Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.10.2019, Az. 2 BvR 1380/19

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2019, 2754

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 19 Abs 4 S 1 GG iVm Art 2 Abs 2 S 1 GG durch unzureichende fachgerichtliche Sachaufklärung bzgl der Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung einer Mutter und ihres wenige Monate alten Säuglings - Zum Erfordernis einer konkret-individuellen Zusicherung Italiens bzgl der Überstellung besonders vulnerabler Asylsuchender im Zusammenhang mit dem sog "Salvini-Dekret" (Dekret Nr. 113/2018 vom 05.10.2018; juris: DL 113/2018 ITA) - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 8. Juli 2019 - [X.] 19.50575 - und vom 25. Juli 2019 - [X.] 19.50593 - verletzen die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben und die Sache an das [X.] zurückverwiesen.

Der [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das - mit Beschluss vom 4. September 2019 beschiedene - Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 (in Worten: zehntausend) [X.] und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 (in Worten: fünftausend) [X.] festgesetzt.

Gründe

I.

1

1. Der am 20. April 2019 in [X.] geborene Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger.

2

Für seine Mutter hatte das [X.] ([X.]) bereits am 18. Januar 2018 ein Übernahmeersuchen nach der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 ([X.] III-Verordnung) an [X.] gerichtet. Nachdem dieses Ersuchen unbeantwortet geblieben war, ging das [X.] mit Ablauf des 18. März 2019 von der Zuständigkeit [X.]s für die Durchführung des Asylverfahrens der Mutter des Beschwerdeführers aus (Art. 22 Abs. 7 [X.] III-Verordnung). Der Asylantrag des Beschwerdeführers galt am 15. Mai 2019 als gestellt (§ 14a Abs. 2 Satz 3 [X.]). Seine Mutter hatte Gelegenheit, schutzwürdige Belange vorzutragen.

3

2. Mit Bescheid vom 24. Juni 2019 lehnte das [X.] den Asylantrag des Beschwerdeführers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 [X.] nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung des Beschwerdeführers nach [X.] an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem [X.] (Ziffer 4).

4

[X.] sei für die Durchführung des Asylverfahrens des Beschwerdeführers zuständig, ohne dass für ihn ein eigenes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren eingeleitet werden müsse; die Zustimmung [X.]s im [X.]-Verfahren der Mutter gelte gemäß Art. 20 Abs. 3 [X.] III-Verordnung auch für den Beschwerdeführer. [X.] oder Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Bundesrepublik [X.] nach Art. 17 Abs. 1 [X.] III-Verordnung lägen nicht vor. Das [X.] Asylsystem leide auch unter Berücksichtigung des sogenannten [X.] nicht an systemischen Mängeln. Allerdings könne es vorkommen, dass Asylsuchenden der Zugang zu einer Unterbringung erst nach der formellen Registrierung des Antrags ermöglicht werde. Es sei jedoch nicht zu befürchten, dass asylsuchende Kleinkinder beeinträchtigt würden. Eine individuelle Garantieerklärung [X.]s vor einer Überstellung von Familien mit Kleinstkindern sei daher nicht erforderlich. Dass es bei [X.]-Rückkehrern in bestimmten Fällen zu einem Verlust des Unterkunftsanspruchs komme, begründe keinen Verstoß gegen Art. 3 [X.]. Inlandsbezogene [X.] - insbesondere infolge der Anerkennung der Vaterschaft für den Beschwerdeführer - lägen ebenso wenig vor.

5

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid vom 24. Juni 2019 am 2. Juli 2019 Klage beim [X.] und beantragte, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Zur Begründung führte er unter Verweis auf zahlreiche verwaltungsgerichtliche Entscheidungen und Berichte über die Situation in [X.] aus: Als neugeborenes Kind gehöre er zu den besonders vulnerablen Personen im Sinne der [X.] des [X.] (Urteil vom 4. November 2014, [X.], Nr. 29217/12), doch liege eine kon-kret-individuelle Zusicherung in seinem Fall nicht vor. Die allgemeine Zusicherung [X.]s vom 15. April 2015 zur Unterbringung von Familien in den sogenannten [X.] sei hinfällig, weil diese Einrichtungen nur noch für unbegleitete Minderjährige und anerkannte Asylbewerber vorgesehen seien. Auch die allgemeine Zusicherung [X.]s vom 8. Januar 2019, wonach [X.]-Rückkehrer in anderen Aufnahmezentren ([X.] und [X.]) aufgenommen würden, in denen die Wahrung der Familieneinheit und der Schutz Minderjähriger gewährleistet seien, reiche nicht aus. Die [X.] beobachte, dass insbesondere verletzliche Personen, die nach [X.] überstellt würden, dort oftmals keine oder keine ausreichende Unterstützung erhielten. Zugang zum Aufnahmesystem erhielten Asylsuchende in [X.] in der Regel erst nach Ausfüllen des Formulars C3; dieses wiederum erhielten sie nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft, sondern erst beim normalerweise einige Wochen später stattfindenden zweiten Termin bei der Questura.

