Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 22.01.2018, Az. 2 BvR 80/18

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2018, 15330

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Erlass einer eA zur einstweiligen Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers: offene Erfolgsaussichten in der Hauptsache bei fachgerichtlicher Versagung von Eilrechtsschutz unter Entscheidung einer strittigen Rechtsfrage (Wirksamkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung über Erfordernis der Klageerhebung "in deutscher Sprache") in Abweichung von obergerichtlicher Rspr


Tenor

Die Abschiebung des Antragstellers wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt.

Gründe

1

Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach seiner Ankunft in [X.] im Jahre 2016 beantragte er unter anderem die Anerkennung als Flüchtling mit der Begründung, er sei als Minderjähriger in [X.] entführt worden, weil man ihn habe zwingen wollen, als "Tanzknabe" in Frauenkleidern aufzutreten und sich dabei filmen zu lassen. Der Antrag wurde durch Bescheid vom 6. März 2017 abgelehnt. Dieser Bescheid, versehen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung, wonach die Klage "in [X.] abgefasst sein" müsse, wurde am 9. März 2017 zugestellt. Gegen den Bescheid hat der Antragsteller im Dezember 2017 Klage erhoben; die Klagefrist betrage wegen der Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung ein Jahr. Den zugleich im Eilverfahren gestellten Antrag festzustellen, dass die Klage aufschiebende Wirkung habe, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. Januar 2018 ab. Der Antragsteller befindet sich in Haft zur Sicherung der Abschiebung.

2

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

3

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen [X.] anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des [X.] muss das [X.] die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 76, 253 <255>).


4

2. Nach diesen Maßstäben ist die einstweilige Anordnung zu erlassen. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet; vielmehr ist der Ausgang des [X.] offen.

5

Das Verwaltungsgericht hat sich in dem angegriffenen Beschluss vom 9. Januar 2018 auf den - nicht unplausiblen - Standpunkt gestellt, die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom 6. März 2017 sei nicht unrichtig, so dass die Klagefrist zwei Wochen und nicht ein Jahr betragen habe; die erst im Dezember 2017 erhobene Klage sei daher offensichtlich unzulässig. Die Verfassungsbeschwerde rügt jedoch in gleichfalls nachvollziehbarer Weise, dass das Verwaltungsgericht jedenfalls gehindert gewesen sei, über diese Rechtsfrage bereits im Eilverfahren zu entscheiden mit der Folge, dass die gegen den Bescheid vom 6. März 2017 gerichtete Klage keine aufschiebende Wirkung entfalten konnte. Für die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung spricht, dass mehrere erstinstanzliche Gerichte sowie der Verwaltungsgerichtshof [X.] (Urteil vom 18. April 2017 - 9 S 333/17) die Gegenauffassung vertreten und der [X.] zu dieser Frage die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (Beschluss vom 22. August 2017 - 13a [X.] -).

6

Zwar ist das Verwaltungsgericht nicht gehindert, zu der aufgeworfenen Rechtsfrage eine andere Rechtsauffassung als das ihm übergeordnete Obergericht zu vertreten. Es spricht jedoch viel dafür, dass es eine unzumutbare Hürde für den Zugang des Antragstellers zu effektivem Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) darstellt, wenn dies im Rahmen eines unanfechtbaren Beschlusses im Eilverfahren geschieht und dazu führt, dass der Antragsteller vor der Durchführung des Hauptsacheverfahrens nach [X.] abgeschoben werden darf. Denn die Fortführung des in [X.] laufenden [X.] von [X.] aus ist ihm nicht zuzumuten. Hinzu kommt, dass das Verwaltungsgericht sich mit der seiner Rechtsauffassung entgegenstehenden oder sie in Frage stellenden Rechtsprechung in der Begründung seines Beschlusses weder auseinandergesetzt noch sie überhaupt erwähnt hat, so dass [X.] für das Vorliegen eines Gehörsverstoßes spricht.


7

Der Ausgang des [X.] erscheint deshalb offen, ohne dass hier über die Frage, ob die dem Bescheid vom 6. März 2017 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung richtig oder falsch war, entschieden werden müsste.

Meta

2 BvR 80/18

22.01.2018

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Augsburg, 9. Januar 2018, Az: Au 8 S 17.35702, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, §§ 74ff AsylVfG 1992, § 58 Abs 2 S 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 22.01.2018, Az. 2 BvR 80/18 (REWIS RS 2018, 15330)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 15330

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XIII ZB 20/19 (Bundesgerichtshof)

Prüfungsumfang der Ausweisungsverfügung durch das Haftgericht


2 BvR 80/18 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 S 1 GG) …


2 BvR 392/17 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Aussetzung der Abschiebung eines Asylsuchenden nach Afghanistan - Folgenabwägung


2 BvQ 56/17 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung des Erlasses einer eA bzgl einer Abschiebung nach Afghanistan: Substantiierungsmangel bei Nichtvorlage der ergangenen …


2 BvR 2557/16 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Untersagung der Abschiebung eines Asylsuchenden nach Afghanistan - Folgenabwägung


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.