Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.08.2023, Az. AK 49/23

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 5467

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Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

1

Der Beschuldigte befindet sich seit dem 22. Dezember 2022 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 7. Dezember 2022 ([X.]) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich als Mitglied an der [X.] „Arbeiterpartei [X.]“ („[X.] Karkêren [X.]“, [X.]) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder § 239b StGB zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB. Der Beschuldigte soll von Juli 2021 bis zu seiner Festnahme als Vollkader der Organisation die [X.]-Region B.     und das [X.]-[X.]      geleitet haben.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

5

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6

aa) Die [X.] wurde 1978 unter anderem von [X.] in der [X.] als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die [X.] verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die „Koma Civakên [X.]“ („Vereinigte Gemeinschaften [X.]“, im Folgenden: [X.]), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der [X.], in [X.], im [X.] und im [X.] zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

7

Die [X.] ist, ebenso wie die [X.], auf die Person [X.] ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele [X.]“ ([X.] – „Volkskongress [X.]“) und den [X.]-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern [X.] regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

8

Fester Bestandteil der Strukturen der [X.]/[X.] sind auch die „[X.]“ („[X.]“, fortan: [X.]), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung“ einen [X.] als legitimes Mittel. Die [X.] verübten vor allem im Südosten der [X.] mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen [X.] Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die [X.] bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands“ zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.

9

Das Präsidium des Exekutivrats der [X.] erklärte, nachdem [X.] aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die [X.] zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.

Nachdem der „Friedensprozess“ im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den [X.]n Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die „[X.] revolutionäre Jugendbewegung“ ([X.] - Yurtsever [X.]), die sich mit den [X.] der [X.] zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der [X.] wieder erheblich zu, bei denen Angehörige der [X.]n Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden.

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der [X.] liegen in den von [X.] bevölkerten Gebieten in der [X.], in [X.], im [X.] und im [X.]. Zahlreiche - regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem [X.]n Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die [X.] indes auch in [X.] und anderen Ländern [X.]. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „[X.] [X.]“ („[X.]“, im Folgenden: [X.]), welche die Direktiven der [X.]-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in [X.] lebenden [X.] zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. [X.]-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der [X.] in [X.] benannte sich der [X.] Dachverband [X.]-naher Vereine „[X.] der kurdischen Vereine in [X.]“ ([X.]) im Juli 2013 in „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in [X.]“ ([X.]) um. Unter der Bezeichnung [X.] werden nicht nur die Strukturen des [X.], sondern auch diejenigen der [X.] fortgeführt.

Unterhalb der Führungsebene war und ist [X.] in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In [X.] gab es seit 2002 die drei Sektoren („saha“) „Süd“, „Mitte“ und „Nord“; 2012 wurde der Sektor „Süd“ in die Sektoren „Süd 1“ und „Süd 2“ aufgeteilt. [X.] wurden in den vier Sektoren neun Regionen („eyalet“) mit insgesamt 31 Gebieten („bölge“) gebildet. Jede Organisationseinheit wird in der Regel von einem durch die [X.] eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der [X.] Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der [X.]führung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

bb) Der aus der [X.] stammende Beschuldigte ist [X.] Volkszugehörigkeit. Als ehemaliger Co-Vorsitzender des bundesweiten Dachverbands der [X.]-nahen Strukturen in [X.], der [X.], ist er langjährig fest in der kurdischen Szene verwurzelt und in engem Kontakt mit [X.]-Kadern. In Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Organisation nahm er ab Anfang Juli 2021 bis zu seiner Festnahme hauptamtlich für die [X.] die typischen Leitungsaufgaben eines Regionsverantwortlichen für die Region B.     und eines Gebietsverantwortlichen für das [X.]      wahr. Er stand mit anderen Mitgliedern und Unterstützern in regelmäßiger persönlicher und telefonischer Verbindung, koordinierte deren Arbeit, gab ihnen Anweisungen und schlichtete Streit. Außerdem organisierte der Beschuldigte Veranstaltungen und hielt dort Redebeiträge, nahm an vereinigungsbezogenen Demonstrationen teil, verkaufte Tickets für Propagandatreffen und organisierte gemeinsame Fahrten zu solchen. Ihm oblag schließlich die Sammlung von sogenannten Spenden. [X.] Kadern erstattete er regelmäßig Bericht. Unterdessen wurde er von Unterstützern der [X.] verköstigt und beherbergt, insbesondere von dem Aktivisten       G.     . Dieser stellte dem Beschuldigten auch ein Auto zur Verfügung. Außerdem nutzte der Beschuldigte eine [X.] 100, um seinen Aufgaben nachzukommen, die mit beinahe täglichen Reisen verbunden waren. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und den „Sachstandsbericht Nr. 3“ des [X.] vom 31. Mai 2023 verwiesen.

