Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.2020, Az. XIII ZB 65/19

13. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 711

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Gegenstand

Haft zur Sicherung der Zurückweisung bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der Europäischen Union


Leitsatz

Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kommt auch bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der Europäischen Union nicht in Betracht, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige nach Überqueren der deutschen Grenze im grenznahen Bereich gestellt und ihm dort die - tatsächlich bereits erfolgte - Einreise verweigert wird.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 6. Zivilkammer des [X.] vom 4. Januar 2019 wird auf Kosten der Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Die Betroffene, eine [X.] Staatsangehörige, reiste am 17. März 2018 mit einem Fernreisebus von [X.] nach [X.]. Bei einer Kontrolle durch die Beamten der beteiligten Behörde in [X.] wies sich die Betroffene mit einem [X.] Aufenthaltstitel aus, führte aber keine Einreisedokumente bei sich. Das Amtsgericht ordnete mit Beschluss vom 18. März 2018 [X.] bis 13. April 2018 an. Das [X.] richtete am 21. März 2018 ein [X.] an [X.] nach der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 (im Folgenden: [X.]). Aufgrund technischer Probleme konnten die [X.] Behörden kein Empfangsbekenntnis übersenden, weshalb das [X.] am 5. April 2018 ein weiteres [X.] an die [X.] Behörden richtete.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 13. April 2018 [X.] bis 28. Mai 2018 angeordnet. Die vom [X.] angeordnete Abschiebung der Betroffenen nach [X.] erfolgte am 16. Mai 2018.

3

Am 15. Mai 2018 hat die Betroffene einen Haftaufhebungsantrag gestellt und zugleich die Feststellung beantragt, dass der Beschluss des Amtsgerichts vom 13. April 2018 sie seit Eingang des [X.] in ihren Rechten verletzt habe. Das Amtsgericht hat den Feststellungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt, verfolgt die Betroffene ihren Feststellungsantrag weiter.

4

II. Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, das Amtsgericht habe zu Recht gemäß § 15 Abs. 5 [X.] i.V.m. [X.]. 28 Abs. 2 [X.] Haft zum Zwecke der Überstellung der Betroffenen angeordnet. Insbesondere habe der erforderliche Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr i.S.v. [X.]. 28 Abs. 2, [X.]. 2 Buchst. n [X.] vorgelegen, da der begründete Verdacht bestanden habe, dass sich die Betroffene dem Überstellungsverfahren durch Flucht entziehen werde. Aus den technischen Problemen, die die Zusendung eines Empfangsbekenntnisses für das erste [X.] verhindert hätten, folge kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot.

6

2. Dies hält der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

7

a) Die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft zur Sicherung der Überstellung der Betroffenen nach [X.] bestimmen sich hier allerdings nicht nach § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.], sondern nach [X.]. 28 Abs. 2 [X.] i.V.m. § 2 Abs. 15 und 14 [X.] in der bis 20. August 2019 geltenden Fassung (im Folgenden: aF), da die Betroffene bereits eingereist war und nach [X.] überstellt werden sollte.

8

aa) Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] kommt auch bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der [X.] jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige nach Überqueren der [X.] im grenznahen Bereich gestellt und ihm dort die - tatsächlich bereits erfolgte - Einreise verweigert wird.

9

(1) Ist ein Drittstaatsangehöriger in einen Mitgliedstaat eingereist, unterfällt er nach [X.]. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Er ist daher den in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen ([X.], Urteil vom 19. März 2019 - [X.]/17, NVwZ 2019, 947 Rn. 39 - Arib). Im Anwendungsbereich der Richtlinie ist die Anordnung von Haft nur unter den in [X.]. 15 [X.]. § 62 [X.] geregelten Voraussetzungen zulässig.

Soll der Drittstaatsangehörige in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden, in dem er einen Asylantrag gestellt hat, finden die Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie nach [X.]. 24 Abs. 4 Unterabs. 2 [X.] keine Anwendung; Haft ist in diesem Fall nur unter den Voraussetzungen des [X.]. 28 Abs. 2 [X.] i.V.m. § 2 Abs. 15 und 14 [X.] aF (§ 2 Abs. 14 [X.] nF) anzuordnen.

(2) Ordnet das Haftgericht in einem Fall, in dem der Drittstaatsangehörige bereits eingereist ist, ihm gegenüber aber dennoch eine Einreiseverweigerung ausgesprochen wurde, nach § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] die [X.] an, setzt es sich in Widerspruch zu den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie oder der [X.] und den dort jeweils geregelten Verfahrensgrundsätzen zugunsten des Drittstaatsangehörigen. Zwar sind die Haftgerichte grundsätzlich an Entscheidungen der beteiligten Behörde und die damit verbundene Wahl des vereinfachten Verfahrens nach § 15 Abs. 5 [X.] gebunden ([X.], Beschlüsse vom 20. September 2017 - [X.] 118/17, [X.] 2018, 96 Rn. 16, 18 und vom 12. April 2018 - [X.] 164/16, [X.] 2018, 337 Rn. 11). Das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) ist aber auch bei der Anordnung von [X.] zu beachten ([X.], Beschluss vom 25. Juli 2014 - [X.] 137/14, [X.] 2104, 230 Rn. 5). Aufgrund dieses Gebots sind die nationalen Gerichte verpflichtet, das innerstaatliche Recht soweit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und, wenn das nicht möglich ist, notfalls jede Bestimmung unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde (vgl. [X.], Urteil vom 27. Oktober 2009 - [X.]/08, [X.], 107 Rn. 138 - [X.]). Daher kann in einem Fall, in dem die Einreise bereits erfolgt ist, keine [X.] nach § 15 Abs. 5 Satz 1 [X.] angeordnet werden, auch wenn die beteiligte Behörde das vereinfachte Verfahren anwenden will.

