Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.06.2022, Az. 1 StR 139/22

1. Strafsenat | REWIS RS 2022, 4830

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Gegenstand

Strafverurteilung wegen Sexualdelikten: Beweiswürdigung bei Schweigen und/oder pauschalem Bestreiten des Tatvorwurfs


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 30. September 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, zwei Monaten und drei Wochen verurteilt.

2

Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

3

1. Nach den Feststellungen des [X.]s lernten sich der damals 23-jährige Angeklagte und die am 25. Mai 2003 geborene Nebenklägerin    Z.          am 12. Februar 2018 kennen und freundeten sich an.

4

a) Am Abend des 22. Februar 2018 berichtete die Nebenklägerin dem Angeklagten bei einem Besuch in dessen Wohnung, dass ihre Mitschüler sie ärgerten und ihr eine im Verhältnis zu ihrer schlanken Körperstatur unnatürliche Brustgröße nachsagten. Unter dem Vorwand, dem Angeklagten die von ihr genannte Körbchengröße ihres Büstenhalters beweisen zu wollen, zog sie ihren Pullover aus. Der Angeklagte beugte sich daraufhin zu ihr und öffnete, für die Nebenklägerin unerwartet, mit einer Hand den Verschluss ihres Büstenhalters; er wandte sich aber von ihr ab, weil die Nebenklägerin sogleich eine Decke über ihren Oberkörper zog und sich auf den Bauch legte.

5

Wenig später beugte sich der Angeklagte der wieder sitzenden Nebenklägerin erneut entgegen, fasste unvermittelt an ihren Hals und begann, sie zu würgen. Dabei drückte er die Nebenklägerin in eine liegende Position und zog mit der freien Hand die Decke von ihrem Körper. Sodann strich er mit seiner freien Hand und seinem Gesicht über ihren nackten Oberkörper und biss in ihre Brustwarzen.

6

Obwohl die Nebenklägerin versuchte, den Angeklagten wegzudrücken und ihn anschrie und aufforderte, von ihr abzulassen, reagierte der Angeklagte nicht, sondern setzte [X.] gegen den Willen der Nebenklägerin fort und ließ erst später mit den Worten „Geh, oder ich fick‘ dich“ von ihr ab.

7

Die Nebenklägerin zog sich daraufhin an und ging zur Tür, um die Wohnung zu verlassen. Der Angeklagte eilte ihr jedoch nach, umfasste mit einer Hand erneut ihren Hals und schlug ihren Kopf gegen einen Kühlschrank; sodann versuchte er, sie zu küssen. Der Nebenklägerin gelang es jedoch, sich dem Griff des Angeklagten zu entwinden und dessen Wohnung zu verlassen.

8

b) Am 17. März 2018 suchte die Nebenklägerin, die sich bereits am 24. Februar 2018 wieder mit dem Angeklagten versöhnt und während ihrer stationären Behandlung in der Jugendpsychiatrie vom 5. März bis 16. März 2018 mit ihm Briefkontakt gehalten hatte, den Angeklagten erneut in dessen Wohnung auf. Dort nahmen sich die Nebenklägerin und der Angeklagte in den Arm, küssten sich und legten sich gemeinsam auf das Sofa. Nach einiger Zeit führte der hinter der Nebenklägerin liegende Angeklagte mindestens einen Finger in die Scheide der Nebenklägerin ein. Dabei ging er irrtümlich davon aus, dass die Nebenklägerin mit dieser Behandlung einverstanden sei. Als sie ihm sagte, dass sie jetzt gehen müsse, da ihre Mutter sie zum Mittagessen erwarte, ließ der Angeklagte von ihr ab.

9

Die Nebenklägerin stand auf und begab sich in Richtung der Wohnungseingangstür; der Angeklagte eilte ihr jedoch wiederum nach und drückte mit seinem Oberkörper den Oberkörper der zur Tür gewandten Nebenklägerin von hinten so gegen die Tür, dass der Kopf der Nebenklägerin mit der Wange seitlich gegen die Tür gepresst wurde. Sodann fasste er mit einem Arm um die Nebenklägerin herum und führte mindestens einen Finger in ihre Scheide ein. Obwohl die Nebenklägerin den Angeklagten mehrfach aufforderte aufzuhören, ließ er erst nach einiger Zeit von ihr ab.

2. Das [X.] hat sich die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten vor allem auf Grund der Angaben der Nebenklägerin verschafft; der am zweiten und dritten [X.] abgegebenen Einlassung des die Tat bestreitenden Angeklagten ist sie nicht gefolgt.

II.

1. Die Verurteilung des Angeklagten hält einer sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil die Beweiswürdigung des [X.]s nicht frei von [X.] ist (§ 261 StPO). Das [X.] hat in unzulässiger Weise aus dem anfänglichen Schweigen des Angeklagten für diesen nachteilige Schlüsse gezogen.

a) Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Es steht dem Angeklagten frei, ob er sich zur Sache einlässt oder nicht zur Sache aussagt (§ 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein [X.] befürchten müsste (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 28. Mai 2014 – 3 [X.] Rn. 2 mwN). Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der anfänglichen Aussageverweigerung – und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte erstmals einlässt – nachteilige Schlüsse gezogen werden ([X.], Beschlüsse vom 13. Oktober 2015 – 3 [X.] Rn. 5 und vom 17. September 2015 – 3 StR 11/15 Rn. 5).

b) Gegen diesen Grundsatz der [X.] des Angeklagten hat das [X.] verstoßen.

aa) In den Urteilsgründen hat es beweiswürdigend ausgeführt, der Angeklagte habe ein „ausgesprochen taktisches [X.]“ gezeigt ([X.]). Als ihm am ersten [X.] Gelegenheit gegeben worden sei, sich zur Sache einzulassen, habe er noch von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht; erst nach der Vernehmung der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung habe er eine erste Einlassung zur Sache abgegeben ([X.] 12).

