Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.12.2022, Az. AK 48/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 7624

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Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem [X.] übertragen.

Gründe

I.

1

Der Angeschuldigte befindet sich seit dem 24. Mai 2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 23. Mai 2022 (10 [X.] 37/22). Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich an verschiedenen Orten in der [X.] in der [X.] von Mitte Juli 2019 bis zum 23. Mai 2022 als Mitglied an der [X.] "Arbeiterpartei [X.]" ("[X.] Karkeren [X.]", [X.]) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB.

2

Die Generalstaatsanwaltschaft [X.] hat mit Anklageschrift vom 8. November 2022 wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden [X.] Anklage zum Oberlandesgericht [X.] erhoben.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Angeschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

5

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6

aa) Die [X.] wurde 1978 unter anderem von [X.] in der [X.] als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die [X.] verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die "Koma Civakên [X.]" ("Vereinigte Gemeinschaften [X.]", im Folgenden: [X.]), die auf einen staatsähnlichen "konföderalen" Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der [X.], in [X.], im [X.] und im [X.] zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

7

Die [X.] ist, ebenso wie die [X.], auf die Person [X.] ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den "Kongra Gele [X.]" ([X.] - "Volkskongress [X.]") und den [X.]-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern [X.] regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

8

Fester Bestandteil der Strukturen der [X.]/[X.] sind auch die "[X.]" ("[X.]", fortan: [X.]), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen "Selbstverteidigung" einen [X.] als legitimes Mittel. Die [X.] verübten vor allem im Südosten der [X.] mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen [X.] Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die [X.] bekannten sich seit der Aufkündigung eines "Waffenstillstands" zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.

9

Das Präsidium des Exekutivrats der [X.] erklärte, nachdem [X.] aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die [X.] zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.

Nachdem der "Friedensprozess" im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den [X.]n Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die "[X.] revolutionäre Jugendbewegung" ([X.] - Yurtsever [X.]), die sich mit den Verteidigungskräften der [X.] zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der [X.], bei denen Angehörige der [X.]n Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der [X.] liegen in den von [X.] bevölkerten Gebieten in der [X.], in [X.], im [X.] und im [X.]. Zahlreiche - regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem [X.]n Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die [X.] indes auch in [X.] und anderen Ländern [X.]. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der "[X.] Demokratik a [X.]" ("[X.]", im Folgenden: [X.]), welche die Direktiven der [X.]-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in [X.] lebenden [X.] zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. [X.]-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der [X.] in [X.] benannte sich der [X.] Dachverband [X.]-naher Vereine "Konföderation der kurdischen Vereine in [X.]" ([X.]) im Juli 2013 in "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in [X.]" ([X.]) um. Unter der Bezeichnung [X.] werden nicht nur die Strukturen des [X.], sondern auch diejenigen der [X.] fortgeführt.

Unterhalb der Führungsebene war und ist [X.] in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In [X.] gab es seit 2002 die drei Sektoren ("saha") "Süd", "Mitte" und "Nord"; 2012 wurde der Sektor "Süd" in die Sektoren "Süd 1" und "Süd 2" aufgeteilt. [X.] wurden in den vier Sektoren neun Regionen ("eyalet") mit insgesamt 31 Gebieten ("bölge") gebildet. Jede Organisationseinheit wird in der Regel von einem durch die Vereinigung eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der [X.] Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der [X.]führung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

bb) Der Angeschuldigte verbüßte bis in den August 2018 eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, die das [X.] wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland mit Blick auf Gebietsleitertätigkeiten des Angeschuldigten für die [X.] in der [X.] von August 2010 bis Februar 2015 verhängt hatte. Spätestens ab Juli 2019 nahm er unter dem Decknamen D.    erneut für die [X.] Leitungsaufgaben eines Gebietsverantwortlichen wahr, und zwar zunächst bis mindestens Mitte Mai 2020 für das Gebiet S.    , darauf für das [X.]    und ab Oktober 2021 bis zu seiner Festnahme für die Gebiete [X.]    und [X.]. Er war als [X.] in die [X.] in Kenntnis ihrer Struktur und Ziele eingegliedert. Er nahm auf die Arbeit [X.] und Aktivisten in seinem Zuständigkeitsbereich Einfluss, stand mit ihnen in Verbindung, koordinierte ihre Arbeit und war gegenüber höherrangigen Kadern berichtspflichtig. Er war in die Organisation von Veranstaltungen eingebunden, kümmerte sich sowohl um Propagandamittel und die Anreise zu Großveranstaltungen als auch um die Rekrutierung von Nachwuchsmitgliedern und befasste sich mit dem Sammeln von "Spendengeldern". So nahm er Gelder entgegen, stellte Quittungen aus, führte Buch über die Einnahmen und leitete sie innerhalb der Organisation weiter.

b) Der dringende Tatverdacht beruht insbesondere auf bei ihm sichergestellten Unterlagen wie einem selbstkritischen Bericht über seine Tätigkeit, einem Quittungsblock, einem Notizblock mit Aufzeichnungen, Bargeld und Propagandamaterial. Darüber hinaus deuten die Erkenntnisse aus Telekommunikations- und Fahrzeuginnenraumüberwachungsmaßnahmen auf Kontakte zu anderen Kadern und seine langjährige Tätigkeit für die [X.] hin, zumal im Zusammenhang mit Spendensammlungen. Ferner liegt ein den Angeschuldigten betreffendes Behördenzeugnis des [X.] vor.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB). Das [X.] hat die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten unter anderem der jeweiligen Verantwortlichen für die in [X.] bestehenden Gebiete der [X.] und ihrer Teilorganisation in [X.] am 6. September 2011 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. [X.], Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der [X.]. Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich der Angeschuldigte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Er hat in mehreren Gesprächen angegeben, zurück nach [X.] beziehungsweise in das "Heimatland" gehen und dort bleiben zu wollen. Die im Falle einer Verurteilung drohende Freiheitsstrafe stellt zudem einen erheblichen Fluchtanreiz dar. Demgegenüber sind seine familiären Bindungen zu seiner in [X.] wohnenden Ehefrau und den gemeinsamen Kindern von geringem Gewicht, da er sich lediglich sporadisch bei seiner Familie aufhielt. Zudem hat er bei seiner Festnahme erklärt, weiter zu kämpfen, "bis die [X.] befreit" seien. Vor diesem Hintergrund wird die Fluchtgefahr nicht dadurch entscheidend herabgesetzt, dass er sich nicht bereits nach einer Durchsuchung im März 2022 einem weiteren Zugriff entzogen hat. Jedenfalls ist eine solche Gefahr nicht auszuschließen, was für den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO genügt (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 31 mwN).

Eine - bei verfassungskonformer Auslegung im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO ebenfalls mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die [X.]. Bei der Festnahme des Angeschuldigten und der vorangegangenen Durchsuchung im März 2022 ist eine Vielzahl von Speichermedien mit fremdsprachigen Inhalten größeren Umfangs sichergestellt worden, beispielsweise rund 30.000 Audiodateien. Die Sichtung und Übersetzung hat trotz erheblichen Personaleinsatzes ohne ersichtliche Verzögerungen bis in den Oktober 2022 gedauert. Die Generalstaatsanwaltschaft hat wenige Tage nach Eingang der letzten polizeilichen [X.] die Anklageschrift fertiggestellt.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Schäfer                    Hohoff                    Anstötz

Meta

AK 48/22

14.12.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.12.2022, Az. AK 48/22 (REWIS RS 2022, 7624)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7624

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