Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20.12.2013, Az. 2 B 35/13

2. Senat | REWIS RS 2013, 22

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Maßnahmebemessung bei Zugriffsdelikt; nicht anerkannter Milderungsgrund; Gesamtwürdigung der be- und entlastenden Umstände


Leitsatz

1. Die Verwaltungsgerichte müssen bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme gemäß § 13 BDG (§ 13 Abs. 2 LDG NRW ) dafür offen sein, dass mildernden Umständen im Einzelfall auch dann ein beachtliches Gewicht zukommen kann, wenn sie zur Erfüllung eines so genannten anerkannten ("klassischen") Milderungsgrundes nicht ausreichen. Diese dürfen nicht als nebensächlich oder geringfügig zurückgestellt werden, ohne dass sie in Bezug zur Schwere des Dienstvergehens gesetzt werden.

2. Diese materiell-rechtliche Pflicht hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Die Verwaltungsgerichte verstoßen gegen ihre Verpflichtung aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wenn der im Zusammenhang mit den anerkannten Milderungsgründen festgestellte Sachverhalt bei der Würdigung als mildernder Umstand auf einzelne Sachverhaltsmomente reduziert und damit verkürzt wird.

Gründe

1

[X.]ie Beschwerde des [X.]n hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 67 Satz 1, § 3 Abs. 1 des [X.] [X.] - [X.]. § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. [X.]ie Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsurteil auf dem vom [X.]n geltend gemachten Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO beruhen kann. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat nicht aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden, ob eine mildere [X.]isziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis angemessen ist. [X.]ie darüber hinaus erhobenen Grundsatz- und [X.]ivergenzrügen dagegen sind nicht begründet.

2

1. [X.]er [X.] steht als Justizoberinspektor (Besoldungsgruppe [X.]) im [X.]ienst des klagenden [X.] und war zuletzt in der IT-Abteilung der ... beschäftigt. Er ist durch rechtskräftiges Strafurteil wegen [X.]iebstahls in einem besonders schweren Fall zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt worden. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils war ihm im März 2006 ein eingezogenes Notebook zur dienstlichen Verwahrung übergeben worden, das er in seine Privatwohnung verbrachte und durch ein altes und defektes Notebook austauschte, das sich ebenfalls in seinem [X.]ienstzimmer befand. Nachdem die Staatsanwaltschaft ... um Aushändigung des ihr zugewiesenen Notebooks ersuchte, fertigte der [X.] Vermerke, nach denen sich das Notebook als defekt herausgestellt habe und der Staatsanwaltschaft deshalb ein anderes Gerät zugewiesen worden sei.

3

Im sachgleichen [X.]isziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht den [X.]n aus dem Beamtenverhältnis entfernt, die hiergegen gerichtete Berufung blieb erfolglos. [X.]er [X.] habe ein innerdienstliches [X.] begangen, das im Regelfall zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führe. Ein klassischer [X.] liege nicht vor; auch unabhängig hiervon seien keine durchgreifenden Entlastungsmomente erkennbar, die das Verhalten des [X.]n in einem milderen Licht erscheinen lassen könnten.

4

2. [X.]ie [X.]ivergenzrüge (§ 67 Satz 1 [X.] NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) greift nicht durch.

5

a) [X.]er [X.] macht geltend, das Berufungsurteil beruhe auf einer [X.]ivergenz zu dem Urteil des [X.] vom 23. Juni 2005 - BVerwG 1 [X.] 6.04 -. [X.]as Oberverwaltungsgericht habe den Rechtssatz des [X.] nicht beachtet, dass es der Annahme der Spontaneität eines Tatentschlusses nicht entgegenstehe, dass dieser konsequent, überlegt und planvoll ausgeführt worden sei. [X.]iese [X.]ivergenzrüge führt nicht zur Zulassung der Revision. Zwar ist das Oberverwaltungsgericht von den Rechtssätzen des [X.] zur erforderlichen "Spontaneität" einer persönlichkeitsfremden Augenblickstat in einer besonderen Versuchungssituation abgewichen; hierauf beruht das Urteil aber nicht.

