Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.02.2022, Az. 4 StR 392/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2022, 3452

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Gegenstand

Beweisaufnahme im Strafverfahren: Fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Auslandszeugen


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 10. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt, von der wegen überlanger Verfahrensdauer sechs Monate als vollstreckt gelten. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Auf die Sachrüge und die weiteren Verfahrensrügen kommt es damit nicht an.

2

Nach den Feststellungen stachen der Angeklagte und der flüchtige gesondert Verfolgte     [X.]im Februar 2012 in [X.] gemeinsam mit Messern auf den Nebenkläger ein, um ihn zu töten. Sie verletzten ihn dadurch lebensgefährlich. Die Tat war eine Racheaktion für einen Mord, den die Söhne des [X.] im Juni 2011 am Bruder des Angeklagten begangen hatten.

3

Der Angeklagte beanstandet zu Recht die fehlerhafte Ablehnung von zwei Beweisanträgen.

4

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

5

a) Der Angeklagte bestritt in der Hauptverhandlung, sich an dem Angriff beteiligt zu haben. Er sei zwar am Tattag mit seinem Onkel     [X.]und einem nicht identifizierten „A.   “ – zu diesem verweigerte er nähere Angaben – nach [X.] gefahren. Gemeinsam hätten sie den Nebenkläger in einem Internet-Café aufgespürt.    [X.]und „A.  “, die beide mit einem Messer bewaffnet gewesen seien, hätten spontan den Entschluss gefasst, den Nebenkläger anzugreifen. In einem Telefonat habe sein Vater – der weitere Mitangeklagte      [X.]– ihn ebenfalls zum Angriff aufgefordert. Er, der Angeklagte, habe dies jedoch gegenüber    [X.]  und „A.  “ abgelehnt und sich vom späteren [X.] entfernt. Zahlreiche Augenzeugen bestätigten im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung einen durch zwei Personen ausgeführten Messerangriff, ohne allerdings den Angeklagten als einen der beiden Täter wiederzuerkennen.

6

b) Die Verteidigerin des Angeklagten beantragte in der Hauptverhandlung, den mit einer Anschrift in der [X.] benannten    [X.]„unter Zusicherung freien Geleits“ als Zeugen zu vernehmen. Der Antrag hatte unter anderem die Beweisbehauptung zum Gegenstand, der Angeklagte habe sich an der Tat nicht beteiligt.

7

Bereits zuvor hatte das [X.] ein Rechtshilfeersuchen an die [X.] Polizeibehörden gestellt, um die Anschrift des    [X.]in der [X.] zu ermitteln und um ihn befragen zu lassen, ob er „zu einer Aussage bereit sei“. Auf dieses Ersuchen teilte die [X.] Polizei die Anschrift des Zeugen sowie das Protokoll einer Vernehmung mit, demzufolge der Zeuge auf die Frage nach seiner Aussagebereitschaft erklärt habe, dass „er in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten möchte“.

8

Das [X.] lehnte nunmehr den Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz 2 [X.] ab, da die Vernehmung des im Ausland zu ladenden Zeugen „durch die Aufklärungspflicht nicht geboten“ sei. Bei der Abwägung könne berücksichtigt werden, ob der Zeuge voraussichtlich einer Ladung Folge leisten oder von einem ihm zustehenden Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Die ablehnende Erklärung des Zeugen gegenüber der [X.] Polizei sei „eindeutig und umfassend“.

9

Einen weiteren, im Wesentlichen gleichlautenden Antrag der Verteidigerin lehnte das [X.] mit weitgehend gleicher Begründung ebenfalls ab. Die Erklärung des Zeugen enthalte keinerlei Einschränkungen oder Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge lediglich nicht ohne freies Geleit zu einer Zeugenvernehmung in der [X.] erscheinen wolle.

2. Die nach § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] zulässig ausgeführte Verfahrensrüge ist begründet. Das [X.] hat die Beweisanträge mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt.

a) Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, ist das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt es unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags, als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags rechtlich nicht zu beanstanden (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 [X.]; Urteil vom 13. März 2014 – 4 [X.]; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 [X.], [X.]St 40, 60, 62; einschränkend [X.] in [X.], 5. Aufl., § 244 Rn. 240). In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 [X.]) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht ([X.], Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 [X.]; Urteil vom 13. März 2014 – 4 [X.]; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 [X.], [X.]St 40, 60, 63; [X.] in [X.], [X.], 27. Aufl., § 244 Rn. 359).

Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 [X.], die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines [X.] nachzukommen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gilt lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter [X.] eher von der Vernehmung des [X.] abgesehen werden kann. Dagegen wird die Vernehmung des [X.] umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind ([X.], Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 [X.]; Urteil vom 13. März 2014 – 4 [X.]; Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 3 [X.]; [X.] in [X.], [X.], 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 Satz 2 [X.] einen Beweisantrag auf Vernehmung eines [X.] abzulehnen, erfasst nicht nur Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu rechnen ist, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 [X.] zusteht ([X.], Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 5 StR 401/13; Beschluss vom 25. April 2002 – 3 [X.]; [X.] in [X.], [X.], 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

b) Diesen Maßstäben entsprechen die [X.] schon deshalb nicht, weil sie bereits im Ausgangspunkt die erforderliche Gesamtwürdigung vermissen lassen, ob die Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 [X.] die beantragte Vernehmung des Zeugen gebot. Das [X.] hat seine Prüfung ausschließlich auf einen einzigen Gesichtspunkt, nämlich die mutmaßliche Aussagebereitschaft des Zeugen bezogen. Dadurch hat es sich den Blick für die Frage verstellt, welches Gewicht seiner Aussage in der Beweiswürdigung gegebenenfalls zuzumessen wäre und welche Anstrengungen demnach zu unternehmen waren, um seine Vernehmung herbeizuführen. Für ein erhebliches Gewicht der Aussage sprach, dass der Angeklagte die Tatbeteiligung bestritt und unmittelbare Tatzeugen ihn nicht als Täter identifizieren konnten. Der Beweis seiner Täterschaft stützte sich allein auf – allerdings ihrerseits gewichtige – Indizien, namentlich auf seine Anwesenheit in [X.] zur Tatzeit, das von der Polizei aufgezeichnete Telefonat mit seinem Vater und das Motiv der Rache für die Ermordung seines Bruders. Damit konnte die Aussage des    [X.]als eines mutmaßlichen, am [X.] handelnden Mittäters für eine Belastung oder Entlastung des Angeklagten von zentraler Bedeutung sein, da sie möglicherweise geeignet war, seine Täterschaft zu beweisen oder die für seine Täterschaft sprechenden Indizien zu entkräften, etwa die Existenz oder die Anwesenheit des unbekannt gebliebenen „A.   “ am [X.].

Soweit das [X.] die Ablehnung der Vernehmung allein damit begründet hat, der Zeuge habe bei der [X.] Polizei angegeben, er wolle „in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten“, ist dies auch für sich genommen ermessensfehlerhaft, da das [X.] aus der Erklärung des Zeugen zu weit gehende Schlussfolgerungen gezogen hat und damit bei seiner Entscheidung von einer falschen Voraussetzung ausgegangen ist. Es hat zu Unrecht angenommen, der Zeuge sei unter keinen Umständen bereit, vernommen zu werden, und damit unerreichbar. Denn der herangezogenen Erklärung des Zeugen gegenüber der [X.] Polizei im Rahmen des [X.] ließ sich ein derart weitreichender Bedeutungsgehalt nicht entnehmen. Der Zeuge war auf Ersuchen des [X.]s lediglich pauschal nach seiner Aussagebereitschaft gefragt worden, ohne über die rechtlichen Bedingungen einer Zeugenaussage aufgeklärt worden zu sein. Insbesondere war er weder über die Möglichkeit freien Geleits gemäß Art. 12 Abs. 1 des [X.] ([X.]) unterrichtet worden, noch über Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte. Angesichts der an ihn gerichteten unspezifischen Frage nach der Bereitschaft, als Zeuge auszusagen, ließ die Antwort offen, ob der Zeuge sich als mutmaßlicher Mittäter auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 [X.] oder mit Blick auf seine Verwandtschaft zum Angeklagten und zum Mitangeklagten      [X.]auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 [X.] berufen wollte, oder ob er – nicht fernliegend – zu einer Zeugenaussage in [X.] deshalb nicht bereit war, weil er in Unkenntnis des Rechtsinstituts des freien Geleits damit rechnete, bei der Einreise verhaftet zu werden.

c) Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler. Der [X.] kann nicht ausschließen, dass das [X.] zu einer anderen Würdigung der Beweise gelangt wäre, wenn der Zeuge die in sein Wissen gestellten Umstände bestätigt hätte. Er hebt das angefochtene Urteil daher auf.

Quentin     

        

     Bender    

        

Riin[X.] Dr. Bartel ist
wegen Krankheit an der
Unterschriftsleistung
gehindert.

                                   

Quentin

        

Ri[X.] Dr. Scheuß ist
wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung
gehindert.

        

Messing     

        
        

Quentin

                          

Meta

4 StR 392/20

16.02.2022

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Dortmund, 10. März 2020, Az: 37 Ks 12/15

§ 55 StPO, § 244 Abs 5 S 2 StPO, Art 12 Abs 1 EU-RhÜbk

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.02.2022, Az. 4 StR 392/20 (REWIS RS 2022, 3452)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3452

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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