Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.05.2022, Az. 4 StR 72/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2022, 8717

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Gegenstand

Relativer Revisionsgrund im Strafverfahren: Verfahrensfehlerhafte Nichtausschließung der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge; strafmildernde Wirkung eines Geständnisses im letzten Wort des Angeklagten


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 1. Oktober 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe sowie

b) im Strafausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 13 Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, und in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Übergriff, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt und von einer Maßregelanordnung abgesehen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrensbeanstandung sowie die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel führt mit der Verfahrensrüge ungesetzlich erweiterter Öffentlichkeit (§ 171b [X.]) zur Aufhebung des Strafausspruchs und mit der Sachrüge zur Aufhebung der Schuldsprüche in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 171b Abs. 3 [X.] ist begründet und führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.

3

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

In der Hauptverhandlung wurde die Öffentlichkeit gemäß § 171b Abs. 1 und Abs. 2 [X.] während der Vernehmung der geschädigten Kinder mit der Begründung ausgeschlossen, im Rahmen ihrer Vernehmung würden Tatsachen aus der „Intimsphäre der Zeugen und des Angeklagten“ zur Sprache kommen, durch deren öffentliche Erörterung die schutzwürdigen Interessen der Zeugen verletzt würden. Während der Schlussanträge und des letzten Wortes des Angeklagten war die Öffentlichkeit hergestellt.

5

b) Diese Verfahrensweise verstieß gegen § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.]. Nach dieser Vorschrift ist die Öffentlichkeit zwingend für die Schlussanträge, zu denen auch das letzte Wort des Angeklagten zählt (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Juni 2020 – 1 StR 86/20, NStZ-RR 2021, 84, 85; Beschluss vom 7. Dezember 2016 ‒ 1 StR 487/16, [X.], 369, 370), auszuschließen, wenn die Verhandlung unter den Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 oder Abs. 2 [X.] ganz oder zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat ([X.], Beschluss vom 27. November 2019 – 5 StR 530/19 Rn. 4; Beschluss vom 9. Mai 2019 – 4 [X.], [X.]St 64, 64 Rn. 8; Beschluss vom 28. September 2017 ‒ 4 StR 240/17, [X.]St 63, 23 Rn. 12; Beschluss vom 26. Oktober 2016 – 5 StR 396/16 Rn. 5).

6

c) Der Senat vermag ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem Rechtsfehler ungesetzlich erweiterter Öffentlichkeit nicht auszuschließen (§ 337 Abs. 1 StPO). Auch unter Berücksichtigung der dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden der Strafkammer, der Angeklagte habe die ihm wiederholt aufgezeigte Möglichkeit, durch ein Geständnis Strafmilderung zu erlangen, ungenutzt verstreichen lassen, erscheint es möglich, dass der zu den verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfen schweigende Angeklagte sich, wie von der Revision vorgetragen, in seinem letzten Wort geäußert hätte, wenn ihm dieses unter Ausschluss der Öffentlichkeit erteilt worden wäre, und dies die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätte.