b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der außer[X.]n terroristischen [X.] [X.] und ihrer Untereinheiten in [X.] beruht auf [X.] des [X.]. Diese gründen ihrerseits auf einer Vielzahl von Dokumenten und öffentlichen Verlautbarungen der Organisation, Zeugenaussagen sowie sonstigen Erkenntnissen. Sie bildeten bereits vielfach die Grundlage für Verurteilungen von Kadern der [X.] durch verschiedene Oberlandesgerichte.

Die Handlungen des Beschuldigten, der sich im Rahmen einer Haftbeschwerde schriftlich zur Sache eingelassen und den Tatvorwurf bestritten hat, ergeben sich im Wesentlichen aus aufgezeichneter Telekommunikation und den bei Durchsuchungen sichergestellten Asservaten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, den auf die Haftbeschwerde ergangenen Beschluss des [X.] vom 7. Februar 2023 und den bereits genannten „Sachstandsbericht Nr. 3“ des [X.] vom 31. Mai 2023 verwiesen.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB). Ob die Beurteilung im Haftbefehl zutrifft, dass daneben die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 129a Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegen, ist für die Haftfrage ohne Bedeutung. Das [X.] hat die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die hiesigen Organisationseinheiten der [X.] am 6. September 2011 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. [X.], Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität.

Der Beschuldigte hat im Fall seiner Verurteilung angesichts seiner langjährigen herausgehobenen Stellung innerhalb der [X.] mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen hohen Fluchtanreiz bietet.

Zwar lebt er als anerkannter Asylbewerber seit 1996 in [X.] und hat mit seiner Ehefrau, die in [X.]wohnt, fünf gemeinsame Kinder. Ausweislich der Überwachung seiner Telefone pflegt er zu seiner Familie jedoch kaum Kontakt. Vielmehr wohnte er im Tatzeitraum nahezu durchgehend bei wechselnden Sympathisanten der [X.] in seinem Einsatzgebiet B.    . Seine seltenen Besuche in [X.] beschränkten sich zum Teil auf wenige Stunden. Als mutmaßlicher Funktionär kann er im Fall seines [X.] zudem auf die Strukturen der [X.] zurückgreifen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde seine Flucht von der Organisation unterstützt und für seine Alimentation gesorgt werden. Einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die einen Anreiz zur Kooperation mit den Ermittlungsbehörden bieten könnte, geht er nicht nach.

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich der Beschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Anordnungen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft nicht auf der Grundlage weniger einschneidender Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer.

Das Verfahren ist bisher mit der gebotenen [X.] geführt worden. Die Auswertung der zahlreichen Schriftstücke und elektronischen Datenträger, die im Zuge von Durchsuchungen haben sichergestellt werden können, gestaltet sich besonders umfangreich, zumal in weiten Teilen Übersetzungen erforderlich sind. Hinsichtlich der Einzelheiten wird insoweit auf die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 9. Juni 2023 Bezug genommen. Aus dieser geht auch hervor, dass das [X.] die Auswertungen voraussichtlich Ende Juli 2023 abgeschlossen haben wird. Soweit dort ebenfalls davon die Rede ist, dass vor der Anklageerhebung außerdem noch ein schriftvergleichendes Gutachten eingeholt werden soll, bedarf es derzeit keiner Entscheidung, ob und gegebenenfalls bis zu welchem Zeitpunkt ein Abwarten unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung vertretbar ist.

4. Die Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit derzeit nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Schäfer          

  

Berg          

  

Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. [X.] befindet sich im Urlaub
und ist deshalb gehindert zu
unterschreiben.

  

  

  

  

Schäfer

Meta

AK 49/23

08.08.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.08.2023, Az. AK 49/23 (REWIS RS 2023, 5467)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5467

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