Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.05.2020, Az. X ZR 10/19

10. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1085

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Gegenstand

Einheitlicher Gerichtsstand für Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung


Leitsatz

1. Eine Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 5 Brüssel-Ia-VO ergibt sich nicht schon daraus, dass eine Niederlassung ein vorgerichtliches Anspruchsschreiben des späteren Klägers entgegennimmt und zuständigkeitshalber an eine Organisationseinheit an einem anderen Ort weiterleitet.

2. Art. 7 Nr. 1 Buchst. b Brüssel-Ia-VO begründet einen einheitlichen Gerichtsstand für sämtliche Klagen aus dem Dienstleistungsvertrag. Bei einem Vertrag, der einen Hinflug zu einem bestimmten Endziel und einen Rückflug zu einem vom ersten Abflugort verschiedenen Ankunftsort vorsieht, ist deshalb an allen drei Orten der Gerichtsstand des Erfüllungsorts für alle nach dem Vertrag geschuldeten Leistungen begründet.

Tenor

Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil der 24. Zivilkammer des [X.] vom 7. Januar 2019 und das Urteil das [X.] vom 15. Februar 2018 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsmittelinstanzen - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

[X.] des [X.] buchte über ein Reiseunternehmen bei der Beklagten für sich, seine Lebensgefährtin und den Kläger Flüge von [X.] über [X.] nach [X.] und von [X.] über [X.] nach [X.].

2

Der Flug von [X.] nach [X.] fand statt. Der Weiterflug nach [X.] konnte nicht wie vorgesehen starten. Der Kläger und seine Begleiter entschieden sich für eine Umbuchung auf einen Flug nach [X.] am Main am nächsten Tag.

3

Der Kläger begehrt aus eigenem und abgetretenem Recht für alle drei Reisende Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 [X.], Schadensersatz und Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

4

Das Amtsgericht hat die Klage wegen fehlender internationaler und örtlicher Zuständigkeit abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Beklagte ist im Revisionsverfahren nicht durch einen beim [X.] zugelassenen Anwalt vertreten.

Entscheidungsgründe

5

Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

6

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

7

Die internationale Zuständigkeit des Amtsgerichts ergebe sich nicht aus der Verordnung Brüssel Ia.

8

Die Voraussetzungen von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a und b Gedankenstrich 2 [X.] seien nicht gegeben, da Hin- und Rückflug getrennt betrachtet werden müssten und [X.] weder [X.] noch Ankunftsort des Rückfluges gewesen sei.

9

Die internationale Zuständigkeit folge auch nicht aus Art. 7 Nr. 5 [X.], weil es an der Betriebsbezogenheit der Streitigkeit fehle. Die Niederlassung der [X.] in [X.] sei weder an der Anbahnung noch an der Durchführung des [X.] beteiligt gewesen. Eine Betriebsbezogenheit sei auch nicht dadurch entstanden, dass sich diese Niederlassung der Geltendmachung der Ansprüche durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin angenommen habe. Denn dessen Schreiben sei nicht von dieser, sondern von einer anderen Abteilung der [X.] in [X.] beantwortet worden.

II. Da die Beklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, ist durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Inhaltlich beruht das Urteil auf einer Sachprüfung (vgl. [X.], Urteil vom 4. April 1962 - [X.], [X.]Z 37, 79, 81).

III. [X.] hält der rechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.

1. Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, dass der Gerichtsstand der Niederlassung nicht gegeben ist.

a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] setzt die Zuständigkeit nach Art. 7 Abs. 5 [X.] zweierlei voraus:

Eine Zweigniederlassung im Sinne dieser Vorschrift erfordert einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervortritt. Dieser Mittelpunkt muss eine Geschäftsführung haben und sachlich so ausgestattet sein, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Stammhaus zu wenden brauchen.

