Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2011, Az. B 9 SB 6/11 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 2627

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung der Sachaufklärungspflicht - nicht rechtskundig vertretene Klägerin - ohne hinreichende Begründung unterlassene Beweiserhebung - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 10. August 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die 1953 geborene Klägerin begehrt in der Hauptsache die Rücknahme einer bestandskräftigen Entscheidung der [X.] nach § 44 [X.] sowie die Feststellung eines [X.]rades der Behinderung ([X.]dB) von mindestens 50 und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "[X.]" rückwirkend ab 1.1.2000.

2

Auf Antrag der Klägerin stellte die Beklagte zunächst mit Bescheid vom [X.] einen [X.]dB von 30 ab 1.1.2000 fest. Im nachfolgenden Klageverfahren gab die Beklagte am 17.10.2002 ein Teilanerkenntnis ab, das die Feststellung eines [X.]dB von 40 ab 5.3.2002 beinhaltete. Dieses wurde von der Klägerin angenommen und von der [X.] mit Bescheid vom [X.] ausgeführt.

3

Ein erster, am 20.1.2003 gestellter Überprüfungsantrag nach § 44 [X.] wurde von der [X.] abgelehnt. Ein von dieser im anschließenden Klageverfahren am [X.] abgegebenes Teilanerkenntnis, ab 19.6.2003 einen [X.]dB von 50 festzustellen, führte nach Auffassung des Sozialgerichts (S[X.]) [X.] ([X.]erichtsbescheid vom 16.12.2004) und des [X.] (LS[X.]) Niedersachsen-[X.] (Urteil vom 15.7.2005) mangels Annahme durch die Klägerin nicht zur teilweisen Erledigung des Rechtsstreits, der auch im Übrigen für die Klägerin ohne Erfolg blieb.

4

Nachdem die Beklagte den weiteren Überprüfungs- und Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 19.10.2005 abgelehnt (Bescheid vom 14.12.2005 in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheides vom [X.]) und das S[X.] - ohne Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens - die dagegen erhobene Klage abgewiesen hatte ([X.]erichtsbescheid vom [X.]), hat auch das LS[X.] - ebenfalls ohne Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens - einen Anspruch der Klägerin auf Rücknahme der Entscheidungen vom [X.] und [X.] sowie auf Feststellung eines [X.]dB von mindestens 50 und der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "[X.]" rückwirkend ab 1.1.2000 verneint (Urteil vom [X.]). Weder die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 [X.] noch die des § 48 [X.] seien erfüllt. Die Rechtswidrigkeit der Entscheidung der [X.] vom [X.] sei nicht erwiesen. Es seien keine bisher nicht bekannten medizinischen Unterlagen mit Aussagen für das [X.] vorgelegt worden bzw aktenkundig geworden. Ein höherer [X.]dB als 40 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "[X.]" lägen auch nicht ab einem späteren [X.]punkt vor. Das von der [X.] abgegebene Anerkenntnis vom [X.] sei von der Klägerin nicht angenommen worden. Ihr sei es damals ausschließlich um die rückwirkende Anerkennung für das [X.] gegangen.

5

[X.]egen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des LS[X.] hat die Klägerin bei dem [X.] (BS[X.]) Beschwerde eingelegt, die sie mit dem Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]) begründet.

6

II. [X.] der Klägerin ist zulässig und begründet. Das LS[X.] hat die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 S[X.][X.] iVm § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]) verletzt.

7

Die Klägerin hat den Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]) formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 S[X.][X.]) gerügt.