bb) Zwar waren zum Zeitpunkt der Kontrolle der Betroffenen an der [X.] nach [X.]. 25 [X.] vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt worden, jedoch bestand im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle der Betroffenen in [X.] keine nach [X.]. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c [X.] und § 13 [X.] i.V.m. § 61 Abs. 1 [X.] zugelassene Grenzübergangsstelle. Damit war die Betroffene mit Überschreiten der Grenze nach [X.]. 22 [X.], § 13 Abs. 2 Satz 3 [X.] eingereist (vgl. [X.] in [X.], [X.], 2. Aufl., § 13 Rn. 5). Da sie nach [X.] überstellt werden sollte, kam nur die Anordnung von Haft zur Sicherung der Überstellung nach [X.]. 28 Abs. 2 [X.] in Betracht.

b) Die Voraussetzungen der Anordnung von Überstellungshaft nach [X.]. 28 Abs. 2 [X.] haben auch vorgelegen.

aa) Die Betroffene war aufgrund der unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Mit der Abschiebungsanordnung des [X.]s lag auch eine Rückkehrentscheidung vor. Das Beschwerdegericht hat zudem unter Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsgerichts vom 13. April 2018 zutreffend festgestellt, dass der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr i.S.v. [X.]. 28 Abs. 2, [X.]. 2 Buchst. n [X.] i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 Nr. 5 [X.] aF vorgelegen hat.

bb) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde die Verletzung des Beschleunigungsgebots. Das Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörde, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, damit der Vollzug der Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann. Versäumnisse des für [X.] und die Modalitäten der Überstellung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 [X.] zuständigen [X.]s wären der für die Beantragung der Haft zuständigen Ausländerbehörde zuzurechnen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 7. April 2011 - [X.] 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rn. 12 f.; vom 30. Juni 2011 - [X.] 274/10, [X.] 2011, 315 Rn. 25). Gemessen an diesen Anforderungen hat das Beschwerdegericht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zutreffend verneint.

(1) Das [X.] richtete bereits am 21. März 2018 ein [X.] an die [X.] Behörden. Zwischen der Haftanordnung und der Stellung des [X.]s lagen nur drei Tage. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde stellt es auch keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass das [X.] erst zwei Wochen nach der Übersendung des ersten [X.]s auf das fehlende Empfangsbekenntnis aus [X.] reagierte und am 5. April 2018 ein weiteres [X.] an die [X.] Behörden richtete.

(2) [X.]. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 1 [X.] sieht in Fällen, in denen sich der Drittstaatsangehörige bereits in Haft befindet, eine Frist für ein [X.] von einem Monat ab Stellung des Antrags vor. Diese Frist war im Zeitpunkt des zweiten [X.]s noch gewahrt.

(3) Darüber hinaus liegen keine vermeidbaren Verfahrensverzögerungen vor, die trotz der Einhaltung der Frist des [X.]. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 1 [X.] einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründen könnten. Das Beschwerdegericht hat weder festgestellt noch ist ersichtlich, dass das [X.] vor dem 5. April 2018 wusste oder hätte wissen müssen, dass die [X.] Behörden das erste [X.] nicht erhalten hatten. Das [X.] wusste lediglich, dass die [X.] Behörden den Eingang des Gesuchs aufgrund technischer Probleme nicht bestätigen konnten. Weiter steht nicht fest, dass das [X.] zuvor wusste oder hätte wissen müssen, dass diese technischen Probleme bereits zu einem früheren Zeitpunkt behoben worden waren. Vor diesem Hintergrund war es noch ausreichend, dass das [X.] zunächst den Ablauf der zweiwöchigen Frist gemäß [X.]. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 3 [X.] abgewartet hat. Denn erst nach Ablauf dieser Frist gilt das [X.] gemäß [X.]. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 4 [X.] als angenommen und bedarf es für den Nachweis dieser Wirkung eines Empfangsbekenntnisses. Bei einer Antwort der [X.] Behörden innerhalb der [X.] hätte sich hingegen ein Fehlen des Empfangsbekenntnisses nicht ausgewirkt.

(4) Schließlich wurde auch die Frist zur Vollziehung der Überstellung gemäß [X.]. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 [X.] gewahrt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, die Festsetzung des Gegenstandswertes auf § 36 Abs. 3 GNotKG.

[X.]     

      

Schmidt-Räntsch     

      

[X.]

      

Tolkmitt     

      

[X.]     

      

Meta

XIII ZB 65/19

12.02.2020

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Landshut, 4. Januar 2019, Az: 65 T 3097/18

§ 2 Abs 14 AufenthG vom 27.07.2015, § 2 Abs 15 AufenthG vom 27.07.2015, § 2 Abs 14 AufenthG vom 12.05.2017, § 13 Abs 2 S 3 AufenthG, § 15 Abs 5 S 1 AufenthG, Art 2 Buchst n EUV 604/2013, Art 24 Abs 4 UAbs 2 EUV 604/2013, Art 28 Abs 2 EUV 604/2013, Art 22 EUV 2016/399, Art 2 Abs 1 EGRL 115/2008

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.2020, Az. XIII ZB 65/19 (REWIS RS 2020, 711)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 711

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