6

Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 [X.] NRW ist die [X.]isziplinarmaßnahme nach der Schwere des [X.]ienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das [X.]ienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung zu bestimmen. [X.]as Bemessungskriterium "Persönlichkeitsbild des Beamten" erfordert dabei eine Prüfung, ob das festgestellte [X.]ienstvergehen dem bisher gezeigten Persönlichkeitsbild des Beamten entspricht oder etwa als persönlichkeitsfremdes Verhalten in einer Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation davon abweicht (Urteil vom 24. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 25.06 - juris Rn. 13; Beschluss vom 28. Juni 2010 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 14). Ausnahmesituationen, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher nicht mehr vorausgesetzt werden kann, müssen daher berücksichtigt werden (Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 [X.] 59.07 - juris Rn. 22). Eine entsprechende Milderung kommt in Betracht, wenn ein Beamter im Zuge einer plötzlich entstandenen besonderen Versuchungssituation einmalig und persönlichkeitsfremd gehandelt hat (Urteil vom 4. Juli 2000 - BVerwG 1 [X.] 33.99 - juris Rn. 16). [X.]ie die Versuchung auslösende Situation muss geeignet sein, ein gewisses Maß an Kopflosigkeit, Spontaneität und Unüberlegtheit herbeizuführen (Urteile vom 1. Februar 1995 - BVerwG 1 [X.] 65.93 - [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 3 S. 9, vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 [X.] 12.97 - [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 16 S. 49 f., vom 15. September 1999 - BVerwG 1 [X.] 38.98 - [X.] § 54 Satz 2 [X.] Nr. 20 S. 1 f., vom 27. September 2000 - BVerwG 1 [X.] 24.98 - juris Rn. 18, vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 [X.] 31.01 - juris Rn. 19 und vom 6. Juni 2003 - BVerwG 1 [X.] 30.02 - juris Rn. 21).

7

Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] steht es der Annahme der Spontaneität eines Tatentschlusses aber nicht entgegen, dass dieser konsequent, überlegt und planvoll ausgeführt wird (Urteile vom 8. August 1995 - BVerwG 1 [X.] 41.93 - juris Rn. 28, vom 24. Februar 1999 - BVerwG 1 [X.] 31.98 - juris Rn. 20, vom 15. September 1999 a.a.[X.] = juris Rn. 21 und vom 23. Juni 2005 - BVerwG 1 [X.] 6.04 - S. 8). Hiervon weicht der vom Oberverwaltungsgericht aufgestellte Rechtssatz ab, auf ein Augenblicksversagen könne sich der [X.] schon deshalb nicht berufen, da er die Tat sehr überlegt und planvoll ausgeführt habe.

8

Auf dieser Abweichung kann das Berufungsurteil indes nicht beruhen. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat den [X.] der persönlichkeitsfremden Augenblickstat in einer besonderen Versuchungssituation vielmehr im Ergebnis zutreffend und selbständig tragend deshalb verneint, weil die erforderliche Versuchungssituation nach seinen gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen nicht vorgelegen hat.

9

Zwar war der [X.] bei seiner bisherigen gewöhnlichen dienstlichen Tätigkeit nicht mit der gegenständlichen Verwahrung von eingezogenen Notebooks betraut; dieser Umstand ging vielmehr auf die besonderen Arbeitsumstände der durch einen Streik bedingten Personalknappheit im Tatzeitpunkt zurück. Jedoch stellt die körperliche Übergabe eines Notebooks zur Prüfung und Verwahrung für einen dienstlich mit der Verwendung verfallener oder eingezogener Gegenstände für Zwecke der Justizverwaltung befassten Beamten keine psychische Ausnahmesituation dar, in der ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher nicht mehr vorausgesetzt werden kann (Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 [X.] 59.07 - juris Rn. 22). [X.]ies gilt auch dann, wenn der Beamte bislang nicht mit einer derartigen "Gelegenheit" konfrontiert worden ist.

b) [X.]er [X.] meint unter Hinweis auf das Urteil des [X.] vom 23. Juni 2005 - BVerwG 1 [X.] 6.04 -, die besondere Versuchungssituation ergebe sich aus einer psychischen Vorbelastung, die sich zu einer seelischen Zwangslage verdichtet und in der Übersprungshandlung ihren Ausdruck gefunden habe.

