Bundessozialgericht, Urteil vom 26.01.2022, Az. B 4 AS 3/21 R

4. Senat | REWIS RS 2022, 1750

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Arbeitslosengeld II - Mehrbedarf - unabweisbarer laufender besonderer Bedarf - Unabweisbarkeit - Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums - Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen - Kosten für Besuche bei einem inhaftierten nichtehelichen Lebensgefährten - Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten


Leitsatz

Die vom zu gewährleistenden Existenzminimum umfasste Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ist nicht von vornherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 7. Juli 2020 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist die Gewährung eines [X.] für Besuche der Klägerin bei ihrem inhaftierten Lebensgefährten im Februar 2015.

2

Die Klägerin lebte im Februar 2015 allein in [X.] Sie unterhielt nach eigenen Angaben seit 1998 eine Beziehung zu [X.] (im Folgenden: Lebensgefährte). Dieser befand sich seit August 2012 in [X.]aft, zunächst in der Justizvollzugsanstalt (JVA) [X.], später in der [X.], wo die Klägerin ihn regelmäßig besuchte. Der Beklagte bewilligte der Klägerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für Dezember 2014 bis Mai 2015 ohne Berücksichtigung eines [X.] (jeweils unangefochtener Bescheid vom 11.11.2014 und Änderungsbescheid vom 1.12.2014).

3

Im Februar 2015 beantragte die Klägerin beim Beklagten Leistungen für die Fahrten zur [X.], wo sie ihren Lebensgefährten am 5. und am 19.2.2015 besucht habe. Sie machte unter Vorlage von [X.] Kosten i[X.]v 44,23 [X.] (am 5.2.2015) und von 35,55 [X.] (am 19.2.2015) geltend (insgesamt: 79,78 [X.]).

4

Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 9.3.2015). Die Klägerin sei in der Lage, die Kosten aus eigenen Kräften und Mitteln in vollem Umfang zu decken. Es lägen keine temporäre Bedarfsgemeinschaft und kein besonderer, unabweisbarer Bedarf vor. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 30.3.2015). Die Fahrtkosten stellten keinen unabweisbaren Bedarf dar; sie seien aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Es handele sich nicht um Kosten, die durch die Wahrnehmung eines Umgangsrechts entstünden; vielmehr seien sie mit den Kosten privater Besuche vergleichbar.

5

Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16.3.2017). Das L[X.] hat auf die vom [X.] zugelassene Berufung der Klägerin das Urteil des [X.] und den Bescheid des Beklagten vom 9.3.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.3.2015 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den Bescheid vom 11.11.2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1.12.2014 abzuändern und der Klägerin für Februar 2015 weitere 79,78 [X.] zu gewähren (Urteil vom 7.7.2020). Die Klägerin habe einen Anspruch auf weitere Leistungen (mindestens) in [X.]öhe der begehrten 79,78 [X.] aus § 21 Abs 6 Satz 1 [X.]B II.

6

[X.]iergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Beklagten, der eine Verletzung des § 21 Abs 6 [X.]B II rügt. Er ist der Ansicht, dass der Bedarf nicht unabweisbar gewesen sei. Die Klägerin habe in den 17 Monaten vor dem hier streitgegenständlichen Monat die Fahrtkosten für die regelmäßigen Besuche in der JVA auf andere Weise gedeckt. Die Besuche seien zudem in Begleitung des Bruders des Inhaftierten erfolgt, sodass die Möglichkeit der Bedarfsdeckung durch Zuwendungen Dritter gegeben gewesen sei. Die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten sei auch nicht mit Ehepaaren oder engen verwandtschaftlichen Beziehungen gleichzusetzen. Vor [X.]aftantritt habe keine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bestanden. Die Klägerin sei zu Besuchen in der JVA weder rechtlich noch sittlich verpflichtet; eine Kommunikation mittels Brief und Telefon sei möglich.

7

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des [X.] vom 7. Juli 2020 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts [X.]alle vom 16. März 2017 zurückzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

9

Sie verteidigt die Entscheidung des L[X.].