6

4. Mit Beschluss vom 8. Juli 2019 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.

7

In [X.] bestünden keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen. Zwar werde der bisherige humanitäre [X.] durch das am 5. Oktober 2018 erlassene und am 7. November 2018 durch den Senat sowie am 28. November 2018 durch das Parlament bestätigte Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration (Salvini-Dekret) stark abgesenkt. Die Bedürfnisse von Familien sowie vulnerablen Personen würden jedoch auch künftig Berücksichtigung finden. So seien Plätze für Familien sowie alleinreisende Frauen (mit Kindern) vorgesehen, und neben den staatlichen Einrichtungen existierten karitative und kommunale Angebote zusätzlicher Unterkunftsmöglichkeiten. Lediglich in Einzelfällen sei es möglich, dass [X.]-Rückkehrer keine Unterbringung erhielten und vorübergehend obdachlos würden. Insbesondere könne es zu Problemen kommen, wenn sie in [X.] bereits offiziell untergebracht gewesen seien, da der Anspruch auf Unterbringung in staatlichen Einrichtungen [X.], wenn Ausländer ihre Unterkunft ohne vorherige Bewilligung verlassen oder eine ihnen zugewiesene Unterkunft gar nicht erst in Anspruch genommen hätten. Zudem sei die Anzahl der in [X.] ankommenden Asylsuchenden seit Beginn des Jahres 2018 stark rückläufig. Dem Gericht sei in tatsächlicher Hinsicht nichts dafür bekannt, dass ein Kleinkind in [X.] nicht angemessen behandelt werde. Es lägen auch keine außergewöhnlichen Umstände vor, die für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik [X.] sprechen könnten.

8

5. Gegen den Beschluss erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge. Er machte geltend, das Verwaltungsgericht habe sein Vorbringen, dass ohne individuelle Zusicherung nicht von einer familien- und kindgerechten Unterbringung in [X.] ausgegangen werden könne, ebenso wenig berücksichtigt wie die vorgelegten [X.]. Mit Beschluss vom 25. Juli 2019 verwarf das Verwaltungsgericht die Anhörungsrüge.

9

1. Der Beschwerdeführer hat am 29. Juli 2019 Verfassungsbeschwerde erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er macht - neben weiteren Grundrechtsrügen - geltend, das Verwaltungsgericht habe die sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 2 GG ergebenden Anforderungen an die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in [X.] verfehlt. Es habe in seinem Beschluss vom 8. Juli 2019 auf die problematische Unterbringungssituation in [X.] Bezug genommen. Es sei daher nicht nachvollziehbar, wenn das Verwaltungsgericht behaupte, dem Gericht sei in tatsächlicher Hinsicht nichts dafür bekannt, dass ein Kleinkind in [X.] nicht sofort eine adäquate Unterkunft erhalte. Die angegriffenen Entscheidungen beruhten auch auf der Grundrechtsverletzung.

2. Mit Beschluss vom 4. September 2019 hat die Kammer dem Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben.

3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen. Das [X.], das [X.] und das [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das [X.] hat von dieser Gelegenheit Gebrauch gemacht.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

1. Der Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2019 verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Verwaltungsgericht hat die sich aus diesen Vorschriften ergebenden Anforderungen an die Aufklärung und Beurteilung der Aufnahmebedingungen in [X.] verfehlt.

a) Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen; sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer richterlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. [X.] 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr). Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich entscheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts (vgl. [X.] 60, 253 <297>), hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

Die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung im fachgerichtlichen (Eil-) Verfahren haben dem hohen Wert der Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 4 [X.] und Art. 3 [X.] Rechnung zu tragen. In Fällen, in denen es um die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem [X.] als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 [X.] beziehungsweise Art. 3 [X.] geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu (vgl. [X.], Beschluss der 1. Kam-mer des [X.] vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, juris, Rn. 19 m.w.N.). Die fachgerichtliche Beurteilung von möglicherweise gegen Art. 4 [X.] beziehungsweise Art. 3 [X.] verstoßenden Aufnahmebedingungen muss - jedenfalls, wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind - auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, Rn. 11; Beschluss der [X.] des [X.] vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, Rn. 16; vgl. auch [X.], Urteil vom 19. März 2019, [X.], [X.]/17, Rn. 90: "Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten [X.] der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.").

