Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 19.12.2012, Az. 1 AZB 72/12

1. Senat | REWIS RS 2012, 141

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Gegenstand

(Aussetzung eines Verfahrens nach § 97 Abs. 5 S. 1 ArbGG)


Tenor

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist gewährt.

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] - Kammern [X.] - vom 20. März 2012 - 22 [X.]/11 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 8.717,92 Euro festgesetzt.

Gründe

1

A. Der Kläger war bei der Beklagten vom 8. August 2005 bis zum 31. August 2009 als Leiharbeitnehmer beschäftigt. Im Arbeitsvertrag war die Anwendung der zwischen dem [X.] ([X.]) und der [X.] geschlossenen Branchentarifverträge (Manteltarifvertrag, [X.]) in ihrer jeweils gültigen Fassung vereinbart. Mit der vorliegenden Klage macht der Kläger Differenzlohnansprüche gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG geltend.

2

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat das Berufungsverfahren durch einen am 20. März 2012 verkündeten Beschluss bis zur rechtskräftigen Entscheidung eines Beschlussverfahrens „über die Frage der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit aller der [X.] angehörenden [X.] in den streitgegenständlichen Zeiträumen“ ausgesetzt und die Rechtsbeschwerde zugelassen.

3

Dieser Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten des [X.] am 7. Mai 2012 zugegangen. Mit Schriftsatz vom 4. Juni 2012 hat er Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Rechtsbeschwerde des [X.] beantragt. Der Senat hat dem mit Beschluss vom 11. Oktober 2012, dem Prozessbevollmächtigten des [X.] am 19. Oktober 2012 zugestellt, entsprochen. Mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2012 hat der Prozessbevollmächtigte des [X.] Rechtsbeschwerde eingelegt und zugleich begründet sowie wegen Versäumung der Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

4

B. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht  78 Satz 1 ArbGG iVm. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, §§ 575, 233 ff., § 576 Abs. 3 ZPO).

5

I. Dem Kläger ist gemäß § 233 ZPO wegen Versäumung der Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

6

1. Ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, ist bis zur Entscheidung über den Antrag so lange als ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Vornahme einer die Frist wahrenden Handlung verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste ([X.] 27. November 2007 - VI ZB 81/06 - Rn. 14, [X.], 400). Für die Entscheidung, ob der [X.] Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen ist, kommt es ausschließlich darauf an, ob sie sich für bedürftig halten durfte.

7

2. Im Streitfall musste der Kläger nicht mit einer Ablehnung seines innerhalb der Frist des § 575 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO gestellten Antrags auf Prozesskostenhilfe wegen fehlender Bedürftigkeit für das Rechtsbeschwerdeverfahren rechnen, da ihm auch schon im zweiten Rechtszug durch Beschluss des [X.]s Baden-Württemberg vom 6. Oktober 2011 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten bewilligt worden ist. Der Hinderungsgrund für die Einhaltung der Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist ist frühestens mit der Zustellung des die Prozesskostenhilfe bewilligenden [X.] am 19. Oktober 2012 weggefallen. Die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Schriftsatz vom 24. Oktober 2012 sind danach in der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO gestellt worden und entsprechen der Form des § 236 ZPO.

8

II. Das [X.] hat das Berufungsverfahren zu Unrecht ausgesetzt.

9

1. Nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG auszusetzen, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Vereinigung tariffähig ist oder ob die Tarifzuständigkeit der Vereinigung gegeben ist. Über die für die Ordnung des Arbeitslebens bedeutsame Eigenschaft der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung soll in einem objektivierten Verfahren, in dem die jeweils beteiligten Personen und Stellen anzuhören sind (§ 97 Abs. 2 iVm. § 83 Abs. 3 ArbGG), einheitlich mit Wirkung gegenüber jedermann entschieden werden. Zu den formellen Voraussetzungen eines Aussetzungsbeschlusses, der die Grundlage für das nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG einzuleitende Beschlussverfahren bildet, gehört die Begründung der Entscheidungserheblichkeit der vorgenannten Eigenschaften.