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des [X.] kann der [X.] nicht abschließend entscheiden, ob (und ggf in welcher Höhe) die Klägerin einen Anspruch auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Februar 2015 hat.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 9.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.3.2015 (§ 95 SGG). Da es sich bei dem hier streitigen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs 6 [X.] nach der Rechtsprechung des [X.] nicht um einen vom Regelbedarf abtrennbaren Streitgegenstand handelt ([X.] vom 12.12.2013 - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 115, 77 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 11; zuletzt [X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 11), enthält der Bescheid vom [X.] nach die Regelung, eine Änderung des Bescheids vom 11.11.2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1.12.2014 hinsichtlich der Gewährung von weiteren Leistungen für Februar 2015 abzulehnen (zur Zulässigkeit der Begrenzung des Streitgegenstandes auf einzelne Monate [X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 10; [X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 11 mwN).

2. Der [X.] kann offenlassen, ob verwaltungsverfahrensrechtliche Grundlage § 40 Abs 1 [X.] iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X oder § 40 Abs 2 [X.] iVm § 330 Abs 3 Satz 1 [X.]I, § 48 Abs 1 Satz 2 [X.] ist. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X käme zur Anwendung, wenn der Bescheid vom 1.12.2014 (vgl zur Maßgeblichkeit des Zeitpunkts des letzten Verwaltungsakts [X.] vom 8.12.2020 - [X.] [X.]/20 R - [X.]E 131, 128 = [X.]-1300 § 45 [X.], Rd[X.]) bereits bei seinem Erlass rechtswidrig gewesen wäre, weil bereits zu diesem Zeitpunkt entweder festgestanden hat, dass und in welcher Höhe der Mehrbedarf im Februar 2015 bestanden hat, oder die Voraussetzungen des § 40 Abs 2 [X.] (in der vom 1.4.2011 bis 31.7.2016 geltenden Fassung des Gesetzes vom 13.5.2011, [X.]) iVm § 328 Abs 1 Satz 1 [X.]I (heute § 41a Abs 1 Satz 1 [X.]) für eine nur vorläufige Bewilligung vorgelegen haben (vgl zur Rechtswidrigkeit eines endgültigen Bescheids auf Grundlage eines nicht vollständig aufgeklärten Sachverhalts [X.] vom [X.] [X.]/14 R - [X.]-4200 § 40 [X.] Rd[X.] 19). Wäre keine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt, wäre § 48 Abs 1 Satz 2 [X.] einschlägig. Diese Unterscheidung ist aber hier nicht entscheidungserheblich, weil es in beiden Fallkonstellationen darauf ankommt, ob die Klägerin einen Härtefallmehrbedarfsanspruch aus § 21 Abs 6 [X.] hat; dies aber kann der [X.] aufgrund fehlender Feststellungen des [X.] nicht abschließend entscheiden.

a) Die Klägerin erfüllte nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] die Anspruchsvoraussetzungen für [X.] (§ 7 Abs 1 Satz 1 [X.]), denn sie hatte die Altersgrenze des § 7a [X.] noch nicht erreicht, war erwerbsfähig, hilfebedürftig und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.]. Ein [X.] nach § 7 Abs 1 Satz 2, Abs 4 ff [X.] lag nicht vor.

b) Gemäß § 21 Abs 6 [X.] (in der hier anzuwendenden, vom 1.4.2011 bis 31.12.2020 geltenden Fassung des Gesetzes vom 13.5.2011, [X.]) wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht (Satz 1). Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2). Es handelt sich bei § 21 Abs 6 [X.] um eine Ausnahmevorschrift für atypische Bedarfslagen, mit der der Gesetzgeber die vom [X.] in seinem Urteil vom [X.] (1 BvL 1/09 - [X.]E 125, 175 = [X.]-4200 § 20 [X.] 12) erlassene [X.] kodifiziert hat (vgl zu den [X.] der Norm [X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 17). Diese Härtefallklausel dient dazu, Bedarfe zu erfassen, die aufgrund ihres individuellen Charakters bei der pauschalierenden Regelbedarfsbemessung der Art oder der Höhe nach nicht erfasst werden können (vgl [X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09 ua - [X.]E 125, 175 [252 ff] = [X.]-4200 § 20 [X.] 12 Rd[X.] 204 ff; Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses des [X.], BT-Drucks 17/1465 [X.]; zuletzt [X.] vom 26.11.2020 - [X.] AS 23/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.] 34 Rd[X.] 19; [X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 17). Allerdings hat diese Härtefallregelung nicht die Funktion, eine (vermeintlich oder tatsächlich) unzureichende Höhe des Regelbedarfs an sich auszugleichen ([X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 17 mwN).