8

Auch ein vor dem LS[X.] nicht rechtskundig vertretener Beteiligter - wie die Klägerin - muss im Hinblick auf § 160a Abs 2 [X.] S[X.][X.] in der Beschwerdebegründung darlegen, dass er in der Berufungsinstanz zumindest sinngemäß einen Beweisantrag gestellt hat, dem das LS[X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Aus seinem Vorbringen muss sich also ergeben, welche konkreten Punkte er am Ende des Verfahrens noch durch welche Beweismittel für aufklärungsbedürftig hält und dass das [X.]ericht entsprechende Ermittlungen anstellen soll (vgl BS[X.] Beschluss vom [X.] - B 2 U 80/03 B - Rd[X.] 4). Er muss also darlegen, dass er als unvertretener Beteiligter dem LS[X.] deutlich gemacht hat, dass er dessen Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht und in welcher Hinsicht er noch weiteren Aufklärungsbedarf sieht (vgl BS[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] U 403/05 B - Rd[X.] 5; BS[X.] Beschluss vom 9.3.2011 - B 7 [X.] 6/11 B - Rd[X.] 4). Dabei ist ausnahmsweise auch eine Bezugnahme auf bestimmte, vom [X.] leicht auffindbare Stellen in den im Berufungsverfahren vorgelegten Schriftsätzen zulässig (vgl hierzu [X.], [X.], 2. Aufl 2010, Rd[X.] 293 mwN).

9

Die Beschwerdebegründung der Klägerin genügt diesen Darlegungsanforderungen. Die Klägerin hat darin ausgeführt, sie habe in einer Vielzahl von Schriftsätzen dem LS[X.] gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass sie eine Beweiserhebung durch Einholung eines ärztlichen [X.]utachtens beantrage. Unter anderem habe sie mit Schreiben vom 8.8.2008 einen erneuten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung/Wiederaufnahme der seit 2004 unterlassenen Beweiserhebung gestellt. Des weiteren habe sie mit Schreiben vom [X.], 29.9.2008, 17.11.2008, [X.] und [X.] eine unterlassene Beweiserhebung gerügt. Zudem habe sie mit Schriftsatz vom 4.6.2009 vorgetragen, in einem weiteren Sozialgerichtsverfahren seien amtsärztliche Untersuchungen durchgeführt worden, die eine volle Erwerbsminderung aufgrund pathologischer Veränderungen des Achsenskeletts und eines erheblichen Schmerzsyndroms attestiert hätten. Außerdem habe sie mit Schreiben vom [X.] und 4.6.2009 auf erhebliche Funktionsstörungen der Wirbelsäule hingewiesen. Sie habe auch umfangreiche Befundunterlagen eingereicht. Das LS[X.] hätte sich deshalb gedrängt fühlen müssen, im Hinblick auf die widerstreitenden ärztlichen Stellungnahmen ein ärztliches [X.]utachten einzuholen. Aus diesem Vorbringen ergibt sich, dass die Klägerin während des gesamten Berufungsverfahrens eine unterlassene Beweiserhebung, insbesondere hinsichtlich der Funktionsstörungen der Wirbelsäule, gerügt hat.

Ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 S[X.][X.] iVm § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]) liegt auch vor. Das LS[X.] ist dem von der Klägerin im Berufungsverfahren wiederholt sinngemäß gestellten Beweisantrag, ihre sich aus der Wirbelsäulenerkrankung ergebenden Funktionseinschränkungen durch einen medizinischen Sachverständigen abklären zu lassen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]).

Bereits mit Schriftsatz vom [X.] ([X.] 118 f der [X.]erichtsakte) hat die Klägerin ua eine medizinische Abklärung ihrer "massiven [X.]" und "erheblichen BWS-Mehrfachschädigung" beantragt. Mit Schriftsätzen vom [X.], [X.], 4.6.2009, 17.10.2009 und [X.] ([X.] 155, 163, 167, 176, 182 der [X.]erichtsakte) hat sie ua die rückwirkende "Anerkennung" einer (durch medizinische Befundberichte mehrfach belegten und alle drei Wirbelsäulenabschnitte betreffenden) schwergradigen chronischen Wirbelsäulenerkrankung begehrt. Aus den weiteren bis zur mündlichen Verhandlung am [X.] eingegangenen Schriftsätzen der Klägerin vom 31.5.2010, [X.] und [X.] ([X.] 185, 192, 194 der [X.]erichtsakte) ergibt sich kein Anhalt dafür, dass die Klägerin ihr Sachaufklärungsbegehren nicht weiter aufrecht erhalten hat. Das LS[X.] konnte dieses Begehren nach dem objektiven Erklärungswert, insbesondere nach der recht verstandenen Interessenlage der Klägerin, nur so verstehen, dass die Klägerin hinsichtlich des medizinischen Sachverhalts, insbesondere der Wirbelsäulenerkrankung, noch einen Aufklärungsbedarf sieht, also die Sachaufklärungspflicht des LS[X.] noch nicht als erfüllt betrachtet.

