Bundessozialgericht, Beschluss vom 02.07.2019, Az. B 2 U 19/19 B

2. Senat | REWIS RS 2019, 5886

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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - absoluter Revisionsgrund - nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts - Mitwirkung des abgelehnten Richters - Entscheidung über Befangenheitsantrag gegen namentlich nicht bestimmten Richter - fehlerhafte Auskunft der Senatsgeschäftsstelle - Verfahrensnachteil - Grundsatz des fairen Verfahrens - Entscheidung über Ablehnungsgesuch - geringfügiges Eingehen auf Verfahrensgegenstand - Zurückverweisung an einen anderen Senat


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 19. September 2018 - L 5 U 26/12 - aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

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I. Die Klägerin begehrt Verletztenrente aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 7.6.2003. Das [X.] hat die Klage mit Urteil vom 19.1.2012 abgewiesen. Das L[X.] hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den [X.] bestimmt, das persönliche Erscheinen der Klägerin angeordnet und den Sachverständigen Prof. Dr. M. geladen. Wegen Verhinderung des Sachverständigen hat die Klägerin zunächst beantragt, diesen Verhandlungstermin aufzuheben. Dies hat das L[X.] abgelehnt. Daraufhin hat die Klägerin ein Attest ihrer Gynäkologin vorgelegt, wonach für den Verhandlungstag ein nicht verschiebbarer operativer Eingriff geplant sei, für den ihre Anwesenheit in der Einrichtung ganztägig erforderlich sei. Das L[X.] hat daraufhin unter Vorlage der von der Klägerin im erstinstanzlichen Klageverfahren am 21.5.2008 erteilten Schweigepflichtentbindungserklärung die Gynäkologin befragt, wann der operative Eingriff für das Datum der geplanten Sitzung vereinbart worden sei und aufgrund welcher medizinischen Indikation dieser Eingriff nur an diesem Tag erfolgen könne. Die Ärztin hat schriftlich mitgeteilt, Behandlung und Eingriff müssten [X.] durchgeführt werden und könnten nicht verschoben werden, sodass der Termin am [X.] kurzfristig vereinbart worden sei. Die Klägerin hat sich daraufhin gegen die Ablehnung ihres Verlegungsantrags gewandt und den RL[X.] M. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zugleich hat sie um Mitteilung gebeten, wer vonseiten des L[X.] ihre behandelnde Gynäkologin kontaktiert habe. Das L[X.] hat daraufhin den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19.9.2018 verlegt. Die Klägerin hat ihr Begehren, dass ihr mitgeteilt werde, welcher [X.] das an ihre Gynäkologin gerichtete Schreiben angeordnet habe, danach mehrfach schriftsätzlich wiederholt. Nachdem die [X.] auf telefonische Nachfrage der Klägerin mitgeteilt hatte, RL[X.] M. habe ihre Gynäkologin befragt, hat die Klägerin am [X.] diesen erneut wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. In der mündlichen Verhandlung am 19.9.2018 hat der 5. Senat des L[X.] unter Beteiligung des VRL[X.] A. sowie der RL[X.] M. und S. den Befangenheitsantrag der Klägerin vom [X.] gegen den RL[X.] M. als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt: Einen Befangenheitsantrag vom Juli 2018 habe der Senat mit Beschluss vom 18.7.2018 bereits zurückgewiesen. Der erneute Antrag vom [X.] sei als unzulässig zu verwerfen, weil er völlig substanzlos sei und keinerlei objektiven Anlass zur Befürchtung der Befangenheit erkennen lasse. Die nunmehrige Unterstellung, eine Nachfrage bei der behandelnden Gynäkologin sei offenbar aus privater Neugier erfolgt, sei völlig fernliegend. Zudem habe die Anfrage bei der Gynäkologin nicht der abgelehnte RL[X.] M., sondern der VRL[X.] A. getätigt. Dies gehöre zu seinen gesetzlichen Aufgaben als Senatsvorsitzender, was der Klägerin auch seit längerem bekannt sei.

