Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22.03.2016, Az. 2 B 43/15

2. Senat | REWIS RS 2016, 14094

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Gegenstand

Berücksichtigung von Therapiemaßnahmen bei Disziplinarmaßnahmenbemessung; Entgleisungen während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase


Gründe

1

[X.]ie auf Verfahrensmängel (§ 69 [X.] und § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.

2

1. [X.]er 1969 geborene [X.] steht als [X.] (Besoldungsgruppe [X.]) im [X.]ienst der Klägerin. Im [X.]ezember 2011 wurde der [X.] wegen vorsätzlicher Körperverletzung in 13 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Nötigung, in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, Sachbeschädigung und Bedrohung, in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. [X.]as Amtsgericht ist davon ausgegangen, dass der [X.] sämtliche Taten wegen einer psychischen Störung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB begangen hat. Im sachgleichen [X.]isziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht den [X.]n, entsprechend dem Antrag der Klägerin, um zwei Besoldungsstufen in das Amt eines Zollsekretärs zurückgestuft. [X.]as Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des [X.]n zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

3

[X.]ie Ahndung des außerdienstlichen [X.]ienstvergehens des [X.]n mit einer milderen Maßnahme als der Zurückstufung um zwei Besoldungsstufen komme nicht in Betracht. [X.]a der Strafrahmen für die vom [X.]n mehrfach begangenen vorsätzlichen Körperverletzungen fünf Jahre betrage, reiche der Orientierungsrahmen bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Zu Gunsten des [X.]n sei die im [X.] 2011 begonnene psychiatrisch-psychologische Therapie zu berücksichtigen, die die Wiederholungsgefahr verringert habe. Ferner sei nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit auszugehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit könne die [X.] regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden. Einer weiteren Milderung stünden die große Anzahl (13), der lange Zeitraum der strafrechtlichen Verfehlungen (2007, 2008 und 2011) sowie der Umstand entgegen, dass der [X.] sein Verhalten noch während des Laufs der strafrechtlichen Ermittlungen und sogar noch nach Anklageerhebung fortgeführt habe. [X.]ie im Zeitraum von Anfang 2007 bis Mai 2011 durchgeführte Verhaltenstherapie könne demgegenüber nicht als entlastender Umstand bewertet werden. [X.]er [X.] habe die Straftaten nahezu parallel zu dieser Verhaltenstherapie verübt. Angesichts der Stellungnahme des Therapeuten, der den [X.]n seit Juni 2011 betreue, könne auch noch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich um eine abgeschlossene Lebensphase handele.

4

2. [X.]ie vom [X.]n in der Beschwerdebegründung behaupteten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

5

a) [X.]er [X.] sieht einen Verfahrensmangel zunächst darin begründet, dass das Oberverwaltungsgericht es unterlassen habe, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären, zu welchem früheren Zeitpunkt vor Mai 2011 der [X.] hätte erkennen müssen, dass die Verhaltenstherapie nicht zum Erfolg führen würde, und ob der [X.] als psychiatrisch bzw. psychologisch nicht ausgebildeter Laie vor Mai 2011 erkennen konnte, dass die Verhaltenstherapie nicht erfolgreich sein könnte. Insoweit hat das Oberverwaltungsgericht aber nicht gegen die ihm obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen.

6

Nach § 58 Abs. 1 [X.] und § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt den [X.] die Pflicht, die Aufklärung des Sachverhalts auch in Bezug auf die bemessungsrelevanten Umstände (§ 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 [X.]) zu versuchen, soweit dies für die Bestimmung der [X.]isziplinarmaßnahme erforderlich und nach Lage der [X.]inge zumutbar erscheint. [X.]as Gericht darf eine Aufklärungsmaßnahme, die sich ihm nach den Umständen des Falles hat aufdrängen müssen, nicht deshalb unterlassen, weil kein Beweisantrag gestellt worden ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. September 2008 - 2 B 61.07 - [X.] 235.1 § 58 [X.] Nr. 4 = NVwZ 2009, 597 jeweils Rn. 7, vom 6. September 2012 - 2 B 31.12 - juris Rn. 11 und vom 9. Oktober 2014 - 2 [X.] - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 26 Rn. 36).

7

Zu den nach § 13 Abs. 1 [X.] bemessungsrelevanten Umständen gehört auch das Ergebnis einer vom Beamten im Hinblick auf das [X.]ienstvergehen begonnenen Verhaltenstherapie. [X.]ies gilt zu Lasten des Beamten wie auch zu seinen Gunsten. Persönlichkeitsbild und Verhaltensprognose sind ungünstig, wenn eine im Hinblick auf das [X.]ienstvergehen durchgeführte Therapie ohne Erfolg bleibt. [X.]agegen können nachträgliche Therapiemaßnahmen bei der Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme mildernd berücksichtigt werden, wenn eine günstige Zukunftsprognose gestellt werden kann (BVerwG, Urteile vom 27. November 2001 - 1 [X.] - juris Rn. 35 und vom 19. August 2010 - 2 [X.] 13.10 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 12 Rn. 29 f.).