c) Ein Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter (einschließlich der Leistungen anderer Sozialleistungsträger; vgl [X.] vom 12.12.2013 - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 115, 77 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 22; [X.] vom 20.1.2016 - [X.] A[X.]/15 R - [X.]-4200 § 21 [X.] 25 Rd[X.]) sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs 6 Satz 2 [X.]). Diese Definition ist nicht abschließend ("insbesondere"). Das Merkmal der Unabweisbarkeit betrifft sowohl den Aspekt des Bedarfs als solchen als auch die Frage der anderweitigen Bedarfsdeckung ([X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 20 mwN).

aa) Nach diesen Maßstäben ist der geltend gemachte Mehrbedarf dem Grunde nach unabweisbar, soweit er der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums dient. Das zu gewährleistende Existenzminimum umfasst auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ([X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09 ua - [X.]E 125, 175 [223] = [X.]-4200 § 20 [X.] 12 Rd[X.] 135; [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 14 ). Diese Gewährleistung ist - wie das [X.] zu Recht angenommen hat - nicht von vorneherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist (vgl [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 18). Der Umfang der zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlichen Mittel ([X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09 ua - [X.]E 125, 175 [223] = [X.]-4200 § 20 [X.] 12 Rd[X.] 135; [X.] [Kammer] vom [X.] - 1 BvR 2556/09 - [X.]K 17, 375 [376] = [X.]-4200 § 11 [X.] 33 Rd[X.]) richtet sich allein nach Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG ( [X.] [Kammer] vom [X.] - 1 BvR 2556/09 - [X.]K 17, 375 [377] = [X.]-4200 § 11 [X.] 33 Rd[X.] 10; [X.] [Kammer] vom [X.] - 1 BvR 1083/09 - juris Rd[X.] 10 - insoweit in [X.]K 20, 316 nicht abgedruckt). Andere Grundrechte - und damit auch Art 6 Abs 1 GG - vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen ([X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09 ua - [X.]E 125, 175 [227] = [X.]-4200 § 20 [X.] 12 Rd[X.] 145).

Wenn ein Mehrbedarf wegen zwischenmenschlicher Beziehungspflege geltend gemacht wird, bedarf es aufgrund des strengen Tatbestandsmerkmals der Unabweisbarkeit und der Begrenzung des Existenzminimums auf das zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt Erforderliche ([X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09 ua - [X.]E 125, 175 [223] = [X.]-4200 § 20 [X.] 12 Rd[X.] 135) aber eines besonderen Näheverhältnisses zu der von der Beziehungspflege betroffenen Person. Das [X.] hat insofern zutreffend im [X.] an Formulierungen des [X.] (vgl [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 18) eine tatsächlich gelebte Beziehung von besonderer Nähe verlangt, die durch wechselseitige Verantwortlichkeit füreinander sowie [X.] geprägt ist und deshalb für die individuelle personale Existenz herausgehobene Bedeutung hat. Diese Voraussetzung kann auch erfüllt sein, wenn keine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft iS des § 7 Abs 3 [X.] 3 Buchst c [X.] vorliegt, aber die beiden betroffenen Personen in einer ähnlich engen, exklusiven und gegenüber anderen zwischenmenschlichen Beziehungen der leistungsberechtigten Person prioritären Beziehung gelebt haben. Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, kann der [X.] anhand der Feststellungen des [X.] nicht abschließend beurteilen. In die Beurteilung, ob ein derart hinreichendes Näheverhältnis besteht, ist insbesondere auch die Situation vor Beginn der durch die Inhaftierung verursachten räumlichen Trennung einzubeziehen (vgl zur Bedeutung des "gelebten Verhältnis[ses] des Beteiligten" [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]-4200 § 21 [X.] 32 Rd[X.] 20; [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 19).