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Durch Urteil vom selben Tage hat das L[X.] sodann unter Beteiligung der oben genannten Berufsrichter die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] zurückgewiesen.

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Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, der Senat sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Ihr Befangenheitsantrag habe dem [X.] gelten sollen, der die Anfrage an ihre Ärztin veranlasst habe. So habe es das L[X.] auch verstanden, weshalb der VRL[X.] A. nicht über den Befangenheitsantrag gegen ihn selbst hätte entscheiden dürfen.

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II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Der geltend gemachte Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen [X.]s (Art 101 Abs 1 S 2 GG; § 202 S 1 [X.]G iVm § 16 S 2 GVG), der zugleich einen absoluten Revisionsgrund (§ 547 [X.] iVm § 202 S 1 [X.]G) darstellt, ist hinreichend bezeichnet und liegt vor. Nähere Ausführungen dazu, dass das Urteil auf diesem Fehler beruhen kann, waren daher entbehrlich.

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Das L[X.] war in der mündlichen Verhandlung vom 19.9.2018 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 [X.] iVm § 202 S 1 [X.]G). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil hat VRL[X.] A. mitgewirkt, den die Klägerin zwar nicht namentlich, aber inhaltlich hinreichend präzise abgelehnt hatte. Dass dieser selbst die Auskunft bei der Gynäkologin eingeholt hatte, hat die Klägerin erst durch den am 19.9.2018 verkündeten Beschluss des L[X.] erfahren. Das L[X.] ging offensichtlich selbst davon aus, dass der mit diesem Vortrag begründete [X.] sich sinngemäß gerade gegen den [X.] richten sollte, der die Anfrage tatsächlich veranlasst hatte. Denn das L[X.] hebt in dem Beschluss hervor, der Vorsitzende, der eigentlich gemeint gewesen sei, hätte eine solche Anfrage als Vorsitzender problemlos veranlassen dürfen. Folglich hätte das L[X.] auch über den Befangenheitsantrag gegen den VRL[X.] A. entscheiden müssen. Wenn das L[X.] sich in dem Beschluss darauf beruft, dass namentlich nur RL[X.] M. abgelehnt worden sei, verstößt das gegen den aus Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip bzw Art 6 [X.] abgeleiteten Anspruch auf ein faires Verfahren. Dieser Grundsatz verbietet es ua, dass ein Gericht aus der Falschauskunft der [X.] [X.] für die Beteiligten ableitet (B[X.] Beschlüsse vom 24.10.2013 - [X.] [X.]/13 B - juris Rd[X.] 11 mwN, vom 12.12.2014 - [X.] ÜG 15/14 B - juris Rd[X.] 8 und vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B - [X.] 4-1500 § 118 [X.] Rd[X.] 16; vgl [X.] vom 27.10.1993 - 37/1992/382/460 - NJW 1995, 1413 - [X.]). Die Mitwirkung des Vorsitzenden an dem Urteil vom 19.9.2018 verletzte daher das Recht der Klägerin auf den gesetzlichen [X.], weil der zumindest sinngemäß auch gegen diesen gerichtete [X.] zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch offen und nicht verbeschieden war, unabhängig davon, dass der VRL[X.] A. über diesen Antrag gegen sich selbst nicht hätte (mit)entscheiden dürfen. Damit fehlt es an einer Entscheidung über den Befangenheitsantrag gegen den eigentlich gemeinten VRL[X.] A.. Dieser hätte das Urteil vom 19.9.2018 mithin nicht fällen dürfen, weil über den Befangenheitsantrag gegen ihn noch nicht entschieden war.