8

Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den vom [X.]n begangenen Straftaten sowie zur Beeinträchtigung seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Zeitraum von Anfang März 2007 bis Mitte 2011 bedurfte es zur Beantwortung der Frage, wann der [X.] die Erfolglosigkeit dieser Therapie erkennen konnte, keines Sachverständigengutachtens. [X.]ass der Verhaltenstherapie der Erfolg versagt blieb, offenbarte sich mit jeder vorsätzlichen Körperverletzung, die der [X.] nach Beginn der Therapie jeweils zum Nachteil einer ihm nahestehenden Person begangen hat. [X.]ies zu erkennen, war dem [X.]n aufgrund der vom Oberverwaltungsgericht festgestellten unbeschränkt bestehenden Einsichtsfähigkeit und der allenfalls in kurzzeitigen Szenen ausgeschlossenen Steuerungsfähigkeit möglich.

9

b) Einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz sieht die Beschwerde des [X.]n darin begründet, dass das Oberverwaltungsgericht angenommen habe, der [X.] der abgeschlossenen Lebensphase sei nicht erfüllt, weil der Stellungnahme des den [X.]n seit 2011 behandelnden Therapeuten die hierfür erforderliche zureichende Stabilisierung nicht zu entnehmen sei. Auch der Vorwurf des Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist unbegründet.

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. [X.]araus folgt die Verpflichtung, der Überzeugungsbildung den im Verfahren festgestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde zu legen. [X.]as Gericht darf nicht einzelne entscheidungserhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse bei der Würdigung des Sachverhalts außer Acht lassen, insbesondere nicht Umstände übergehen, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 18. November 2008 - BVerwG 2 [X.] - [X.] 235.1 § 17 [X.] Nr. 1 Rn. 27 und vom 9. Oktober 2014 - 2 [X.] - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 26 Rn. 41).

Auch die Beschwerde geht davon aus, dass sich die Ausführungen des [X.] auf den in der Rechtsprechung "anerkannten" [X.] der Annahme von "Entgleisungen während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase" beziehen (BVerwG, Urteile vom 18. April 1979 - 1 [X.] - BVerwGE 63, 219 <220>, vom 23. August 1988 - 1 [X.] 136.87 - NJW 1989, 851, vom 3. Mai 2007 - 2 [X.] 9.06 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 3 Rn. 36 und vom 27. Januar 2011 - 2 A 5.09 - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 17 Rn. 39). [X.]iese Fallgruppe setzt aber voraus, dass die negative Lebensphase, die - auch - Ursache des [X.]ienstvergehens war, zum Zeitpunkt der Bemessung der [X.]isziplinarmaßnahme durch das Gericht vollständig überwunden ist.

Von der vollständigen Überwindung der psychischen Probleme des [X.]n kann aber angesichts der Bescheinigung des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 11. August 2014 und auch der persönlichen Erklärung des [X.]n vom 18. März 2015 nicht gesprochen werden. Es wird vielmehr dargelegt, dass beim Kläger eine tiefenpsychologische Therapie geboten ist, auch um die aus der Kindheit resultierenden Probleme zu bewältigen, die später in häufigen Auseinandersetzungen mit Partnerinnen und in Aggressionsdurchbrüchen zum Ausdruck gekommen sind. Zwar mag inzwischen der Gefahr einer erneuten Gewalttätigkeit gegenüber einer Partnerin durch die Therapie vorgebeugt sein. [X.]ie Fortsetzung der tiefenpsychologischen Therapie ist aber geboten, um die Probleme des [X.]n im Zusammenhang mit einer aktiven [X.]iensttätigkeit zu überwinden. Eine Rückkehr aus seinem Krankenstand ins Arbeitsleben hat der [X.] selbst als "absoluten Horror" bezeichnet. [X.]ie Fortsetzung der Therapie soll der weiteren Stabilisierung des [X.]n dienen, wobei nach der Bewertung des Therapeuten ein Ende der Behandlung wegen weiterer Belastungen nur schwer abzuschätzen ist.

c) [X.] ist es nach der Beschwerde des [X.]n schließlich, dass das Oberverwaltungsgericht bei der Bewertung, der [X.] habe seine ursprüngliche psychische Erkrankung noch nicht überwunden, für sich eine medizinische Sachkunde in Anspruch genommen habe, ohne diese nachvollziehbar zu belegen. Auch insoweit kann dem Oberverwaltungsgericht ein Verstoß gegen Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens nicht vorgehalten werden. [X.]abei kann dahingestellt bleiben, ob es sich um einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 58 Abs. 1 [X.] und § 86 Abs. 1 VwGO) handelte.

Entgegen dem Vorbringen des [X.]n hat das Berufungsgericht hinsichtlich der Frage, ob der [X.] seine psychische Erkrankung vollständig überwunden hat, für sich keine eigene medizinische Sachkunde in Anspruch genommen. Wie sich den Ausführungen in den Urteilsgründen entnehmen lässt, hat es insoweit vielmehr auf die vom [X.]n im Berufungsverfahren vorgelegte Bescheinigung des behandelnden Therapeuten vom 11. August 2014 abgestellt.

[X.]ie Kostenentscheidung folgt aus § 77 Abs. 1 [X.] und § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil für das Verfahren Gebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 78 [X.] erhoben werden.

Meta

2 B 43/15

22.03.2016

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend OVG Lüneburg, 23. April 2015, Az: 3 LD 2/14, Urteil

§ 13 Abs 1 BDG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22.03.2016, Az. 2 B 43/15 (REWIS RS 2016, 14094)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 14094

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

16b D 14.2351

16b D 13.993

35 K 6559/20

35 K 214/21

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