Unter diesen Voraussetzungen kann es sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (vgl. [X.] 94, 49 <100>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 -, Rn. 15 f.; [X.], Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S. v. [X.], Nr. 30696/09, Rn. 353 f.; Urteil vom 4. November 2014, [X.], Nr. 29217/12, Rn. 121). Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. zur Bedeutung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes für das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG: [X.] 126, 1 <27 ff.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 -, Rn. 17).

b) Diesen Vorgaben wird der Beschluss des [X.] vom 8. Juli 2019, auf dessen Grundlage der Beschwerdeführer nach [X.] abgeschoben werden soll, nicht gerecht.

aa) Der Beschwerdeführer hat im fachgerichtlichen Verfahren und in der [X.] hinreichend dargelegt, dass in seinem Fall auf eine [X.] Zusicherung seitens der [X.]n Behörden, dass er in [X.] unmittelbar nach der Überstellung kind- und familiengerecht untergebracht werde, möglicherweise nicht verzichtet werden könne, da nach Erlass des [X.] und auf der Grundlage der aktuellen [X.] tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestünden, dass ihm aufgrund seines Alters ohne eine [X.] Zusicherung im Falle einer Überstellung nach [X.] vorübergehende Obdachlosigkeit, eine nicht kind- und familiengerechte Unterbringung sowie unzureichender Zugang zu medizinischer Versorgung drohten.

Dieses Vorbringen ist auf dem Boden des [X.] nachvollziehbar und begründet die Pflicht zur Aufklärung der aktuellen Sachlage.

Die Überstellung von Familien mit (Klein-) Kindern nach [X.] wurde von der Rechtsprechung bereits in der Vergangenheit als problematisch angesehen. Das [X.] hat zu dieser Frage ausgeführt:

"Bestehen - wie gegenwärtig im Falle [X.]s - aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen oder des [X.] belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer im sicheren [X.], hat die auf [X.] Seite für die Abschiebung zuständige Behörde dem angemessen Rechnung zu tragen.

Bei Vorliegen einer solchen Auskunftslage hat das zuständige [X.] angesichts der hier berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und der bei der Durchführung von Überstellungen nach dem [X.]-System vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten [X.]ung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls (vgl. nunmehr Erwägungsgrund 16 der neugefassten Verordnung <[X.]> Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - [X.] III-Verordnung) jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit neugeborenen (vgl. Art. 15 Abs. 1 und 2 der [X.] II-Verordnung und Art. 16 Abs. 1 der [X.] III-Verordnung) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für diese in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen."

([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 -, Rn. 15 f.).

Im November 2014 hat der [X.] entschieden, dass die [X.]-Staaten vor der Überstellung von Familien mit (Klein-) Kindern nach [X.] [X.] Zusicherungen bei den [X.]n Behörden einzuholen hätten, aus denen hervorgehe, dass ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen werde ([X.], Urteil vom 4. November 2014, [X.], Nr. 29217/12, Rn. 122). In Reaktion auf diese Entscheidung sicherten die [X.]n Behörden mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015 allgemein zu, Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten [X.] unterzubringen.

Unter Bezugnahme auf diese Zusicherungen und die Annahme, dass Familien mit (Klein-) Kindern grundsätzlich in [X.] untergebracht werden sollten, sah der [X.] von dem Erfordernis der [X.]n Zusicherung durch die [X.]n Behörden wieder ab (vgl. [X.], Entscheidung vom 4. Oktober 2016, [X.], Nr. 30474/14 -, Rn. 34; vgl. auch: [X.], Beschluss vom 15. Oktober 2018 - 3 L 371.18 A -, juris, Rn. 29 m.w.N.).

Die Situation in [X.] hat sich seit dem Erlass des [X.] Ende 2018 jedoch erneut in entscheidungserheblicher Weise verändert: Die vom [X.] in Bezug genommenen [X.] stehen Asylsuchenden mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger seit Erlass des [X.] nicht mehr zur Verfügung. Dies ergibt sich auch aus den vom Beschwerdeführer inhaltlich wiedergegebenen [X.]n ([X.], Bericht vom 8. Mai 2019; [X.]/[X.], Bericht vom 12. Dezember 2018). Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende ([X.] und [X.]) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisten, kann nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hat zu Recht zu bedenken gegeben, dass - auch unter Berücksichtigung der neuerlichen allgemeinen Zusicherung der [X.]n Behörden vom 8. Januar 2019 - nach Erlass des [X.] nicht mehr hinreichend ersichtlich ist, wo und wie die [X.]n Behörden eine dem Alter und der Situation des Beschwerdeführers angemessene Unterbringung tatsächlich ermöglichen können; dies hat er durch Verweise auf verwaltungsgerichtliche Entscheidungen belegt. Weiter hat er nachvollziehbar dargelegt, dass - selbst wenn er und seine Mutter Aussicht auf eine kind- und familiengerechte Unterkunft in den [X.]- und [X.]-Unterkünften hätten - nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden könne, dass sie sofort nach ihrer Ankunft in [X.] Zugang zu einer angemessenen Unterkunft haben würden. Das Risiko einer vorübergehenden Obdachlosigkeit der Familie ist damit - insbesondere vor dem Hintergrund der im [X.]n Verwaltungsverfahren bestehenden hohen Hürden - schlüssig dargelegt.

