Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 06.12.2012, Az. V ZB 218/11

V. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 657

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BUNDESGERI[X.]HTSHOF

BES[X.]HLUSS

V [X.]

vom

6. Dezember 2012

in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
[X.] § 62 Abs. 1
Eine Beistandsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seiner aufenthaltsberechtigten Lebensgefährtin oder mit deren minderjährigen Kindern kann dazu führen, dass sich eine Anordnung oder eine Verlängerung der Abschiebungshaft als unverhältnismäßig darstellt.
FamFG §
26
Das Gericht hat vor dem Hintergrund der Pflicht zur Amtsermittlung zu prüfen, ob es
erforderlich ist, die Lebensgefährtin des Ausländers zu dessen Vorbringen zum Bestehen einer Beistandsgemeinschaft anzuhören oder als Zeugin zu vernehmen.

[X.], Beschluss vom 6. Dezember 2012 -
V [X.] -
LG Hannover

[X.]

-
2
-
Der V.
Zivilsenat des [X.] hat am 6. Dezember 2012
durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann
und
die
Richter
Dr. [X.],
Prof.
Dr.
Schmidt-Räntsch, [X.] und Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse der 8.
Zivilkammer des [X.] vom 23.
September 2011 und des [X.] vom 15.
September 2011 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem [X.] auferlegt.
Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000

Gründe:
I.
Der Betroffene ist ein in [X.] geborener [X.] Staatsangehöriger. Er wurde nach Begehung von Straftaten 1994 aus der Bundesrepublik [X.] ausgewiesen und in
die [X.] abgeschoben.
Spätestens im November 2010 reiste der Betroffene illegal und ohne Ausweispapiere in das [X.] ein. Er hielt sich danach im [X.] bei seiner Lebensgefährtin
auf, eine mit [X.] verheiratete Mutter von drei Kindern. Die
Lebensgefährtin
erwartete von dem Betroffenen 1
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ein Kind. Den Antrag des Betroffenen, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lehnte die Beteiligte zu 2 (Ausländerbehörde) ab
und forderte ihn auf, binnen sieben Tagen auszureisen. Danach war der Betroffene zunächst nicht auffindbar. Die Beteiligte zu 2 beantragte im März 2011 bei dem [X.] einen Haftbeschluss zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen, erließ gegen ihn im Mai 2011 eine Ausweisungsverfügung und begründete ergänzend ihren Haftantrag gegenüber dem Amtsgericht im Juni 2011. Nach dem Aufgreifen des Betroffenen am 15. Juli 2011 ordnete das [X.] auf den Antrag der Beteiligten zu 2 Haft zur Sicherung der Abschiebung für sechs Wochen an.
Nach der Inhaftierung beantragte der Betroffene unter Hinweis auf die Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin erneut erfolglos eine [X.]. Seinen Eilantrag auf Aussetzung der Abschiebung wies das [X.] zurück; die dagegen erhobene Beschwerde an das [X.] blieb ohne Erfolg.

Im Hinblick auf das damals noch schwebende Verfahren vor den [X.]en und den Umstand, dass eine Vorführung des Betroffenen bei dem [X.] Generalkonsulat erst Anfang September 2011 erfolgen konnte, ordnete das [X.] auf Antrag der Beteiligten zu 2 am 8. August 2011 die Verlängerung der Haft bis einschließlich 15. September 2011 an. Den Antrag des Betroffenen auf Feststellung der Rechtsverletzung durch die Haftverlängerung wies das [X.] zurück; diese Entscheidung ist Gegenstand des [X.] V ZB 224/11.
Auf Grund eines von dem Betroffenen aus der Haft gestellten Asyl-antrags, der nachfolgend durch das [X.] ([X.]) als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, hat die Beteiligte zu
2 einen Antrag auf eine erneute Verlängerung der Abschiebungshaft um weitere sechs Wochen gestellt, dem das Amtsgericht mit Beschluss vom 3
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15.
September 2011 stattgegeben hat. Die hiergegen eingelegte sofortige Be-schwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 23. September 2011 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbe-schwerde, mit der er -
nach seiner Abschiebung in die [X.] am 22. Novem-ber 2011 -
die Feststellung beantragt, dass ihn die Beschlüsse vom 15.
und 23. September 2011 in seinen Rechten verletzt haben.

