Bundessozialgericht, Beschluss vom 28.09.2021, Az. B 1 KR 7/21 B

1. Senat | REWIS RS 2021, 10458

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Gegenstand

(Krankenversicherung - Versorgung mit dem Arzneimittel Avastin - grundrechtsorientierte Auslegung - § 2 Abs 1a SGB 5)


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 8. Oktober 2020 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin leidet an einem [X.] multiforme. Eine im [X.] 2015 durchgeführte Chemotherapie mit Temodal und eine zusätzliche Radiotherapie wurden wegen erheblicher Nebenwirkungen kurze Zeit später wieder ausgesetzt. Nach deutlichem Tumorwachstum folgte von März bis Mai 2016 eine Chemotherapie mit [X.] und [X.], die wegen schwerer Nebenwirkungen ebenfalls abgebrochen wurde. Ab Mitte April 2016 wurde die Klägerin mit Avastin (Wirkstoff: Bevacizumab) behandelt. Das Medikament ist für den Einsatz in [X.] und der [X.] ([X.]) zur Behandlung verschiedener Krebserkrankungen zugelassen, nicht aber zur Behandlung von Glioblastomen. Mit ihrem zuletzt auf Kostenerstattung [X.] von 28 326,14 Euro, zukünftige Versorgung sowie Feststellung des Bestehens des Anspruchs auf Versorgung mit Avastin in der [X.] bis 30.6.2018 gerichteten Begehren ist die Klägerin bei der Beklagten und in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das [X.] hat ausgeführt, die Voraussetzungen eines zulassungsüberschreitenden Einsatzes von Avastin (Off-Label-Use) lägen nicht vor. Einem Leistungsanspruch nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw § 2 Abs 1a [X.] stehe die Sperrwirkung entgegen, welche die Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem [X.] sowie die 2014 erfolgte Versagung der Zulassungserweiterung für Avastin durch die [X.] entfalteten (Verweis auf [X.] vom 13.12.2016 - [X.] KR 10/16 R - [X.], 181 = [X.]-2500 § 2 [X.]; [X.] vom 11.9.2018 - [X.] KR 36/17 R - [X.] 2019, 38). Die Sachlage habe sich seither nicht verändert (Urteil vom 8.10.2020).

2

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.].

3

II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] SGG).

4

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des [X.], des [X.] oder des [X.] andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl [X.] vom 19.9.2007 - [X.] KR 52/07 B - juris Rd[X.]; [X.] - [X.] KR 55/17 B - juris Rd[X.] 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl [X.] vom 8.9.1982 - 2 BvR 676/81 - juris Rd[X.] 8). Diesen Anforderungen wird das Vorbringen der Klägerin nicht gerecht.

5

a) Die Klägerin bezeichnet als Rechtssatz des [X.], "dass es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. (…) Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Arzneimittel-Therapie oder eine Behandlungsmethode handelt."

6

Diesem Rechtssatz des [X.] stellt die Klägerin den Rechtssatz des [X.] gegenüber, den sich das [X.] zu eigen mache, "dass von hinreichenden Erfolgsaussichten im dargelegten Sinn nur dann auszugehen ist, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der [X.] (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen."

7

Insofern legt die Klägerin jedoch eine Abweichung der bezeichneten Rechtssätze nicht schlüssig dar. Sie setzt sich nicht damit auseinander, dass das [X.] - im Einklang mit der stRspr des Senats (vgl [X.] vom 19.3.2020 - [X.] KR 22/18 R - juris Rd[X.] 15 ff mwN) - die Voraussetzungen eines Off-Label-Use nach den vom Senat entwickelten Grundsätzen mit der Forderung von Erkenntnissen in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der [X.] (grundlegend Urteil vom 19.3.2002 - [X.] KR 37/00 R - [X.]E 89, 184 = [X.]-2500 § 31 [X.] 8) und den Leistungsanspruch nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw nach der Regelung § 2 Abs 1a [X.] getrennt und nacheinander prüft, die von ihr formulierten Rechtssätze mithin unterschiedliche Anspruchsgrundlagen betreffen.

8

b) Soweit die Klägerin die gerügte Divergenz sinngemäß weiterhin darauf stützt, dass das [X.] unter Berufung auf die Rspr des [X.] § 2 Abs 1a [X.] bzw die durch das [X.] aufgestellten Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung einschränkend dahingehend auslege, dass bei Fertigarzneimitteln, für die eine Genehmigung im Zulassungsverfahren behördlich abgelehnt wurde, kein Leistungsanspruch existiere, fehlt es an einer schlüssigen Darlegung der Unvereinbarkeit der Rechtssätze.

