeitpunkt unter einer akuten Belastungsstörung gelitten habe, dass er vor diesem Hintergrund eine panische Angst vor einem lebensgefährlichen Angriff auf sich entwickelt habe, als [X.] auf dem [X.] mit den Händen in den Hosentaschen auf ihn zugekommen sei, dass es infolgedessen zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung in Form eines Affektsturms gekommen sei, dem aus psychiatrischer Sicht nicht entgegenstehe, dass der Angeklagte ruhigen Schrittes auf [X.] zugegangen sei, und dass das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB deshalb nicht auszuschließen sei. Die [X.] lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der [X.] völlig ungeeignet sei (§ 244 Abs. 3 Satz 2 [X.]), weil es an den erforderlichen Anknüpfungstatsachen fehle. Der Sachverständige müsste sein Gutachten nach Inhalt und Sinn des Beweisantrags auf Tatsachen stützen, die das Gericht bereits als Beweisgrundlage ausgeschlossen habe. Das Vorliegen der akuten Belastungsstörung sowie panischer Angst bzw. eines Affektsturms im Tatzeitpunkt werde unter Bezugnahme auf die Einlassung des Angeklagten zum Tathergang behauptet, welcher das [X.] bei vorläufiger Würdigung des Beweisergebnisses jedoch nicht folge. Insbesondere aus Videoaufnahmen vom [X.] und aus den Angaben des Pflegers ergebe sich vielmehr, dass der Angeklagte ruhigen Schrittes auf [X.] zugegangen sei und keine Anzeichen eines panik- oder affektgesteuerten Verhaltens gezeigt habe.

Daraufhin wiederholte die Verteidigerin unter Schilderung einer Vielzahl von "Gewalterfahrungen" des Angeklagten im Einzelnen ihren Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, insbesondere zum Beweis dafür, dass das auf den Videoaufnahmen erkennbare und von den Zeugen geschilderte "ruhige" Verhalten des Angeklagten aus psychiatrischer Sicht eine erhebliche Verminderung seiner Schuldfähigkeit aufgrund des behaupteten psychischen Befundes nicht ausschließe. Die [X.] lehnte den Antrag wiederum wegen völliger Ungeeignetheit des [X.]es (§ 244 Abs. 3 Satz 2 [X.]) ab und führte zur Begründung aus: Die in dem erneuten Antrag vorgebrachten Angaben des Angeklagten zu seinen Gewalterfahrungen habe sie schon bei ihrer früheren Beschlussfassung in ihre vorläufige Beweiswürdigung einbezogen. Sie schließe nach wie vor aus, dass die Angsterfahrungen dem Angeklagten im Tatzeitpunkt gegenwärtig gewesen seien und er einen Angriff von [X.] erwartet habe.

2. Die in zulässiger Weise erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 [X.]) Rüge ist begründet.

a) Das [X.] hat den auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrag zu Unrecht wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels (§ 244 Abs. 3 Satz 2 [X.]) abgelehnt. Die [X.] ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass ein Sachverständiger als völlig ungeeignetes Beweismittel anzusehen ist, wenn es an den Grundlagen für eine Gutachtenerstattung mangelt, weil die erforderlichen Anknüpfungstatsachen fehlen, auf denen die sachverständige Beurteilung aufbauen muss. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der Sachverständige nach Inhalt oder Sinn des Beweisantrags auf Tatsachen stützen müsste, die das Gericht bereits als Beweisgrundlage ausgeschlossen hat (vgl. zu allem LR/[X.], [X.], 26. Aufl., § 244 Rn. 238 mwN).

So verhielt es sich hier entgegen der Ansicht des [X.]s aber nicht. Als Anknüpfungstatsachen standen dem Sachverständigen einerseits die von dem Angeklagten geschilderten Gewalt- und Angsterfahrungen sowie andererseits sein vor der Tatausführung an den Tag gelegtes ruhiges Verhalten zur Verfügung. Beides hatte die [X.] nicht als Beweisgrundlage ausgeschlossen. Die Angaben des Angeklagten zu seinen Gewalt- und Angsterfahrungen hat sie nicht für unglaubhaft erachtet, sondern ihren Feststellungen zugrunde gelegt. Ebenso ist sie aufgrund von Videoaufnahmen und Zeugenangaben davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte ruhig und unauffällig verhielt, als er auf [X.] zuging. Die [X.] hat daraus lediglich andere Schlussfolgerungen gezogen als diejenigen, die mit dem Beweisantrag in das Wissen eines Sachverständigen gestellt worden sind.

Der Sache nach hat die [X.] den Beweisantrag letztlich aufgrund von Erwägungen abgelehnt, die sie aufgrund eigener Sachkunde angestellt hat. Sie hat sich indes weder auf eigene Sachkunde berufen (§ 244 Abs. 4 Satz 1 [X.]) noch belegt, dass sie über die erforderliche eigene Sachkunde verfügt.

b) Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht der Strafausspruch.

Der Schuldspruch bleibt von dem Rechtsfehler hingegen unberührt. Insbesondere ist auszuschließen, dass die von dem Angeklagten behauptete psychische Beeinträchtigung seine Schuldfähigkeit hätte aufheben bzw. seinen Tötungsvorsatz oder sein Bewusstsein, die Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten auszunutzen, hätte in Frage stellen können.

[X.]     

      

Gericke     

      

Spaniol

      

Tiemann     

      

Berg     

      

Meta

3 StR 526/17

29.11.2017

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Krefeld, 15. Mai 2017, Az: 22 Ks 42/16

§ 244 Abs 3 S 2 StPO, § 244 Abs 4 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.11.2017, Az. 3 StR 526/17 (REWIS RS 2017, 1596)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 1596

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

M 5 K 21.1357

4 StR 25/19

3 StR 526/17

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