bb) Bei dieser Ausgangssituation hat das Verwaltungsgericht die aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) erwachsenden Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung im Eilverfahren verkannt. Es hat seine entscheidungserhebliche Annahme, dass im Falle des Beschwerdeführers eine [X.] Zusicherung der [X.]n Behörden nicht erforderlich sei, nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage gestützt:

Es lässt im angegriffenen Beschluss außer [X.], dass die Unterbringung von Familien mit (Klein-) Kindern in [X.] schon in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum als äußerst kritisch bewertet worden war und - nach vorübergehender Verbesserung der Lage - seit Ende 2018 erneut unklar geworden ist und im entscheidungserheblichen Zeitpunkt möglicherweise von systemischen Mängeln geprägt war. Die angegriffenen Beschlüsse vermitteln insbesondere den Eindruck, das Verwaltungsgericht gehe davon aus, dass zureichende Unterkunftsmöglichkeiten erst noch geschaffen werden und dass [X.]-Rückkehrer in [X.] nach ihrer Ankunft zunächst mit Obdachlosigkeit rechnen müssten. In dieser Übergangsphase seien [X.]-Rückkehrer auf die Hilfe von Freunden oder karitativen Einrichtungen angewiesen, über deren Aufnahmekapazität es keine gesicherten und aussagekräftigen Unterlagen gebe. Das Verwaltungsgericht thematisiert - obwohl es die vorgenannten Feststellungen getroffen hat - nicht, wie hoch das Risiko einer vorübergehenden Obdachlosigkeit in [X.] für den Beschwerdeführer und seine Mutter tatsächlich ist. Insbesondere der Frage, ob die Mutter des Beschwerdeführers vor ihrer Ausreise aus [X.] bereits staatlich untergebracht war beziehungsweise jedenfalls eine Unterkunft zugewiesen bekommen hatte, ist das Verwaltungsgericht - trotz der offenkundigen Relevanz dieser Frage - nicht nachgegangen; damit lässt es die Frage einer dem Beschwerdeführer etwa drohenden Obdachlosigkeit offen. Auf einen relevanten Teil der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Erkenntnisse, insbesondere auf den Bericht der [X.] vom 8. Mai 2019, geht es nicht ein. Indem das Verwaltungsgericht weder weitere Erkenntnisse und/oder eine [X.] Zusicherung [X.]s eingeholt noch die ergänzende Sachverhaltsaufklärung dem Hauptsacheverfahren überlassen, sondern auf unzureichender Tatsachenbasis die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage verneint hat, hat es sowohl die vom [X.] zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1GG entwickelten als auch die vom [X.]GH in der Sache "[X.]" (Urteil vom 19. März 2019, [X.]/17, Rn. 90) aufgestellten Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung im Eilverfahren verfehlt.

2. Hat die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Erfolg, bedarf es keiner Entscheidung, ob die weiter geltend gemachten [X.] vorliegen.

3. Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre.

Die Beschlüsse des [X.] vom 8. und vom 25. Juli 2019 waren gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Der [X.] hat dem Beschwerdeführer nach § 34a Abs. 2 [X.] die notwendigen Auslagen sowohl für das [X.] als auch für das einstweilige [X.] zu erstatten. Dadurch erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (vgl. [X.] 105, 239 <252> m.w.N.).

Die Festsetzung des Gegenstandswertes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 1380/19

10.10.2019

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerfG, 4. September 2019, Az: 2 BvR 1380/19, Einstweilige Anordnung

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 60 Abs 2 AufenthG, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, DL 113/2018 ITA, Art 4 EUGrdRCh, Art 3 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.10.2019, Az. 2 BvR 1380/19 (REWIS RS 2019, 2754)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 2754


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 1380/19

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1380/19, 10.10.2019.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 1380/19, 04.09.2019.


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