9

Der Senat hat hierzu entschieden, dass die Auslegung des § 2 Abs 1a [X.] in dem vorgenannten Sinne aus Entwicklungsgeschichte, Regelungssystem von [X.] und [X.] sowie dem Regelungszweck folge, ohne dass der Wortlaut der Vorschrift entgegenstehe ([X.] vom 13.12.2016 - [X.] KR 10/16 R - [X.], 181 = [X.]-2500 § 2 [X.], Rd[X.] 19 ff; [X.] vom 11.9.2018 - [X.] KR 36/17 R - [X.] 2019, 38, juris Rd[X.] 15 ff). § 2 Abs 1a [X.] führe dabei in der Sache die Rspr des [X.] und des erkennenden Senats zur grundrechtsorientierten Auslegung fort, anknüpfend an jene des [X.]. Der Senat habe bereits bei der Konkretisierung des Beschlusses des [X.] vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 - [X.]E 115, 25 = [X.]-2500 § 27 [X.] 5) nicht außer [X.] gelassen, dass die vom [X.] betonten verfassungsrechtlichen Schutzpflichten nicht nur die leistungserweiternde Konkretisierung der Leistungsansprüche der Versicherten bestimmten, sondern dass diese Schutzpflichten die Versicherten auch davor bewahren sollten, auf Kosten der [X.] mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht wahrgenommen werde. Der erkennende Senat habe zudem darauf hingewiesen, dass ebenso wenig die Rspr des [X.] dazu führen dürfe, dass unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte begründet würden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten institutionelle Sicherungen aushebelten, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes der Versicherten und der Gesamtbevölkerung errichtet habe ([X.] vom 13.12.2016, aaO, Rd[X.] 19; [X.] vom 11.9.2018, aaO, Rd[X.] 16, jeweils mwN).

Danach handelt es sich bei der Auslegung des § 2 Abs 1a [X.] durch den Senat und das [X.] gerade nicht um eine Abweichung von den Vorgaben des [X.], sondern um deren Konkretisierung. Damit setzt sich die Klägerin nicht auseinander. Sie macht im Ergebnis lediglich geltend, die vom [X.] aufgestellten und inzwischen in § 2 Abs 1a [X.] geregelten Voraussetzungen der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts seien entgegen der Auffassung des [X.] (und des [X.]) vorliegend erfüllt. Damit wendet sie sich allein gegen die Richtigkeit der [X.]-Entscheidung. Solches Vorbringen reicht nicht aus, um die Revision zuzulassen (stRspr; [X.] vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - [X.] 1500 § 160a [X.] 7; [X.] vom [X.] - [X.]2 KR 62/04 B - [X.]-1500 § 160a [X.] Rd[X.] 18).

2. Sofern die Klägerin sinngemäß geltend machen sollte, dass die Auslegung des § 2 Abs 1a [X.] durch den erkennenden Senat im Hinblick auf die Versorgung mit Arzneimitteln (erneut) klärungsbedürftig sei, wird ihr Vorbringen den Anforderungen an die Darlegung des damit in der Sache geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 [X.] 1 SGG) nicht gerecht.

Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl [X.] vom 26.5.2020 - [X.] KR 14/19 B - juris Rd[X.] 4 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs [X.] vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - [X.]-1500 § 160a [X.]4 Rd[X.] 5 f mwN). Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden ist. Sie kann wieder klärungsbedürftig werden, wenn der Rspr in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden, was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl [X.] vom 19.7.2012 - [X.] KR 65/11 B - [X.]-1500 § 160a [X.] 32; [X.] vom 22.12.2010 - [X.] KR 100/10 B - juris Rd[X.] 7). Erneute [X.] ist darüber hinaus auch gegeben, wenn neue erhebliche Gesichtspunkte gegen die bisherige Rspr vorgebracht werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen (vgl [X.] vom 30.9.1992 - 11 [X.]/92 - [X.]-4100 § 111 [X.] 1 S 2; [X.] vom 11.2.2020 - [X.]0 [X.] B - juris Rd[X.], jeweils mwN). Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung selbst dann nicht, wenn sie eine Rechtsfrage sinngemäß dahingehend formuliert haben sollte, ob in den Fällen des § 2 Abs 1a [X.] Versicherte Anspruch auf ein Arzneimittel für eine bestimmte Indikation haben, wenn der Antrag auf die indikationsbezogene Zulassungserweiterung im [X.] Arzneimittelzulassungsverfahren erfolglos gebliebenen ist, aber das Arzneimittel mit dieser Indikation in einigen [X.] außerhalb der [X.] (hier: [X.], [X.], [X.]) zugelassen ist.

Die Klägerin legt weder dar, dass der von ihr kritisierten Rspr des Senats in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wurde, noch zeigt sie auf, inwieweit es sich bei den von ihr vorgebrachten Argumenten um neue erhebliche Gesichtspunkte handeln sollte, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der aufgeworfenen Fragestellung führen könnten. Sie beruft sich vielmehr maßgeblich auch auf die durch den Senat mit dem Urteil vom 13.12.2016 [X.] 122, 181 = [X.]-2500 § 2 [X.]) aufgehobene Entscheidung des Bayerischen [X.] vom 14.7.2015 [X.] 153/14 - juris). Im Übrigen macht die Klägerin im [X.] nur geltend, die Entscheidung des [X.] und die Rspr des erkennenden Senats zur Konkretisierung des Anspruchs auf Arzneimittel in Fällen des § 2 Abs 1a [X.] beruhe auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG in der Auslegung durch das [X.] in seinem Beschluss vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 - [X.]E 115, 25 = [X.]-2500 § 27 [X.] 5). Die objektivrechtlichen Schutzpflichten des Staates, hier realisiert durch das [X.], und die Grundrechtsberechtigung des einzelnen Leistungsempfängers könnten nicht gegeneinander "ausgespielt" werden.

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

4. [X.] beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

[X.]

Meta

B 1 KR 7/21 B

28.09.2021

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG München, 13. Juni 2018, Az: S 39 KR 642/17, Urteil

§ 2 Abs 1a SGB 5, Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 20 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 28.09.2021, Az. B 1 KR 7/21 B (REWIS RS 2021, 10458)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 10458

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1 BvR 347/98

1 BvR 2856/07

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