7

Zwar hat der [X.] in seiner Antragsschrift darauf hingewiesen, dass das Tatgericht von Rechts wegen nicht gehindert wäre, einem Geständnis des Angeklagten ‒ ausnahmsweise ‒ strafmilderndes Gewicht mit der Begründung abzusprechen, es beruhe nicht auf Unrechtseinsicht und Reue, sondern auf „erdrückenden Beweisen“ oder sei rein prozesstaktisch motiviert (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Januar 2014 ‒ 4 StR 502/13, [X.], 180; Urteil vom 28. August 1997 – 4 [X.], [X.]St 43, 195, 209; Beschluss vom 3. Dezember 1998 – 4 [X.], [X.], 195, 196; siehe auch [X.], Urteil vom 3. Juli 2019 ‒ 2 StR 589/18 Rn. 15). Regelmäßig ist ein Geständnis aber als ein bestimmender Strafmilderungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO anzusehen (vgl. [X.], Urteil vom 2. Februar 2017 ‒ 4 StR 481/16, [X.], 105, 106; Urteil vom 28. August 1997 ‒ 4 [X.], [X.]St 43, 195, 210). Dies gilt auch in Fällen, in denen prozesstaktische Überlegungen mitbestimmend waren (vgl. [X.], Urteil vom 12. Dezember 2013 ‒ 5 StR 444/13, [X.], 169; Beschluss vom 9. Oktober 2013 ‒ 4 StR 414/13, [X.], 10; Beschluss vom 8. Mai 2007 ‒ 1 StR 193/07; Urteil vom 17. Juli 1996 ‒ 5 [X.], [X.]St 42, 191, 195; siehe [X.]/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 679 f.). Die Würdigung und Bewertung des Geständnisses sowie die Bestimmung seines strafmildernden Gewichts ist dem Tatgericht vorbehalten, das bei seiner Überzeugungsbildung den Zweifelssatz zu beachten hat (vgl. [X.], Beschluss vom 3. Dezember 1998 ‒ 4 [X.], [X.], 195, 196). Es wäre rechtlich bedenklich, allein aus dem Zeitpunkt der Äußerung des sich zuvor schweigend verteidigenden Angeklagten im Rahmen des letzten Wortes auf eine rein prozesstaktische Motivation zu schließen (vgl. [X.], Beschluss vom 23. März 2021 ‒ 3 StR 68/21, [X.], 477, 478). Ein Beruhenszusammenhang kann daher nicht mit der Begründung verneint werden, ein etwa abgelegtes Geständnis hätte auf die Strafzumessung keinen Einfluss genommen, weil es nicht von Schuldgefühl und Reue, sondern von auf Eigennutz beruhenden prozesstaktischen Überlegungen getragen gewesen wäre. Schließlich vermag der Senat auch jenseits der Frage, ob der Angeklagte bei Gewährung des letzten Wortes unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Geständnis abgelegt hätte, ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem Rechtsfehler nicht gänzlich auszuschließen.

8

2. [X.] in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe hält einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand.

9

a) Nach den insoweit getroffenen Feststellungen griff der Angeklagte jeweils von hinten mit beiden Armen um den zur Tatzeit höchstens zehnjährigen Geschädigten, der sich in der Wohnung des Angeklagten aufhielt und auf einem Stuhl sitzend in ein Computerspiel vertieft war, herum und „legte beide Hände oberhalb der Hose auf den Genitalbereich des Zeugen“.

b) Diese Feststellungen lassen keine abschließende Bewertung zu, ob das [X.] die Berührungen des Genitalbereichs des Kindes oberhalb der Bekleidung rechtsfehlerfrei als sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 [X.] gewertet hat.

aa) Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 [X.] sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 29. Januar 2019 ‒ 2 StR 490/18, [X.], 550; Beschluss vom 16. Mai 2017 ‒ 3 [X.], [X.], 527; Urteil vom 10. März 2016 – 3 [X.], [X.]St 61, 173 Rn. 8; Urteil vom 1. Dezember 2011 – 5 [X.], [X.], 269, 270; Urteil vom 24. September 1980 – 3 [X.], [X.]St 29, 336, 338). Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es regelmäßig einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. [X.], Urteil vom 10. März 2016 – 3 [X.], [X.]St 61, 173 Rn. 8; Urteil vom 3. April 1991 – 2 StR 582/90, [X.]R [X.] § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 4; [X.], [X.], 69. Aufl., § 184h Rn. 5; [X.], [X.], 2. Aufl., § 184h Rn. 20; [X.]/[X.]/Heger [X.], 29. Aufl., § 184h Rn. 5; vgl. [X.]/[X.], 5. Aufl., § 184h Rn. 8; MüKo-[X.]/[X.], 4. Aufl., § 184h Rn. 10; [X.]/[X.]/Roggenbuck, 12. Aufl., § 184g Rn. 10 mwN; [X.] in [X.]-[X.], [X.], 30. Aufl., § 184h Rn. 14). Für die Bewertung einer sexuellen Handlung als erheblich in diesem Sinne sind in erster Linie Art, Intensität sowie Dauer der sexualbezogenen Handlung von Bedeutung; weitere Umstände wie der konkrete Handlungsrahmen oder das Verhältnis zwischen Täter und Opfer können Bedeutung gewinnen, wenn sie das Gewicht des Übergriffs erhöhen (vgl. [X.], Beschluss vom 16. Mai 2017 – 3 [X.] Rn. 6 mwN aus der Rechtsprechung).