In der benannten Entscheidung hat der [X.]isziplinarsenat des [X.] ausgesprochen, dass eine besondere Versuchungssituation auch dann angenommen werden kann, wenn sich eine psychische Vorbelastung eines Beamten zum Zeitpunkt des [X.]ienstvergehens zu einer seelischen Zwangslage verdichtet, die vor dem Hintergrund der obwaltenden äußeren Umstände eine besondere Versuchungssituation begründet und in der spontan ausgeführten Tat ihren Ausdruck findet. Eine derartige Konstellation hat das Gericht für einen alkoholkranken Beamten in der besonderen Versuchungssituation des [X.] und des sich heftig steigernden Verlangens nach Alkohol sowie des daraus wiederum resultierenden "plötzlich auftretenden [X.]" angenommen. [X.]ie Annahme eines entsprechenden [X.]es setzt aber voraus, dass die seelische Zwangslage, die die besondere Versuchungssituation begründet, in der spontan ausgeführten Tat ihren Ausdruck findet (Urteile vom 15. September 1999 - BVerwG 1 [X.] 38.98 - [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 20 S. 2 = juris Rn. 23 und vom 23. Juni 2005 - BVerwG 1 [X.] 6.04 - S. 9).

Hiervon ist das Oberverwaltungsgericht aber nicht ausgegangen. Aus seinen gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen ergibt sich, dass sich der [X.] zwar in einer familiär bedingten Belastungssituation, nicht aber in einer seelischen Zwangslage befunden hat. [X.]amit greift der [X.] die fallbezogene Würdigung des festgestellten Sachverhalts durch das Oberverwaltungsgericht an, die zur Verneinung dieses [X.]es geführt hat. [X.]ies ist nicht geeignet, eine [X.]ivergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO dazulegen (vgl. Beschluss vom 23. Januar 2013 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 18 m.w.N.).

c) Entsprechendes gilt für die behauptete [X.]ivergenz zum Urteil vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 [X.] 12.04 - (BVerwGE 124, 252 <258>). [X.]as Oberverwaltungsgericht stellt nicht in Abrede, dass eine objektive und ausgewogene Zumessungsentscheidung voraussetzt, dass die die sich aus § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 [X.] NRW ergebenden Bemessungskriterien mit dem ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht ermittelt und in die Entscheidung eingestellt werden und zitiert den in der Beschwerde aufgezeigten Rechtssatz sogar wörtlich ([X.] ). [X.]ie Rüge des [X.]n, das Oberverwaltungsgericht habe nachfolgend wesentliche Umstände nicht angemessen gewertet, zeigt daher keine unterschiedliche Auffassung zur Auslegung von Rechtssätzen auf, sondern behauptet lediglich eine unzutreffende Rechtsanwendung der Grundsätze auf den Einzelfall. [X.]ies genügt den Anforderungen an die [X.]arlegung einer [X.]ivergenzrüge nicht.

3. [X.]ie Revision ist auch nicht zur Klärung grundsätzlich bedeutsamer Rechtsfragen zuzulassen (§ 67 Satz 1 [X.] NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

a) [X.]ie von der Beschwerde bezeichnete Frage, ob eine besondere Versuchungssituation vorliegt, wenn ein Beamter erstmalig unmittelbar mit der gegenständlichen Verwaltung von Gegenständen im dienstlichen Gewahrsam betraut worden ist und deshalb die Möglichkeit des tatsächlichen Zugriffs besteht, ist nicht entscheidungserheblich. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat die besondere Versuchungssituation unabhängig hiervon wegen der besonderen Einzelfallumstände verneint.

Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des [X.] ist das Notebook durch den [X.] entgegengenommen und auf das [X.]ienstzimmer des [X.]n verbracht worden, sodass der Verbleib des Gerätes und die Verwahrung durch den [X.]n eindeutig zuordenbar waren. Auch wenn die Entgegennahme sichergestellter Notebooks nicht zu den üblichen [X.]ienstobliegenheiten des [X.]n gehörte, war hiermit durch die Individualisierbarkeit des Empfängers objektiv keine besondere Versuchungssituation im Hinblick auf das nachfolgend begangene [X.] entstanden. Unabhängig von der allgemein aufgeworfenen Rechtsfrage hat das Oberverwaltungsgericht daher angesichts der im konkreten Einzelfall bestehenden Besonderheit der klaren Rückverfolgbarkeit der Aushändigung des Notebooks an den [X.]n das Vorliegen einer Versuchungssituation verneint. [X.]as Vorliegen der Umstände einer besonderen Versuchungssituation im Einzelfall ist einer Grundsatzrüge aber nicht zugänglich.