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Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass das L[X.] den Befangenheitsantrag als einen ausschließlich gegen den RL[X.] M. gerichteten hätte behandeln dürfen, wäre der in der mündlichen Verhandlung vom 19.9.2018 getroffene Beschluss des L[X.], mit dem der Befangenheitsantrag gegen den RL[X.] M. - ebenfalls unter dessen Mitwirkung - als unzulässig verworfen wurde, ebenfalls rechtswidrig. Auch insofern hätte dann eine fehlerhafte Besetzung des Berufungsgerichts vorgelegen. Denn der vom L[X.] fälschlicherweise als (allein) abgelehnt angesehene RL[X.] M. hätte jedenfalls dann nicht selbst über den Befangenheitsantrag mitentscheiden dürfen, weshalb auch insofern ein Verstoß gegen Art 101 Abs 1 S 2 GG vorlag.

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Ist in dem Beschluss über den Befangenheitsantrag ein, wenn auch nur geringfügiges Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung des Antrags als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung des Antrags unter Beteiligung des abgelehnten [X.]s selbst stellt sich dann - objektiv - als willkürlich dar. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte [X.] nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe "zum [X.] in eigener Sache" machen (vgl [X.], 325, 340; 11, 434, 442; 13, 72, 79 f; [X.] Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - juris Rd[X.]0). Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern, was eine enge Auslegung der Voraussetzungen gebietet (vgl [X.]K 5, 269, 282; 11, 434, 442; 13, 72, 79). Völlige Ungeeignetheit eines Befangenheitsantrags ist daher nur dann anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Dies ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein - ohne jede weitere Aktenkenntnis - offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig unter Beteiligung des abgelehnten [X.]s aus. Ein Beschluss, mit dem gleichwohl der Befangenheitsantrag durch den abgelehnten [X.] selbst abgelehnt wird, stellt sich dann - objektiv - als willkürlich dar.

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So lagen die Verhältnisse hier. Das Ablehnungsgesuch der Klägerin bezog sich insbesondere auf die Einholung eines [X.] bei ihrer behandelnden Gynäkologin auf Grundlage einer zehn Jahre alten Schweigepflichtsentbindung, die sie zu Beginn des Gerichtsverfahrens abgegeben hatte. In dem Ablehnungsgesuch sind damit Verhaltensweisen konkret benannt, die aus Sicht der Klägerin ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des handelnden [X.]s begründen können. Damit stehen bereits die in dem Beschluss angestellten Erwägungen des L[X.], dass nicht nur der Befangenheitsantrag gegen RL[X.] M. substanzlos sei, sondern dass der in Wirklichkeit handelnde und "eigentlich" abgelehnte Senatsvorsitzende zu der Anfrage bei der Gynäkologin befugt gewesen sei, einer Bewertung des Beschlusses vom 19.9.2018 als reine Formalentscheidung entgegen (B[X.] Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 208/17 B - juris Rd[X.] 17 - 18). Bereits das inhaltliche Eingehen des L[X.] auf die Frage, welcher [X.] denn nun eigentlich "gemeint" sei, und auf die verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit des Handelns des Vorsitzenden zeigt, dass es sich nicht alleine um eine Formalentscheidung handelte, unabhängig davon, dass auch inhaltlich Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Vorsitzenden bestehen.

9

Der Senat hat gemäß § 160a Abs 5 [X.]G das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverwiesen. Er hat sein insoweit bestehendes Ermessen dahingehend ausgeübt, nach § 563 Abs 1 S 2 ZPO iVm § 202 S 1 [X.]G den Rechtsstreit an einen anderen Spruchkörper des L[X.] zurückzuverweisen, um das Vertrauen der Beteiligten in ein faires Verfahren zu gewährleisten (B[X.] Urteil vom [X.] VJ 1/98 R - [X.] 3-1750 § 565 [X.] 2).

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des L[X.] vorbehalten.

Meta

B 2 U 19/19 B

02.07.2019

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Stralsund, 19. Januar 2012, Az: S 1 U 4/07

§ 160a Abs 5 SGG, § 60 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 42 ZPO, § 45 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, § 563 Abs 1 S 2 ZPO, § 16 S 2 GVG, Art 2 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 6 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 02.07.2019, Az. B 2 U 19/19 B (REWIS RS 2019, 5886)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 5886

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