Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 02.09.2010, Az. 1 B 18/10

1. Senat | REWIS RS 2010, 3647

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Gegenstand

Anspruch eines deutschen Kindes auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an seinen ausländischen Vater; in der Vergangenheit liegender Zeitraum; fehlendes Rechtsschutzbedürfnis


Leitsatz

1. Es bleibt offen, ob ein in Deutschland ansässiges deutsches Kind einen eigenen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an seinen sorgeberechtigten ausländischen Vater hat.

2. Selbst wenn das Kind einen solchen Anspruch hätte, würde dieser mit Erfüllung des gleichgerichteten Anspruchs seines Vaters erlöschen. Mit der Titulierung des Anspruchs des Vaters entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Geltendmachung des - hier unterstellten - Anspruchs des Kindes.

3. Für eine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen Familienangehörigen für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum fehlt ebenfalls das Rechtsschutzbedürfnis. Nach Art. 6 GG schützenswert ist allenfalls das Interesse an der Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft, nicht aber das Interesse an der Verfestigung des Aufenthalts eines Familienangehörigen durch rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

Gründe

I.

1

Der Kläger zu 1, ein nach erfolglos gebliebenem Asylverfahren geduldeter [X.] Staatsangehöriger, und dessen minderjähriger [X.] [X.] Staatsangehörigkeit, der Kläger zu 2, begehren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger zu 1 zur Ausübung der Personensorge. Die elterliche Sorge für den Kläger zu 2 wurde den Eltern hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitsfürsorge und der Vertretung für die [X.]eantragung öffentlicher Hilfen entzogen. Der Kläger zu 2 lebt auf Dauer in einer Pflegefamilie und wird von seinem Vater zweimal monatlich unter Aufsicht besucht. Das Verwaltungsgericht hat die Klagen abgewiesen. Auf die [X.]erufung des [X.] zu 1 hat das [X.]erufungsgericht die [X.]eklagte verpflichtet, dem Kläger zu 1 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 [X.] zu erteilen; hinsichtlich der begehrten rückwirkenden Erteilung hat es die [X.]erufung zurückgewiesen. Die [X.]erufung des [X.] zu 2 hat der [X.]hof wegen fehlender Klagebefugnis vollumfänglich zurückgewiesen. Gegen das Urteil haben beide Kläger Nichtzulassungsbeschwerde erhoben.

II.

2

Die [X.]eschwerden, mit denen ein Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und die grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr.1 VwGO) geltend gemacht wird, bleiben ohne Erfolg.

3

1. Soweit die [X.]erufung des [X.] zu 1 mit dem gestaffelten [X.]egehren rückwirkender Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ohne Erfolg geblieben ist, rügt er mit seiner [X.]eschwerde einen Verstoß des [X.]erufungsgerichts gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO als Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dazu ist ausgeführt, bereits den Feststellungen des [X.] lasse sich entnehmen, dass zum [X.]punkt der mündlichen Verhandlung am 9. Juli 2008 eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Klägern bestanden habe. Die Umgangskontakte seien in der gleichen Art und Intensität fortgeführt worden. Daher widerspreche es den [X.], unter unveränderten Umständen im [X.]punkt der [X.]erufungsentscheidung das [X.]estehen einer Lebensgemeinschaft zu bejahen, zum [X.]punkt der erstinstanzlichen Entscheidung jedoch zu verneinen. Diese Rüge greift nicht durch.