bb) Dass die Reisekosten für die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen insofern nicht zur Disposition der Klägerin und ihres Lebensgefährten standen, weil ihnen ein Zusammenleben am selben Wohnort nicht möglich war (vgl zur Bedeutung von Einsparmöglichkeiten [X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 25 ff), ist angesichts des Umstandes, dass der Lebensgefährte inhaftiert war, evident. Die Inhaftierung des Lebensgefährten stellt eine "grundsicherungsrechtlich beachtliche Trennungssituation" dar (vgl [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 17), weil die Bedarfslage insofern dem Einfluss des Besuchers und des zu Besuchenden entzogen ist (vgl [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 19). Dass der Lebensgefährte die Inhaftierung durch die Führung eines straffreien Lebens hätte vermeiden können, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang, weil es im vorliegenden Verfahren nicht um seine Rechte, sondern um subjektive Rechte der Klägerin geht. Entgegen der Auffassung des Beklagten kann die Klägerin angesichts der Dauer der Inhaftierung nicht darauf verwiesen werden, den Kontakt zu ihrem Lebensgefährten ausschließlich fernmündlich oder schriftlich aufrechtzuerhalten (vgl zur notwendigen Einzelfallbetrachtung [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 22).

cc) Für die Frage, in welchem Umfang ein Bedarf als zur Sicherung des Existenzminimums dienend angesehen werden kann, ist auf den Standard der herrschenden Lebensgewohnheiten unter Berücksichtigung einfacher Verhältnisse abzustellen (vgl [X.] vom [X.] - [X.] AS 12/13 R - [X.]-4200 § 28 [X.] 8 Rd[X.] 29 mwN), im konkreten Fall also darauf, wie oft jemand, der derartige Besuche aus eigenen, knapp bemessenen finanziellen Mitteln bestreiten müsste, diese Besuche durchführen würde. Angesichts der relativ geringen Distanz zwischen dem Wohnort der Klägerin und dem Besuchsort und der damit verbundenen relativ geringen Kosten, bestehen gegen die Auffassung des [X.], dass im konkreten Fall auch aufgrund der gesundheitlichen Situation der Klägerin zwei Besuche pro Monat noch dem von Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG umfassten Bereich des unabdingbaren Existenzminimums zugeordnet werden können, keine revisionsrechtlichen Bedenken.

dd) Der [X.] kann allerdings auch nicht abschließend entscheiden, ob der Mehrbedarf der Höhe nach insofern unabweisbar war, als die Klägerin die Höhe der Kosten nicht hätte beeinflussen können. Ein Bedarf ist dann nicht unabweisbar, wenn er nicht durch alternative Handlungen abgewendet oder vermindert werden kann ([X.] vom [X.] - [X.] AS 12/13 R - [X.]-4200 § 28 [X.] 8 Rd[X.] 29). So sind namentlich ungewollte räumliche Trennungen für den Härtefallmehrbedarf unbeachtlich, soweit der Leistungsberechtigte nicht alle ihm zumutbaren Möglichkeiten zu deren Beendigung oder Verringerung ausgeschöpft hat (vgl [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]-4200 § 21 [X.] 32 Rd[X.] 23).

Das [X.] wird daher noch prüfen müssen, ob der Bedarf der Klägerin, die für die Fahrten ihr Auto benutzt hat, über einen solchen hinaus geht, der durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel entstanden wäre (vgl [X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.]). Der Leistungsberechtigte muss - auch unter dem Gesichtspunkt der Unabweisbarkeit -, soweit zumutbar, die kostengünstigste Variante der Bedarfsdeckung wählen, bzw hat nur Anspruch auf Leistungen in dieser Höhe ([X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.]). Möglichkeiten der Kostensenkung können sich - abhängig von Haftdauer, Alter und Vollzugsart - auch ergeben durch die Verlegung des Lebensgefährten in eine wohnortnähere JVA. Ergänzend weist der [X.] darauf hin, dass im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch Feststellungen zu Mitfahrern (Fahrten mit dem Bruder) und Mitfahrgelegenheiten Hinweise auf Möglichkeiten der Kostensenkung geben können.