b) Entsprechendes gilt für die weiter aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine - vom Berufungsgericht als "klassischer" [X.] untersuchte - negative Lebensphase bei einer Person vorliegt, die unter Jahre lang andauerndem Schlafmangel von maximal zwei bis drei Stunden täglich, ständiger Sorge um die kranken Kinder, Überbelastung bei der Arbeit und einer zumindest mittelgradigen [X.]epression leidet. Auch diese Frage ist - unabhängig davon, dass sie in der bezeichneten Fassung nicht den tatsächlichen Feststellungen des [X.] entspricht - anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.

4. [X.]ie Beschwerde hat allerdings Erfolg, soweit sie rügt, dass das Oberverwaltungsgericht gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen hat, weil es den festgestellten Sachverhalt seiner Würdigung nicht vollständig zugrunde gelegt hat.

Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. [X.]araus folgt auch die Verpflichtung, der Überzeugungsbildung den im Verfahren festgestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde zu legen. [X.]as Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist (Urteile vom 2. Februar 1984 - BVerwG 6 [X.] 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339> = [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 145 S. 36 f. und vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 [X.] 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.> = [X.] 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 174 S. 26 ff.; Beschlüsse vom 18. November 2008 - BVerwG 2 [X.] - [X.] 235.1 § 17 B[X.]G Nr. 1 Rn. 27 und vom 31. Oktober 2012 - BVerwG 2 B 33.12 - NVwZ-RR 2013, 115 Rn. 12).

[X.]iesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Zwar hat das Berufungsgericht im Rahmen der Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme mehrere von ihm als "klassisch" bezeichnete Milderungsgründe in der gebotenen Begründungstiefe geprüft und dabei auch die familiäre Belastungssituation des [X.]n gewürdigt. Anders verhält es sich aber bei der abschließend ([X.] oben) behandelten Frage, ob unter dem Gesichtspunkt eines so genannten nicht anerkannten [X.]es eine andere [X.]isziplinarmaßnahme angemessen wäre, weil der [X.] zum Tatzeitpunkt unter einer extremen familiären Belastungssituation stand.

Unter der Geltung der Bemessungsvorgaben des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 B[X.]G (= § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 [X.] NRW) ist es nicht mehr möglich, die in der Rechtsprechung des [X.]isziplinarsenats des [X.] entwickelten und "anerkannten" Milderungsgründe als abschließenden Kanon der bei [X.]en allein beachtlichen Entlastungsgründe anzusehen (stRspr; vgl. Urteile vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 [X.] 12.04 - BVerwGE 124, 252 <262> = [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 1 Rn. 29, vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 9.06 - [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 3 Rn. 20 ff. sowie - BVerwG 2 [X.] 30.05 - Rn. 31 f. § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50>). Vielmehr dürfen entlastende Gesichtspunkte nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sie für das Vorliegen eines solchen [X.]es ohne Bedeutung sind oder nicht ausreichen, um dessen Voraussetzungen - im Zusammenwirken mit anderen Umständen - zu erfüllen. [X.]ie Verwaltungsgerichte müssen bei der Gesamtwürdigung dafür offen sein, dass mildernden Umständen im Einzelfall auch dann ein beachtliches Gewicht für die Maßnahmebemessung zukommen kann, wenn sie zur Erfüllung eines so genannten anerkannten [X.]es nicht ausreichen. Auch solche Umstände dürfen nicht als nebensächlich oder geringfügig zurückgestellt werden, ohne dass sie in Bezug zur Schwere des [X.]ienstvergehens gesetzt werden (Urteil vom 25. Juli 2013 - BVerwG 2 [X.] 63.11 - Rn. 25 und 32 ). Sie dürfen nicht in einer nicht nachvollziehbaren Weise "abgetan" werden. [X.]iese materiell-rechtliche Pflicht hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. [X.]ie Verwaltungsgerichte verstoßen gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wenn der im Streitfall festgestellte Sachverhalt bei der Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte als mildernder Umstand auf einzelne Sachverhaltsmomente reduziert und damit verkürzt wird.