Eine Streitigkeit aus dem Betrieb einer solchen Zweigniederlassung liegt vor, wenn sie Handlungen betrifft, die sich auf den Betrieb der Zweigniederlassung beziehen, oder Verpflichtungen, die diese im Namen des Stammhauses eingegangen ist, wenn die Verpflichtungen in dem Staat zu erfüllen sind, in dem sich die Zweigniederlassung befindet ([X.], Urteil vom 19. Juli 2012 - [X.]/11, [X.], 935 Rn. 48 - Mahamdia; Urteil vom 5. Juli 2018 - [X.]/17, [X.] 2018, 357 Rn. 59 - [X.]; Urteil vom 11. April 2019 - [X.]/18, [X.], 164 Rn. 33 - [X.] DAC).

b) Im Streitfall fehlt es jedenfalls an der zweiten Voraussetzung.

Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts war die Zweigniederlassung der [X.] in [X.] an Anbahnung, Abschluss und Durchführung des [X.] nicht beteiligt.

Eine relevante Beteiligung ergibt sich im Streitfall auch nicht aus einer Mitwirkung an der Korrespondenz mit dem Kläger im Zusammenhang mit der Geltendmachung der Klageansprüche.

aa) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Mitwirkung bei der Regulierung eines geltend gemachten Anspruchs zur Bejahung der Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 5 [X.] führen kann. Die bloße Entgegennahme und Weiterleitung eines Schreibens an eine zuständige Niederlassung an einem anderen Ort reichen hierfür jedenfalls nicht aus.

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Zweigniederlassung der [X.] in [X.] ein Forderungsschreiben des späteren Prozessbevollmächtigten des [X.] lediglich entgegengenommen; beantwortet hat dieses Schreiben eine in [X.] ansässige Abteilung. Damit hat die Niederlassung in [X.] nicht in relevanter Weise an der Bearbeitung der Angelegenheit mitgewirkt.

bb) Aus dem von der Revision aufgezeigten weiteren Vortrag des [X.] ergibt sich keine abweichende Beurteilung.

Der Kläger hat geltend gemacht, die Beklagte habe ihn darauf verwiesen, seine Ansprüche in der [X.] geltend zu machen. Ob eine solche Mitteilung zu einem Gerichtsstand am Sitz der für die Bearbeitung zuständigen Stelle führen kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Im Streitfall lässt sich dem Vorbringen des [X.] jedenfalls nicht entnehmen, dass die von der [X.] benannte Stelle ihren Sitz in [X.] hat.

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist das Amtsgericht indes unter dem Gesichtspunkt des Erfüllungsorts international zuständig.

a) Nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. a [X.] können Ansprüche aus einem Vertrag an dem Ort geltend gemacht werden, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre. Nach Buchst. b Gedankenstrich 2 dieser Regelung ist der Erfüllungsort einer Verpflichtung zur Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem die Leistungen nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen.

Ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 [X.] ist ein Anspruch aus einem Vertrag über eine Dienstleistung im Sinne dieser Vorschriften ([X.], Urteil vom 7. März 2018 - [X.]4/16 u.a., [X.] 2018, 173 Rn. 64 - flightright; [X.], Urteil vom 25. September 2018 - [X.], NJW-RR 2018, 1448 Rn. 8).

b) Im Streitfall ist [X.] als Erfüllungsort für alle Ansprüche aus dem Vertrag anzusehen, weil an diesem Ort der Hinflug begonnen hat.

aa) Art. 7 Nr. 1 Buchst. b [X.] begründet einen einheitlichen Gerichtsstand für sämtliche Klagen aus dem Dienstleistungsvertrag.

Grundsätzlich soll nur ein Gericht für alle Klagen aus dem Vertrag zuständig sein ([X.], Urteil vom 9. Juli 2009 - [X.]/08, [X.] 2009, 234 Rn. 34 - [X.]; [X.], Urteil vom 2. März 2006 - [X.], [X.], 1806 Rn. 14 ff.).