4

Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] sind die Grundsätze der [X.]eweiswürdigung revisionsrechtlich grundsätzlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. nur [X.]eschlüsse vom 12. Januar 1995 - [X.]VerwG 4 [X.] - [X.] 406.12 § 22 [X.] Nr. 4 S. 4 = NVwZ-RR 1995, 310; vom 2. November 1995 - [X.]VerwG 9 [X.] - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f. = NVwZ-RR 1996, 359 und vom 14. Juli 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 7.10 - juris Rn. 4 ff., jeweils m.w.[X.]). Ausnahmsweise kann aber ein Verfahrensfehler u.a. dann gegeben sein, wenn die [X.]eweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet ([X.]eschlüsse vom 25. Juni 2004 - [X.]VerwG 1 [X.] 249.03 - [X.] 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 284 und vom 16. Juni 2003 - [X.]VerwG 7 [X.] 106.02 - [X.] 303 § 279 ZPO Nr. 1 = NVwZ 2003, 1132 <1135>, jeweils m.w.[X.]). So kann z.[X.]. ein Verstoß gegen die Denkgesetze als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden, wenn er nicht die Anwendung des materiellen Rechts betrifft, sondern - dieser gleichsam vorgelagert - sich ausschließlich auf die tatsächliche Würdigung beschränkt und damit dem [X.] zuzuordnen ist ([X.]eschluss vom 3. April 1996 - [X.]VerwG 4 [X.] 253.95 - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 269; Urteil vom 19. Januar 1990 - [X.]VerwG 4 C 28.89 - [X.]VerwGE 84, 271 <272 ff.>). Eine darauf abzielende Verfahrensrüge greift aber nur durch, wenn das Gericht einen Schluss gezogen hat, der schlechterdings nicht gezogen werden kann. Ein Tatsachengericht hat nicht schon dann gegen Denkgesetze verstoßen, wenn es nach Meinung des [X.]eschwerdeführers unrichtige oder fernliegende Schlüsse gezogen hat; ebenso wenig genügen objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolgerungen. Es muss sich vielmehr um einen aus Gründen der Logik schlechthin unmöglichen Schluss handeln ([X.]eschlüsse vom 8. Juli 1988 - [X.]VerwG 4 [X.] 100.88 - [X.] 310 § 96 VwGO Nr. 34 und vom 19. August 1997 - [X.]VerwG 7 [X.] 261.97 - [X.] 310 § 133 VwGO Nr. 26). Das ist vorliegend nicht der Fall.

5

Ob und ab wann eine für die [X.]egründung eines Aufenthaltsrechts nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 27 Abs. 1 [X.] ausreichende familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem ausländischen Elternteil und seinem [X.] Kind besteht, obliegt in erster Linie tatrichterlicher Würdigung. Das [X.]erufungsgericht hat seine Annahme, bis zum Eingang der Stellungnahme der Sozialarbeiterin [X.] vom 10. Februar 2010 seien u.a. wegen Unterbrechungen der [X.]esuchskontakte die Anspruchsvoraussetzungen der genannten Vorschriften nicht erfüllt gewesen, ausführlich begründet ([X.] ff.). Es hat darauf abgestellt, dass erst in neuester [X.] eine dem Kindeswohl förderliche gefestigte [X.]eziehung zwischen den Klägern vorliegt, die ein Aufenthaltsrecht gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 27 Abs. 1 [X.] zu begründen vermag. Die Annahme einer erst im Laufe der [X.] eingetretenen Verfestigung der Vater-Kind-[X.]eziehung erscheint angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nachvollziehbar. Demgegenüber verschließt sich die [X.]eschwerde mit dem Vorbringen, Intensität und Häufigkeit der [X.]esuche hätten sich nicht verändert, dem die Qualität der [X.]eziehung zwischen Vater und [X.] bewertenden Ansatz des [X.]erufungsgerichts. Eine denkgesetzlich unmögliche, logisch fehlerhafte Schlussfolgerung des [X.]erufungsgerichts ist insoweit nicht erkennbar.

6

2. Der Kläger zu 2 wirft mit seiner [X.]eschwerde im Hinblick auf das ihm gegenüber ergangene Prozessurteil die Grundsatzfrage auf,

"ob ([X.]) Familienangehörige der Kernfamilie, insbes. das [X.] minderjährige Kind eines ausreisepflichtigen Ausländers, selbst im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind und worauf sich ggf. ihr Klageziel richten darf, insbes. ob sich deren Klagebefugnis auf eine Verpflichtungsklage bezieht oder ihnen nur die Möglichkeit einer Anfechtungsklage verbleibt."