So liegt es hier. Zwar gibt das Berufungsgericht die höchstrichterlichen Rechtssätze zur Bedeutung und Erheblichkeit von entlastenden Umständen, die den anerkannten Milderungsgründen vergleichbar sind, aber deren Gewicht nicht erreichen, zutreffend wieder ([X.] f.). Gleichwohl ist die Behandlung dieses Gesichtspunkts - verfahrensrechtlich - defizitär, weil das Berufungsgericht den festgestellten Sachverhalt, wie er sich als Ergebnis der von ihm durchgeführten umfänglichen Beweisaufnahme darstellt, nicht in seiner Gesamtheit berücksichtigt, sondern ihn auf einzelne Sachverhaltsmomente reduziert und damit verkürzt hat, und zwar in einer Weise, die sowohl in der Begründung als auch der Sache nach nicht mehr nachvollziehbar ist.

Im strafgerichtlichen wie im gesamten disziplinarrechtlichen Verfahren war es ein wesentlicher, wenn nicht gar der zentrale Punkt der Rechtsverteidigung des [X.]n, dass seine Tat unter dem Einfluss einer außergewöhnlichen familiären Belastungssituation gestanden habe und dies bei der Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme - sei es im Rahmen der anerkannten Milderungsgründe, sei es als ein sonstiger mildernder Umstand - zu berücksichtigen sei. Auch in der Beweisaufnahme des Berufungsgerichts ging es - neben der Frage des Werts des Notebooks - vornehmlich um diese Frage. [X.]ie Ehefrau des [X.]n hat in der mündlichen Verhandlung vom 19. [X.]ezember 2012 ausführlich und anschaulich die familiäre Belastungssituation des [X.]n dargestellt, die maßgeblich durch die (verschiedenen) physischen Krankheiten und psychischen Auffälligkeiten seiner drei Kinder, seiner Ehefrau und des [X.]n selbst gekennzeichnet war. [X.]ie sachverständige Zeugin [X.]ipl.-Psychologin ... hat in der mündlichen Verhandlung vom 6. September 2012 ebenso ausführlich diese Belastungssituation bestätigt und fachlich bewertet. [X.]as Berufungsgericht hat die in diesen Aussagen bekundeten Tatsachen als festgestellt behandelt und sie in den Entscheidungsgründen an mehreren Stellen - jeweils bei der Behandlung der von ihm als "klassisch" bezeichneten Milderungsgründe ([X.] bis 48 oben) - als solche konkret benannt und im [X.]etail gewürdigt (vgl. [X.] f., 39 f., 44 f., 47 mit den dortigen Ausführungen zu den Erkrankungen der Kinder, zur fehlenden Entlastung durch die Ehefrau, zum Schlafmangel und zur Übermüdung des [X.]n, zur Medikamenteneinnahme und zur Inanspruchnahme sozialpsychologischer Hilfe an mehreren Tagen pro Woche).

Angesichts dieses umfänglichen Tatsachenstoffs ist es nicht nachvollziehbar, wenn das Berufungsurteil sodann bei der Frage des Vorliegens sonstiger entlastender Umstände die familiäre Situation des [X.]n als nebensächlich und geringfügig zurückstellt, indem es die "Krankheiten der Kinder, der Ehefrau und bei ihm sowie der behauptete Schlafentzug des [X.]n" als bloße "sicherlich belastende Umstände" abtut, weil es "keine Seltenheit" sei, "dass Eltern mit Krankheiten ihrer Kinder und geringeren Schlafanteilen umgehen" müssten ([X.]). Entsprechend hat es (schon zuvor in anderem Zusammenhang) die familiäre Situation als "ersichtlich nichts Ungewöhnliches" bezeichnet ([X.]). [X.]as Berufungsgericht reduziert dadurch die in den genannten Aussagen plastisch beschriebene außergewöhnliche familiäre Belastungssituation des [X.]n auf den "Normalfall" von Eltern, die hin und wieder wegen einer Erkrankung eines Kindes auch Schlafeinbußen hinnehmen müssen. [X.]amit wird der Inhalt der Aussagen der Ehefrau und der sachverständigen Zeugin deutlich verkürzt. So hatte beispielsweise die Ehefrau des [X.]n bekundet (Protokoll vom 19. [X.]ezember 2012 S. 4) und das Berufungsgericht selbst in anderem Zusammenhang als Tatsache festgestellt ([X.]), dass im Zeitraum 2005 bis Ende 2006 eine sozialpsychologische Helferin "[X.] in der Woche" zu der Familie nach Hause kam, um die Familie in kinder- und jugendpsychiatrischer Hinsicht zu betreuen. Wenn eine solche Familiensituation im Berufungsurteil als "keine Seltenheit" und als "nichts Ungewöhnliches" abgetan wird, ist dies sowohl in der Begründung wie auch der Sache nach nicht nachvollziehbar. [X.]adurch hat das Berufungsgericht - im hier interessierenden entscheidungserheblichen Punkt - den festgestellten Tatsachenstoff zur familiären Belastungssituation des [X.]n nicht vollständig und zutreffend erfasst und damit nicht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entschieden.