ee) Vom Ergebnis dieser weiteren Ermittlungen wird auch abhängen, ob der Mehrbedarf insofern unabweisbar iS von § 21 Abs 6 Satz 2 [X.] war, als er seiner Höhe nach erheblich vom durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Bei dem [X.] "erheblich" handelt es sich nach der Rechtsprechung des [X.] um einen gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Eine allgemeine Bagatellgrenze gibt es zwar nicht (dazu [X.] vom [X.] - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 116, 86 = [X.]-4200 § 21 [X.] 18, Rd[X.] 30 ff). Erheblich ist ein Bedarf aber nur dann, wenn er von einem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem wirtschaftlichen Umfang abweicht (vgl insoweit zu einer "speziellen Bagatellgrenze" [X.] vom [X.] - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 116, 86 = [X.]-4200 § 21 [X.] 18, Rd[X.] 28; vgl auch [X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 22 mwN). Der Gesetzgeber darf grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden, wenn ein im Regelbedarf nicht berücksichtigter Bedarf nur vorübergehend anfällt oder ein Bedarf deutlich kostenträchtiger ist als der statistische Durchschnittswert, der zu seiner Deckung berücksichtigt worden ist ([X.] vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 ua - [X.]E 137, 34 = [X.]-4200 § 20 [X.] 20, Rd[X.] 117; [X.] vom 12.9.2018 - [X.] AS 33/17 R - [X.]-4200 § 20 [X.] Rd[X.] 36). Ob danach ein Bedarf erheblich ist, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab.

Einschlägig ist angesichts der geltend gemachten Fahrtkosten der im Regelbedarf enthaltene Betrag für Verkehr nach Abteilung 7 ([X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 14), der im Jahr 2015 25,12 Euro betrug (zur methodischen Ermittlung dieses Betrages ausführlich [X.] vom 12.7.2012 - [X.] AS 153/11 R - [X.]E 111, 211 = [X.]-4200 § 20 [X.] 17, Rd[X.] 72 f; zur Fortschreibung Schwabe, [X.] 2015, 1, 2). Insofern wäre zwar zu erwarten, dass die Klägerin den für Verkehr im Regelbedarf enthaltenen Anteil vollständig aufwendet (vgl [X.] vom 26.1.2022 - [X.] A[X.]1/20 R), sofern sie im wiedereröffneten Berufungsverfahren nicht erhebliche sonstige Verkehrsaufwendungen geltend machen kann. Der monatlich geltend gemachte Bedarf von 79,78 Euro übersteigt diesen Betrag jedoch um 54,66 Euro. Dies entspricht einem Anteil von knapp 14 Prozent am maßgeblichen Regelbedarf von 399 Euro und ist damit erheblich iS des § 21 Abs 6 [X.]. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigen würde, dass die Klägerin darüber hinaus auch sonstige im Regelbedarf für die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen enthaltene Beträge (vgl dazu [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]-4200 § 21 [X.] 32 Rd[X.] 15; [X.] vom 28.11.2018 - [X.] [X.]/17 R - [X.]E 127, 78 = [X.]-4200 § 21 [X.] 30, Rd[X.] 14) teilweise für die Fahrtkosten verwenden könnte.

