Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.01.2023, Az. 2 BvR 1343/22

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 165

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Nicht jede Verzögerung eines Haftbeschwerdeverfahrens führt zur Unverhältnismäßigkeit der Haftfortdauer bzw zu einer Verletzung des Freiheitsgrundrechts (Art 2 Abs 2 S 2 GG) oder des Rechtsschutzanspruchs (Art 19 Abs 4 GG) - hier: versehentliche Überschreitung der Dreitagesfrist des § 306 Abs 2 Halbs 2 StPO um rund einen Monat


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den im [X.] ergangenen Beschluss des [X.] vom 5. Juli 2022 wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

2

1. Zwar hat das [X.] zutreffend einen Verstoß des [X.] gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 [X.] angenommen. Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 [X.] sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

3

2. Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 [X.] in einem [X.] schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft (vgl. KG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 - 2 Ws 360/14 -, NStZ-RR 2015, S. 18; [X.], Beschluss vom 12. Juni 2019 - 18 [X.] -, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; [X.], Beschluss vom 8. August 2000 - 1 Ws 359/00 -, juris, Rn. 6; KG, Beschluss vom 15. März 2019 - 4 Ws 24/19 - 121 AR 47/19 -, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39). Die Ausführungen des [X.] lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des [X.] geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie "strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts". Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die [X.] und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot "bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände" noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte "um schnellstmögliche Weiterleitung" auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

4

3. In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im [X.] im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das [X.], wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im - parallel zum [X.] durchgeführten - Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

5

4. Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 [X.] in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das [X.] unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21 -, Rn. 39; [X.], Beschluss vom 21. August 2007 - 3 [X.] 86/07 <42> <3 Ws 486/07> -, NJW 2007, S. 3220 <3221>; Gärtner, in: [X.], [X.], 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das [X.] hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen (vgl. [X.] 42, 1 <9 f.>). Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 [X.] im [X.] strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das [X.] gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 [X.]).

6

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

7

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 1343/22

23.01.2023

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BGH, 28. September 2022, Az: 5 StR 153/22, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 90 BVerfGG, § 121 Abs 1 StPO, § 122 StPO, § 306 Abs 2 Halbs 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.01.2023, Az. 2 BvR 1343/22 (REWIS RS 2023, 165)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 165


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 1343/22

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1343/22, 23.01.2023.


Az. 5 StR 153/22

Bundesgerichtshof, 5 StR 153/22, 28.09.2022.

Bundesgerichtshof, 5 StR 153/22, 30.08.2022.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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