7

Die damit angesprochene, über die Klagebefugnis hinausreichende Frage, ob ein in [X.] ansässiger Ehepartner bzw. Familienangehöriger aus dem persönlichen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG einen eigenen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen an seinen Ehepartner bzw. nahen Familienangehörigen besitzt, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet (bejahend: OVG [X.]erlin, Urteil vom 16. Dezember 2003 - 8 [X.] 26.02 - juris Rn. 20 ff.; verneinend: [X.], Urteil vom 10. Dezember 1986 - 11 S 644/86 - NVwZ 1987, 920). Dennoch ist die Revision nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, da die aufgeworfene Frage - soweit sie klärungsbedürftig erscheint - in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig ist.

8

a) Im Hinblick auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Zukunft ist die Grundsatzfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Denn mit Zurückweisung der [X.]eschwerde des [X.] zu 1 erwächst das stattgebende [X.]erufungsurteil in Rechtskraft (§ 133 Abs. 5 Satz 3 VwGO) und ist dessen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 [X.] tituliert. Damit hat sich das auf das gleiche Ziel gerichtete Klagebegehren des [X.] zu 2 in dem vom [X.]erufungsgericht zugesprochenen Umfang (Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ohne Rückwirkung) erledigt. Insoweit ist das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage des [X.] zu 2 - unabhängig von der positiven oder negativen [X.]eantwortung der Grundsatzfrage - entfallen. Denn selbst wenn man dem Kläger zu 2 als Kind [X.] Staatsangehörigkeit aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 27 Abs. 1 [X.] und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ein eigenes subjektives Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels an seinen Vater zubilligen wollte, stünden die Ansprüche von Vater und [X.] zueinander in einem Abhängigkeitsverhältnis gleichsam den Forderungen von [X.]: Wird der Anspruch eines [X.] erfüllt, erlischt auch der - hier unterstellte - Anspruch des anderen [X.]. Konsequenterweise entfällt durch die Titulierung des Anspruchs eines [X.] das Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Geltendmachung eines gleichgerichteten Anspruchs durch den anderen Kläger.

9

b) Für das [X.]egehren auf rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an seinen Vater fehlt dem Kläger zu 2 ebenfalls das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn der [X.]hof insoweit der [X.]erufung des [X.] zu 1 nicht stattgegeben hat. Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden [X.]raum nach der Antragstellung nur beansprucht werden, wenn der Ausländer daran ein schutzwürdiges Interesse hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren [X.]punkt bereits erteilt worden ist oder nicht. In diesem Sinne hat der Senat ein schutzwürdiges Interesse angenommen, wenn es für seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem [X.]punkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt (vgl. Urteil vom 9. Juni 2009 - [X.]VerwG 1 C 7.08 - [X.] 402.242 § 9a [X.] Nr. 1 = NVwZ 2009, 1431 m.w.[X.]).

Ein dahingehendes schutzwürdiges Interesse des [X.] zu 2 ist aber weder dargelegt noch ersichtlich. Selbst wenn man - zu seinen Gunsten - das [X.]estehen eines aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG abgeleiteten eigenen subjektiven Rechts auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an seinen Vater unterstellt, zielt dieses prospektiv auf die Ermöglichung des Aufenthalts in [X.], um hier eine familiäre Lebensgemeinschaft herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Der Kläger zu 1 hat sich aber in der Vergangenheit im [X.]undesgebiet aufgehalten. Auf dessen Interesse an der Verfestigung und Verselbständigung seines Aufenthaltsrechts, das hinter der rückwirkenden Geltendmachung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht, kann sich der Kläger zu 2 nicht berufen. Denn seinem Interesse an der Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft mit dem Vater im [X.]undesgebiet ist durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und [X.]erücksichtigung der schutzwürdigen [X.]indungen gemäß Art. 6 GG und Art. 8 [X.] bei eventuellen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Genüge getan. Mit [X.]lick auf die begehrte rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an einen Familienangehörigen fehlt der aufgeworfenen Frage daher die Klärungsbedürftigkeit in einem Revisionsverfahren.

Meta

1 B 18/10

02.09.2010

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 26. März 2010, Az: 3 A 3261/09, Urteil

§ 27 Abs 1 AufenthG 2004, § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004, Art 8 MRK, Art 6 GG, § 42 Abs 2 VwGO, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 02.09.2010, Az. 1 B 18/10 (REWIS RS 2010, 3647)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3647

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7 K 4050/21

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