Maßgeblich ist grundsätzlich der Ort, an dem die engste Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem zuständigen Gericht besteht. Gibt es mehrere Orte, die eine gleich enge Verknüpfung aufweisen, so stehen dem Kläger alle diese Orte zur Auswahl ([X.], Urteil vom 9. Juli 2009 - [X.]/08, [X.] 2009, 234 Rn. 35 - [X.]). Bei einem Vertrag über eine Luftbeförderung gehören zu diesen Orten jedenfalls der [X.] und der Ankunftsort ([X.], Urteil vom 9. Juli 2009 - [X.]/08, [X.] 2009, 234 Rn. 41 - [X.]). Dies gilt bei Flügen, die mehrere Teilstrecken umfassen, jedenfalls für den [X.] der ersten und den Ankunftsort der letzten Teilstrecke, und zwar selbst dann, wenn die Beförderung auf den einzelnen Teilstrecken von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird ([X.], Urteil vom 7. März 2018 - [X.]4/16 u.a., [X.] 2018, 173 Rn. 71 ff. - flightright).

bb) Im Streitfall hat sich die Beklagte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts (Berufungsurteil S. 4 unten und Blatt 43 ff. der Akten) in dem Vertrag, auf den die Klage gestützt ist, sowohl zur Beförderung von [X.] nach [X.] als auch zur Beförderung von [X.] nach [X.] verpflichtet.

Nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] sind deshalb alle drei Orte als Erfüllungsort anzusehen, und zwar für alle aus dem Vertrag abgeleiteten Ansprüche.

Dem steht nicht entgegen, dass ein Flug im Sinne der Fluggastrechteverordnung grundsätzlich nur die Teilstrecken zwischen dem Ort des ersten Abflugs und dem Endziel umfasst (zu letzterem [X.], Urteil vom 26. Februar 2013 - [X.]/11, [X.] 2013, 78 Rn. 34 f. - [X.]; Urteil vom 7. September 2017 - [X.]/16, [X.] 2017, 229 Rn. 24 ff. - [X.]; Urteil vom 31. Mai 2018 - [X.]/17, [X.] 2018, 179 Rn. 18 - [X.]). Dieser Grundsatz hat zwar zur Folge, dass die Frage, ob ein Ausgleichsanspruch besteht, für Hin- und Rückflug gesondert zu beurteilen ist. Entsprechendes dürfte auch dann gelten, wenn der [X.] der ersten und der Ankunftsort der letzten vom Vertrag umfassten Teilstrecke nicht identisch sind, aufgrund eines Richtungswechsels oder sonstiger Umstände aber dennoch erkennbar ist, dass der Ankunftsort der letzten Teilstrecke nicht das Endziel im Sinne der Fluggastrechteverordnung ist. Im Zusammenhang mit Art. 7 Nr. 1 Buchst. b [X.] kommt dem aber keine Bedeutung zu, weil diese Vorschrift einen einheitlichen Erfüllungsort für alle vertraglichen Pflichten vorsieht.

IV. Nach allem ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

Der Senat verweist die Sache gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO an das Amtsgericht zurück, weil dieses bislang nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden hat und es angemessen erscheint, dass auch die Begründetheit zunächst in erster Instanz beurteilt wird. Den gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderlichen Verweisungsantrag hat der Kläger ausweislich des angefochtenen Urteils gestellt.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen dieses Versäumnisurteil steht der säumigen Partei der Einspruch zu. Dieser ist beim [X.] in [X.] von einem an diesem Gericht zugelassenen Rechtsanwalt binnen einer Notfrist von zwei Wochen ab der Zustellung des Versäumnisurteils durch Einreichung einer Einspruchsschrift einzulegen.

[X.]     

      

Grabinski     

      

Hoffmann

      

Deichfuß     

      

Marx     

      

Meta

X ZR 10/19

12.05.2020

Bundesgerichtshof 10. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Frankfurt, 7. Januar 2019, Az: 2-24 S 85/18

Art 7 Nr 1 Buchst a EUV 1215/2012, Art 7 Nr 1 Buchst b Ss 2 EUV 1215/2012, Art 7 Nr 5 EUV 1215/2012, Art 7 Abs 1 S 1 EGV 201/2004, Art 7 Abs 1 S 1 EGV 261/2004

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.05.2020, Az. X ZR 10/19 (REWIS RS 2020, 1085)

Papier­fundstellen: MDR 2020, 1048-1049 REWIS RS 2020, 1085

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

102 AR 51/21

9 U 184/20

Zitiert

X ZR 76/16

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