[X.]adurch, dass die familiäre Belastungssituation des [X.]n auf einen "nicht ungewöhnlichen" Normalfall reduziert wurde, kann auch nicht festgestellt werden, ob sich die darin liegende (materiell-rechtliche) Fehlgewichtung mit Blick auf andere belastende Umstände, namentlich in Bezug auf die Schwere des [X.]ienstvergehens, auf die Bemessungsentscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis ausgewirkt hat. Hinzu kommt, dass die erwähnte [X.]iplom-Psychologin den [X.]n in dieser Situation als nicht mehr voll steuerungsfähig bezeichnet hat (Protokoll vom 6. September 2012 S. 7 unten) und auch das Berufungsgericht im [X.] an die genannte sachverständige Zeugin und den Sachverständigen [X.]r. med. ... selbst davon ausgegangen ist, dass die Tat persönlichkeitsfremd war. Von daher liegen - neben der außergewöhnlichen familiären Belastungssituation - noch weitere beachtliche Aspekte vor, die im Rahmen der Gesamtbetrachtung sämtlicher sonstiger entlastender Umstände in Betracht zu ziehen sind. Für das Vorliegen eines [X.] im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO reicht aber schon die Möglichkeit aus, dass die Entscheidung auf ihm beruhen "kann". [X.]ies führt zur Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO.

5. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Berufungsgericht darauf bedacht sein müssen, dass es im Rahmen der Gesamtbetrachtung sämtlicher be- und entlastender Umstände dieselbe unverkürzte Tatsachengrundlage zugrunde legt, wie bei den von ihm gewürdigten "klassischen" Milderungsgründen.

a) Wie im Berufungsurteil im Ansatz zutreffend dargestellt, hat die Rechtsprechung des [X.] auf spezielle [X.]eliktstypen bezogene, teilweise aber auch allgemeingültige gewichtige "Milderungsgründe" entwickelt und "anerkannt" (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 [X.] 12.04 - BVerwGE 124, 252 <258 f.> = [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 1 S. 6). [X.]iesen anerkannten Milderungsgründen ist als gemeinsames Kennzeichen eigen, dass sie regelmäßig zu einer [X.]isziplinarmaßnahme führen, die um eine Stufe niedriger liegt als die durch die Schwere des [X.]ienstvergehens indizierte Maßnahme, es sei denn es liegen gegenläufige, belastende Umstände vor (vgl. Urteil vom 28. Juli 2011 - BVerwG 2 [X.] 16.10 - BVerwGE 140, 185 = [X.] 235.2 L[X.]isziplinarG Nr. 18, jeweils Rn. 37 ff., zuletzt Urteil vom 25. Juli 2013 - BVerwG 2 [X.] 63.11 - Rn. 26 , für den [X.] der tätigen Reue durch Offenbarung des Fehlverhaltens oder durch freiwillige Wiedergutmachung des Schadens vor Entdeckung).