2. Der angefochtene Beschluss ist schon deshalb aufzuheben, weil der Zeitpunkt nicht erkennbar wird, für den das Vorliegen der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften festgestellt werden soll. Daneben hat das [X.] weder die Entscheidungserheblichkeit der von ihm als maßgeblich angesehenen Vorfragen noch die Klärungsbedürftigkeit der Tariffähigkeit und der Tarifzuständigkeit aller in der [X.] zusammengeschlossenen [X.] ausreichend begründet.

a) Das aussetzende Gericht hat im Aussetzungsbeschluss nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG den Zeitpunkt, zu dem die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften vorliegen müssen, anzugeben. Unzureichend ist es, wenn im Tenor oder in den Gründen nur die Dauer des Arbeitsverhältnisses angegeben wird und auf die in diesem Zeitraum geltenden Tarifverträge verwiesen wird. Vielmehr ist das Abschlussdatum des für entscheidungserheblich angesehenen Tarifvertrags konkret zu bezeichnen, da sich in dem Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG die Antragsbefugnis der [X.]en des Ausgangsrechtsstreits für die Klärung der dort genannten Eigenschaften nach dem im Aussetzungsbeschluss angeführten Zeitpunkt bestimmt ([X.] 24. Juli 2012 - 1 [X.] - Rn. 6, [X.] 1979 § 97 Nr. 12).

An einer solchen Darlegung fehlt es. Der angefochtene Beschluss lässt nicht erkennen, welche Tarifverträge vom [X.] als entscheidungserheblich angesehen werden. Der Kläger war bei der [X.] vom 8. August 2005 bis zum 31. August 2009 als Leiharbeitnehmer eingesetzt. Daher hätte es Ausführungen des [X.]s dazu bedurft, welche der in seinen Beschlussgründen angeführten Vereinbarungen es für die Entscheidung über die erhobene Klage als maßgeblich ansieht.

b) Die Entscheidungserheblichkeit iSd. § 97 Abs. 5 ArbGG liegt nur vor, wenn der prozessuale Anspruch der klagenden [X.] allein von der Geltung einer bestimmten Kollektivvereinbarung als Tarifvertrag iSd. § 1 Abs. 1 TVG abhängt. Eine Aussetzung hat deshalb zu unterbleiben, wenn über den erhobenen Anspruch ohne die Klärung der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften entschieden werden kann (vgl. [X.] 28. Januar 2008 - 3 [X.] - Rn. 10, [X.] 1979 § 97 Nr. 17 = [X.] 1979 § 97 Nr. 9). Dies setzt eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des [X.]vorbringens in Bezug auf die Klageforderung ebenso voraus wie die Durchführung einer ggf. notwendigen Beweisaufnahme. Die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch darf nur noch vom Vorliegen der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit der Vereinigung abhängen. Im Aussetzungsbeschluss ist daher zu begründen, dass und in welchem Umfang die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften für den erhobenen prozessualen Anspruch von Bedeutung sind ([X.] 24. Juli 2012 - 1 [X.] - Rn. 5, [X.] 1979 § 97 Nr. 12). Hieran fehlt es. Das [X.] ist in seiner Aussetzungsentscheidung nicht darauf eingegangen, ob und ggf. in welchem Umfang der Erfolg der Klage vom Vorliegen der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften abhängt.

c) Die Aussetzung eines Verfahrens nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG darf nur erfolgen, wenn zumindest eine der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften einer Vereinigung aufgrund vernünftiger Zweifel am Vorliegen dieser Eigenschaften streitig ist, wobei im Arbeitsleben geäußerte Vorbehalte zu berücksichtigen und vom Arbeitsgericht aufzugreifen sind ([X.] 14. Dezember 2010 - 1 [X.] - Rn. 59, [X.]E 136, 302). Danach ist der Ausgangsrechtsstreit nicht schon dann auszusetzen, wenn die Tariffähigkeit oder die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung nur von einer [X.] ohne Angabe von nachvollziehbaren Gründen in Frage gestellt wird (vgl. [X.] 24. Juli 2012 - 1 [X.] - Rn. 9, [X.] 1979 § 97 Nr. 12).

Das [X.] hat nach den Beschlussgründen seine Aussetzungsentscheidung lediglich darauf gestützt, dass der Kläger die Wirksamkeit der „maßgeblichen Entgelttarifverträge“ bestritten hat. Dies ist vorliegend nicht ausreichend, weil nicht ersichtlich ist, dass an der Tariffähigkeit der Mitgliedsgewerkschaften der „[X.]“ vernünftige Zweifel bestehen. Ebenso hat das [X.] die Entscheidungserheblichkeit der Tarifzuständigkeit der an den Entgelttarifverträgen beteiligten [X.] nicht näher begründet.

        

    Schmidt    

        

    Linck   

        

    Koch    

        

        

        

        

        

        

                 

Meta

1 AZB 72/12

19.12.2012

Bundesarbeitsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AZB

vorgehend ArbG Freiburg (Breisgau), 2. August 2011, Az: 5 Ca 457/10, Urteil

§ 2 TVG, § 3 TVG, § 97 Abs 5 S 1 ArbGG, § 2a Abs 1 Nr 4 ArbGG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 19.12.2012, Az. 1 AZB 72/12 (REWIS RS 2012, 141)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 141

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