Bei Tatbeständen, die ‒ wie § 176 Abs. 1 [X.] ‒ dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit der sexuellen Handlung zwar geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener (vgl. [X.], Beschluss vom 21. September 2016 – 2 [X.], [X.], 528, 529; Beschluss vom 14. August 2007 – 1 [X.], [X.], 700; Beschluss vom 13. Juli 1983 – 3 [X.], [X.], 553; kritisch MüKo-[X.]/[X.], 4. Aufl., § 184h Rn. 25). Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen für das geschützte Rechtsgut unbedeutende Berührungen genügen jedoch auch im Anwendungsbereich der §§ 174 ff. [X.] grundsätzlich nicht (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 16. Mai 2017 – 3 [X.], [X.], 527, 528; Urteil vom 26. April 2017 – 2 StR 574/16, [X.], 277, 278; Urteil vom 21. September 2016 – 2 [X.], [X.], 43, 44; Beschluss vom 10. September 1998 – 1 [X.], [X.], 45).

bb) Gemessen hieran stellt das Berühren des Geschlechtsteils eines Kindes über der Bekleidung nicht ohne Weiteres eine erhebliche sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Abs. 1 [X.] dar (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Mai 2020 ‒ 2 StR 543/19, [X.], 307; Beschluss vom 16. Mai 2017 – 3 [X.], [X.], 527; Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 [X.], [X.], 240, 241; vgl. auch [X.], Beschluss vom 16. Dezember 1983 – 3 [X.] Rn. 4; a.A. [X.], [X.], 2. Aufl., § 184h Rn. 22; [X.], [X.], [X.], 94: „Berühren der unbekleideten oder bekleideten Geschlechtsteile […] zweifellos von einiger Erheblichkeit“). Der flüchtige Griff an die Genitalien eines Kindes über der Bekleidung ist daher ‒ anders als der feste Griff (vgl. [X.], Urteil vom 22. August 2017 – 1 [X.], [X.], 156; Urteil vom 6. Mai 1992 ‒ 2 StR 490/91, [X.], 432), das Streicheln oder längere Betasten (vgl. [X.], Urteil vom 27. Februar 1992 ‒ 4 StR 23/92, [X.]St 38, 212, 213) oder der Griff an das unbekleidete Geschlechtsteil (vgl. [X.], Urteil vom 15. Oktober 1987 – 4 [X.], [X.]St 35, 76, 78) ‒ nicht stets als erhebliche sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 [X.] anzusehen (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Mai 2020 ‒ 2 StR 543/19, [X.], 307, 308 mwN; [X.]/[X.] [X.]/[X.], aaO, § 184h Rn. 15b). In Grenzfällen bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller für das gefährdete Rechtsgut wesentlichen Umstände, die insbesondere Art, Dauer und Intensität der Berührungen, die Bekleidung des Kindes und den Handlungsrahmen in den Blick nimmt (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Mai 2020 ‒ 2 StR 543/19, [X.], 307; Urteil vom 20. März 2012 – 1 StR 447/11).

cc) An der erforderlichen Gesamtbetrachtung fehlt es. Das [X.] hat das Berühren des „Genitalbereichs“ über der Bekleidung ohne nähere Begründung als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 [X.] gewertet. Feststellungen zur Dauer oder Intensität der sexuellen Handlungen sind den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen. Einen festen Griff des Angeklagten an den Penis des geschädigten Kindes hat das [X.] ‒ trotz der im Rahmen der Beweiswürdigung wiedergegebenen Aussage des Kindes, das „Anpacken“ durch den Angeklagten nicht gemocht zu haben ‒ nicht festgestellt. An der sonach erforderlichen Gesamtwürdigung aller Umstände fehlt es.

3. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Demgegenüber hält die [X.] von Maßregeln der Besserung und Sicherung rechtlicher Überprüfung stand. Sie ist von der [X.] nicht betroffen und erwächst daher in [X.] (vgl. [X.], Urteil vom 19. Januar 2017 ‒ 4 [X.], [X.], 187).

[X.]     

      

Bartel     

      

Rommel

      

Scheuß     

      

Weinland     

      

Meta

4 StR 72/22

24.05.2022

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hagen (Westfalen), 1. Oktober 2021, Az: 41 KLs 2/21

§ 46 StGB, § 267 Abs 3 S 1 StPO, § 337 Abs 1 StPO, § 171b Abs 1 GVG, § 171b Abs 2 GVG, § 171b Abs 3 S 2 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.05.2022, Az. 4 StR 72/22 (REWIS RS 2022, 8717)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8717

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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