Eine solche regelmäßige Herabsetzung der an sich indizierten [X.]isziplinarmaßnahme hat der [X.] bislang nicht für alle vom Berufungsgericht als "klassische" Milderungsgründe bezeichneten Umstände angenommen, die es im Rahmen seines Prüfprogramms betrachtet hat (ab [X.] ff.). [X.]iese Regelhaftigkeit hat der [X.] namentlich bislang nicht für die vom Berufungsgericht geprüften Gesichtspunkte des Vorliegens einer negativen Lebensphase ([X.]), der unverschuldeten ausweglosen wirtschaftlichen Notlage ([X.]) und der Vernachlässigung der [X.]ienstaufsicht ([X.]) angenommen; diese drei Gesichtspunkte sind vielmehr als mildernde Umstände im Rahmen der Gesamtwürdigung gemäß § 13 B[X.]G - ohne die beschriebene Regelhaftigkeit - in den Blick zu nehmen.

b) Nach der Rechtsprechung des [X.]isziplinarsenats und des [X.] des [X.] kann der mildernde Umstand einer negativen Lebensphase während des Tatzeitraums je nach den Umständen des Einzelfalles mildernd berücksichtigt werden. [X.]ies gilt allerdings nur für außergewöhnliche Verhältnisse, die den Beamten zeitweilig aus der Bahn geworfen haben. Hinzukommen muss, dass er die negative Lebensphase in der Folgezeit überwunden hat (Urteile vom 18. April 1979 - BVerwG 1 [X.] 39.78 - BVerwGE 63, 219 <220 f.>, vom 23. August 1988 - BVerwG 1 [X.] 136.87 - NJW 1989, 851; Beschluss vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - NVwZ 2005, 1199 <1200>; Urteile vom 27. Januar 2011 - [X.] - [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 17 Rn. 39 und zuletzt vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 [X.] 3.12 - NVwZ 2013, 1087 Rn. 40 f.). Zwar liegt die Berücksichtigung einer schwierigen, inzwischen überwundenen Lebensphase vor allem dann nahe, wenn sich der Pflichtenverstoß als Folge dieser Lebensumstände darstellt (vgl. Urteil vom 27. Januar 2011 a.a.[X.] Rn. 39). [X.]ies bedeutet aber nicht, dass eine schwierige Lebensphase während der Tatzeit in anderen Fällen generell außer Betracht zu bleiben hat (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.[X.] Rn. 40 f.). [X.]ie Verwaltungsgerichte verfehlen die ihnen zugewiesene Aufgabe einer umfassenden Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Umstände des jeweiligen Einzelfalles, hier der Berücksichtigung der besonders belastenden Familiensituation des [X.]n, wenn sie die Sachverhalte und Fallkonstellationen aus der Rechtsprechung des [X.] wie Tatbestandsmerkmale einer Norm anwenden, unter die es zu subsumieren gelte, und bei deren Nichtvorliegen eine Berücksichtigung des jeweiligen mildernden Umstandes ausgeschlossen sei.

[X.]iese Prüfung wird das Berufungsgericht im Streitfall unter Beachtung der vorstehenden Hinweise erneut anzustellen haben.

Meta

2 B 35/13

20.12.2013

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 19. Dezember 2012, Az: 3d A 1614/11.O, Urteil

§ 13 Abs 1 S 2 BDG, § 13 Abs 1 S 3 BDG, § 13 Abs 1 S 4 BDG, § 13 Abs 2 BDG, § 3 Abs 1 DG NW 2004, § 13 Abs 2 S 1 DG NW 2004, § 13 Abs 2 S 2 DG NW 2004, § 13 Abs 2 S 3 DG NW 2004, § 67 S 1 DG NW 2004, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20.12.2013, Az. 2 B 35/13 (REWIS RS 2013, 22)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 22

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 B 60/14 (Bundesverwaltungsgericht)

Bemessung einer Disziplinarmaßnahme; nicht angeschuldigte belastende Umstände; Überwindung einer schwierigen Lebensphase; Reichweite der Bindungswirkung eines …


2 C 7/22 (Bundesverwaltungsgericht)

Ausführungen zur Begründetheit bei einer als unzulässig verworfenen Berufung


2 B 5/17 (Bundesverwaltungsgericht)

Außerdienstlicher Diebstahl und exhibitionistische Handlung eines Lehrers


2 B 18/17 (Bundesverwaltungsgericht)

Disziplinare Ahndung einer Steuerhinterziehung durch den Vorsteher eines Finanzamtes


2 C 38/10 (Bundesverwaltungsgericht)

Bemessung der Disziplinarmaßnahme bei Zugriffsdelikt; Einbeziehung von entlastenden Umständen


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.