d) Zu Recht ist das [X.] davon ausgegangen, dass es sich bei den Fahrtkosten um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf handelt. Das Tatbestandsmerkmal "laufender" Bedarf in § 21 Abs 6 [X.] in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung setzt voraus, dass es sich um einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften und längerfristigen Bedarf handelt (Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses des [X.], BT-Drucks 17/1465 [X.]; [X.] vom [X.] - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 116, 86 = [X.]-4200 § 21 [X.] 18, Rd[X.]). Ein laufender Bedarf liegt vor diesem Hintergrund jedenfalls dann nicht vor, wenn er sich nicht wiederholt ( [X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 23). Es kommt aufgrund des auf eine [X.] "Sondersituation" ( [X.] vom [X.] - 1 BvL 1/09 ua - [X.]E 125, 175 [255] - [X.]-4200 § 20 [X.] 12 Rd[X.] 208) [X.] Ausnahmecharakter des § 21 Abs 6 [X.] ("im Einzelfall") dabei auf eine Prognose anhand der individuellen Umstände des Einzelfalles an (zuletzt [X.] vom 12.5.2021 - [X.] [X.]/20 R - [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 23 mwN ). Im vorliegenden Fall liegt ein laufender Bedarf vor, weil der Bedarf nach den Feststellungen des [X.] in der Regel zweimal pro Monat entsteht und sich damit innerhalb eines Regelbewilligungszeitraumes von damals sechs Monaten (§ 41 Abs 1 Satz 4 [X.] aF) [X.] wiederholt. Nichts anderes gilt, wenn man in Form einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise darauf abstellt, ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise und unabhängig von Bewilligungszeiträumen nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (so [X.] vom [X.] - [X.] [X.]/18 R - [X.]E 128, 114 = [X.]-4200 § 21, [X.] 31, Rd[X.] 29; [X.] vom [X.] - [X.] [X.]/18 R - juris Rd[X.] 29), denn auch bei typisierender Betrachtung tritt der Bedarf bei längerer Inhaftierung wiederholt auf.

e) Schließlich kann abhängig von den noch zu treffenden Feststellungen des [X.] auch ein besonderer Bedarf iS des § 21 Abs 6 Satz 1 [X.] vorliegen.

Ein besonderer Bedarf besteht nur, wenn die Bedarfslage eine andere ist, als sie bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen vorliegt ([X.] vom [X.] - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 116, 86 = [X.]-4200 § 21 [X.] 18, Rd[X.] 19; [X.] vom 18.11.2014 - [X.] [X.]/14 R - [X.]E 117, 240 = [X.]-4200 § 21 [X.] 19, Rd[X.]; [X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 17; Knickrehm in Eicher/[X.]/[X.], [X.], 5. Aufl 2021, § 21 Rd[X.] 67 ). Es muss daher ein Mehrbedarf im Verhältnis zum "normalen" Regelbedarf gegeben sein ([X.] vom 18.11.2014 - [X.] [X.]/14 R - [X.]E 117, 240 = [X.]-4200 § 21 [X.] 19, Rd[X.]; [X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - [X.]E 118, 82 = [X.]-4200 § 21 [X.], Rd[X.] 17).

Ein besonderer Bedarf der Höhe nach liegt dann vor, wenn er seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht, weil es sich um eine individuelle Konstellation handelt, die sich einer an typischen Bedarfen orientierten Pauschalierung der Leistungen entzieht. Dies ist nach dem oben [X.] der Fall, wenn man die geltend gemachten Kosten iHv 79,78 Euro zugrunde legt, also soweit sich im wiedereröffneten Berufungsverfahren ein Bedarf in dieser Höhe nach den noch zu treffenden Feststellungen des [X.] bestätigt. Das Tatbestandsmerkmal des besonderen Bedarfs der Höhe nach überlappt sich insofern mit der Erheblichkeit im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der Unabweisbarkeit. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob es sich bei den Fahrtkosten der Klägerin bereits um einen besonderen Bedarf dem Grunde nach handelt (so für die mit dem Umgangsrecht verbundenen Kosten [X.] vom [X.] - [X.] [X.]/13 R - [X.]E 116, 86 = [X.]-4200 § 21 [X.] 18, Rd[X.] 25).

3. Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

[X.]

Meta

B 4 AS 3/21 R

26.01.2022

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Halle (Saale), 16. März 2017, Az: S 24 AS 1574/15, Urteil

§ 21 Abs 6 S 1 SGB 2 vom 13.05.2011, § 21 Abs 6 S 2 SGB 2, Art 1 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 26.01.2022, Az. B 4 AS 3/21 R (REWIS RS 2022, 1750)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1750

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1 BvL 1/09

1 BvR 2556/09

1 BvR 1083/09

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