Der vom Angeklagten gewählte Einlassungszeitpunkt im September 2021 sei „auffällig“ ([X.]). Ihm sei das Verfahren bereits seit 2018 bekannt gewesen; gleichwohl habe er sich erst eingelassen, nachdem die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung vernommen worden sei und einen unerwartet stabilen Eindruck hinterlassen habe; noch im Ermittlungsverfahren habe er keine Angaben zur Sache gemacht, sondern lediglich geäußert, sich nicht an einen Vorfall erinnern zu können, der einen solchen Vorwurf rechtfertige; auch im [X.] mit dem psychiatrischen Sachverständigen habe er die Tatvorwürfe aus der Anklageschrift „nur weitgehend pauschal als unrichtig bestritten“ ([X.] f. und 15 f.). Die [X.] habe hierdurch den Eindruck gewonnen, der Angeklagte habe mit Absicht die ihm am ersten [X.] eingeräumte Gelegenheit für eine Einlassung zur Sache verstreichen lassen; vermutlich in der Hoffnung, die Nebenklägerin werde aufgrund ihrer psychischen Belastung gar nicht in der Lage sein, in der Hauptverhandlung eine „brauchbare" Aussage zu machen, habe er deren Aussage abgewartet, damit er seine Einlassung entsprechend anpassen könne ([X.] f.). Die „eindeutig taktisch motivierten“ Angaben des Angeklagten haben zwar keinen Beleg für dessen Schuld erbracht; seine Einlassung habe jedoch auch keinen positiven Erkenntniswert ([X.] 19).

bb) Mit dieser Würdigung hat das [X.] rechtsfehlerhaft darauf abgestellt, dass der Zeitpunkt der Einlassung des Angeklagten gegen deren Richtigkeit spreche. Das [X.] hat nicht allein – was für sich genommen zulässig gewesen wäre – darauf abgehoben, dass einer in Kenntnis der Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung abgegebenen Einlassung ein geringerer Beweiswert beigemessen werden kann, weil der Angeklagte die Möglichkeit hatte, seine Darstellung an deren Inhalte und die bisherigen [X.] insgesamt anzupassen (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 5 [X.] und Urteil vom 5. Juli 2017 – 2 [X.] Rn. 9, jeweils mwN). Vielmehr hat es aus dem vom Angeklagten gewählten Einlassungszeitpunkt auf dessen Verteidigungstaktik geschlossen und seiner „eindeutig taktisch motivierten“ Einlassung einen geringeren Wert zugemessen. Damit hat es in unzulässiger Weise die Gründe für sein [X.] bewertet und aus dem Zeitpunkt seiner Einlassung nachteilige Schlüsse für den Angeklagten gezogen.

cc) Es liegt auch kein Fall einer der Beweiswürdigung zugänglichen Teileinlassung vor. Das pauschale Bestreiten des [X.] durch den Angeklagten im Ermittlungsverfahren ist einem Schweigen gleichzusetzen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 5. September 2012 – 1 [X.] Rn. 7 und vom 17. Juni 1992 – 1 [X.] Rn. 30; Urteil vom 26. Mai 1992 – 5 [X.], [X.]St 38, 302, 307). Näheres zum „nur weitgehend pauschal(en)“ Bestreiten des Angeklagten im Rahmen seiner Exploration teilen die [X.] nicht mit, so dass hieraus nichts anderes folgt.

Unabhängig davon könnten aus dem Einlassungsverhalten des Angeklagten unter dem Gesichtspunkt des Teilschweigens keine für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden. Das teilweise Schweigen eines Angeklagten darf als Beweisanzeichen zu seinem Nachteil nur verwertet werden, wenn dieser im Rahmen einer Einlassung zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen zu dem betreffenden Teilaspekt auch auf konkrete Nachfrage hin keine Antwort gegeben hat oder nach den Umständen Angaben zu dem verschwiegenen Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich lediglich fragmentarischer Natur sind (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Dezember 2021 – 3 [X.] Rn. 11 mwN). Dies ist nach den [X.] nicht der Fall.

2. Da die Sache bereits aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers neuer tatgerichtlicher Verhandlung und Entscheidung bedarf, braucht der Senat der bedenklichen Erwägung des [X.]s, dass der Einlassung des Angeklagten auch deshalb keinen Glauben geschenkt werden könne, weil dieser außerhalb strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in zwei Situationen die Unwahrheit gesagt habe, um sich in einem positiven oder zumindest interessanten Licht darzustellen ([X.] 16), nicht weiter nachzugehen.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Aus den Urteilsgründen muss sich ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. etwa [X.], Urteil vom 13. Oktober 2020 – 1 [X.] Rn. 8); der neu zur Verhandlung und Entscheidung berufene Tatrichter wird Gelegenheit haben, die zutage getretenen Widersprüche in den Angaben der Nebenklägerin eingehender als bisher geschehen in ihrer Gesamtheit zu würdigen.

Raum     

      

Jäger     

      

Bellay

      

Hohoff     

      

Pernice     

      

Meta

1 StR 139/22

01.06.2022

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Waldshut-Tiengen, 30. September 2021, Az: 4 KLs 22 Js 6199/18

§ 136 Abs 1 S 2 StPO, § 243 Abs 5 S 1 StPO, § 261 StPO, § 267 StPO, § 177 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.06.2022, Az. 1 StR 139/22 (REWIS RS 2022, 4830)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 4830

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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