Das LS[X.] ist dem Beweisantrag der Klägerin auch "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 [X.] Halbs 2 S[X.][X.]). Für die Frage, ob ein hinreichender [X.]rund für die unterlassene Beweiserhebung (Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens) vorliegt, kommt es darauf an, ob das [X.]ericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt weiter aufzuklären, ob es sich also - ausgehend von seiner materiellrechtlichen Rechtsauffassung - zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr, vgl zB BS[X.] SozR 1500 § 160 [X.] 5). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das [X.]ericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, [X.]ebrauch machen, insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BS[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] 12 Rd[X.] 10). Keiner dieser Ablehnungsgründe liegt hier vor, jedenfalls soweit es um die Abklärung des Schweregrades der Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin, also der Auswirkungen der damit verbundenen Funktionseinschränkungen auf die Teilhabe am Leben in der [X.]esellschaft (§ 69 Abs 1 Satz 4 S[X.]B IX), durch ein medizinisches Sachverständigengutachten geht.

Ausgehend von der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des LS[X.], dass sowohl gemäß § 44 [X.] die Verhältnisse am 1.1.2000 als auch gemäß § 48 [X.] die Verhältnisse in der [X.] danach daraufhin zu überprüfen sind, ob sich ein höherer [X.]dB als 40 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" feststellen lassen, hätte das LS[X.] seine negative Entscheidung nicht allein darauf stützen dürfen, dass zum einen gegenüber dem Erstfeststellungs- und dem ersten Überprüfungsverfahren keine neuen Arztbriefe oder sonstigen bisher nicht bekannten medizinischen Unterlagen mit Aussagen für das [X.] vorgelegt worden oder aktenkundig geworden seien und dass zum anderen der ärztliche Dienst der [X.] für die [X.] ab dem 1.1.2000 eine umfassende Prüfung angestellt habe. Vielmehr hätte sich das LS[X.], nachdem die Klägerin wiederholt eine unterlassene Beweiserhebung gerügt hatte, gedrängt fühlen müssen, zu den tatsächlichen medizinischen Verhältnissen im Jahre 2000 und danach, insbesondere hinsichtlich der Wirbelsäulenerkrankung, auf der [X.]rundlage einer Untersuchung der Klägerin ein [X.]utachten eines fachkompetenten, unabhängigen, medizinischen Sachverständigen einzuholen (§ 118 Abs 1 S[X.][X.] iVm §§ 402 ff ZPO), zumal auch das S[X.] von einer entsprechenden Beweiserhebung abgesehen hat.

Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen entsprechender weiterer Ermittlungen kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Hätte das LS[X.] die beantragte Beweiserhebung durchgeführt, wäre es auf der [X.]rundlage des eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens möglicherweise zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt.

Nach § 160a Abs 5 S[X.][X.] kann das BS[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LS[X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.] vorliegen. Der [X.] macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit [X.]ebrauch.

Das LS[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 6/11 B

06.10.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Bremen, 18. Juli 2008, Az: S 3 SB 164/06, Gerichtsbescheid

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 103 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2011, Az. B 9 SB 6/11 B (REWIS RS 2011, 2627)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2627

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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