II.
Das Beschwerdegericht meint, das Amtsgericht habe zutreffend den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 [X.] aF bejaht. Der Vollzug der Haft stelle sich auch in Bezug auf die Schwangerschaft der Lebensgefährtin und auf die [X.] Bindungen des Betroffenen nicht als unverhältnismäßig dar, da die Verwaltungsgerichte entschieden hätten, dass diese Umstände der Abschiebung nicht entgegenstünden.
III.
Das gemäß §
70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz
2 i.V.m. mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25.
Februar 2010 -
V
ZB
172/09, [X.] 210, 150, 151 Rn. 9 f.) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsmittel ist begründet.
Die Rechtsbeschwerde rügt mit Recht einen Verstoß gegen die Amts-ermittlungspflicht (§ 26 FamFG), weil das Beschwerdegericht keine eigenen Ermittlungen zur Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Abschiebungshaft angestellt hat.
1. Das Beschwerdegericht durfte sich in Bezug auf die Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Betroffenen und die behauptete Lebensgemeinschaft mit ihr und ihren Kindern nicht mit dem Hinweis begnügen, dass die Verwaltungsgerichte in diesen Umständen kein Abschiebungshindernis erkannt haben.
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a) Richtig ist zwar, dass die Verwaltungsgerichte und nicht die Haftgerichte darüber zu befinden haben, ob die Abschiebung zu Recht betrieben wird, und dass zu dieser Prüfung auch die Entscheidung der Frage gehört, ob die [X.] mit einer [X.] der Abschiebung ent-gegensteht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 3. Mai 1996 -
3 Z [X.], Rn. 7, juris). Der Haftrichter muss aber prüfen, ob die Wirkungen der Haft in einem angemessenen Verhältnis zu der beabsichtigten Abschiebung stehen (Senat, Beschlüsse 17. Juni 2010 -
V [X.], [X.] 2010, 384, 387, vom 17. Juni 2010 -
V [X.], NVwZ 2010, 1318, 1319 Rn. 26 und vom 19. Mai 2011

V
ZB 167/10, NVwZ 2011, 1216 Rn. 7). Diese
Prüfung hat das Beschwerdegericht unterlassen.
b) Sie ist notwendig, weil es an der Verhältnismäßigkeit der Haft fehlen kann, wenn zwischen dem Ausländer und seiner Lebensgefährtin eine Beistands-gemeinschaft besteht und sie oder ihre Kinder auf die Unterstützung durch den Ausländer angewiesen sind. Dass der Betroffene mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet war, schließt die Annahme einer Beistandsgemeinschaft nicht aus, da auch faktische Beziehungen zwischen Erwachsenen den Schutz des Art. 8 [X.]
genießen, wenn Elemente einer Abhängigkeit dargelegt werden, die über die üblichen gefühlsmäßigen Bindungen hinausgehen (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 -
V [X.], NVwZ 2010, 1318, 1319 Rn. 27). Besteht eine solche, einer Familie ähnliche Beistandsgemeinschaft des Ausländers zu einer [X.] Lebensgefährtin mit deren minderjährigen Kindern,
darf nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ([X.]. L 348 vom 24. Dezember 2008, [X.]

im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) [X.] nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche angemessene Dauer angeordnet werden. Diese Richtlinie, die die Bundesrepublik [X.] nicht gemäß Art. 20 Abs. 1 fristgemäß bis zum 24. Dezember 2010 umgesetzt hatte, ist hier unmittelbar zugunsten des Betroffenen anzuwenden (vgl. 10
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EuGH, Urteil vom 28. April 2011 -

[X.]-61/11 [X.], Tz. 46, 47, [X.]. [X.] 2011, Nr. [X.] 186, 8 bis 9 = [X.] 2011, 320, 322). Der (weitere) Vollzug der Haft hätte sich schließlich auch aufgrund einer möglichen Gefährdung der Gesundheit der Mutter oder des ungeborenen Kindes als unverhältnismäßig
darstellen können.
2. Dies bedeutet

entgegen der von der Rechtsbeschwerde vertretenen
Ansicht

jedoch nicht, dass vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und des Gebots zur Achtung des Privat-
und Familienlebens nach Art. 8 [X.] der Haftverlängerungsantrag in jedem Fall hätte zurückgewissen werden müssen. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich weder ein Verbot der Abschiebung noch des Vollzugs einer Siche-rungshaft. Das Beschwerdegericht hätte die Verhältnismäßigkeit der Haft bejahen dürfen, wenn es selbst zu der Überzeugung gelangt wäre, dass keine Beistands-gemeinschaft, sondern nur eine Begegnungsgemeinschaft vorlag (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 -
V [X.], Rn. 12, juris), die Lebensgefährtin des Betroffenen auf dessen Lebenshilfe -
auch in der bevorstehenden Phase der Geburt des Kindes -
nicht angewiesen war und dass keine ernsthafte Gefahren für die Gesundheit der Lebensgefährtin oder des Kindes infolge der Trennung bestanden.
3. Zu einer solchen Würdigung des Vorbringens des Betroffenen hätte das Beschwerdegericht allerdings erst nach einer Anhörung auch der Lebensgefährtin des Betroffenen kommen dürfen.
a) Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet das Gericht, im Rahmen
pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen. Zwar braucht nicht jeder nur denkbaren Möglichkeit nachgegangen zu werden. Eine Aufklärungs-
und Ermittlungspflicht besteht jedoch, soweit das Vorbringen der Beteiligten und der Sachverhalt als solcher bei sorgfältiger Prüfung hierzu Anlass geben. Die Ermittlungen sind erst dann abzuschließen, wenn von weiteren Ermittlungen ein sachdienliches, die 12
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Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist ([X.], Beschluss vom 17. Februar 2010 -
XII [X.], [X.] 2010, 128, 130 Rn. 28 mwN). Dass von einer Anhörung der Lebensgefährtin keine Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären, ist jedoch weder festgestellt noch ersichtlich.
b) Vor diesem Hintergrund hätte das Beschwerdegericht die Lebens-gefährtin anhören müssen. Dies gilt umso mehr, als diese bei dem Anhörungs-termin im Gericht anwesend war und der Betroffene die Anhörung beantragt hatte. Vor dem Hintergrund des Gebots zur Amtsermittlung hat das Gericht zu prüfen, ob eine Anhörung oder förmliche Vernehmung der Lebensgefährtin des Betroffenen als Zeugin in Betracht kommt (vgl. [X.], FamFG, 17. Aufl., § 420 Rn. 13; Prütting/Helms/Jennißen, FamFG, 2. Aufl., § 418 Rn. 5).
4. [X.] kann in der Sache selbst entscheiden. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 3 Satz 1 FamFG). Die Verletzung des [X.] auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) kann nach der Abschiebung des Betroffenen nicht mehr geheilt werden, wenn dieser sich

wie hier

zu dem Ergebnis der noch durchzuführenden weiteren Ermittlungen äußern können muss (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 -
V [X.], [X.] 2011, 315, 317 Rn. 29).
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IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, §
128c Abs. 3 Satz 2 [X.], Art. 5 [X.]. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach §
128c Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 2 [X.].

Stresemann

[X.]

Schmidt-Räntsch

[X.]zub

Kazele
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 15.09.2011 -
44 XIV (B) -

LG Hannover, Entscheidung vom 23.09.2011 -
8 [X.] -

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Meta

V ZB 218/11

06.12.2012

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 06.12.2012, Az. V ZB 218/11 (REWIS RS 2012, 657)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 657

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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7 T 38720 (Landgericht Essen)


3 T 3/16 (LG Bamberg)

Abschiebungshaft, Abschiebung, Sicherungshaft, Sicherung der Abschiebung


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V ZB 218/11

V ZB 224/11

V ZB 9/10

V ZB 127/10

XII ZB 68/09

V ZB 274/10

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