Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.12.2017, Az. B 8 SO 63/16 B

8. Senat | REWIS RS 2017, 632

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - (mindestens) partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - keine ordnungsgemäße Vertretung - absoluter Revisionsgrund


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 7. Dezember 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger hat vor dem Sozialgericht ([X.]) [X.] Ansprüche auf Überprüfung seines Anspruchs auf Leistungen nach dem [X.] - ([X.]) gegenüber der Beklagten geltend gemacht. Das [X.] hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Urteil vom [X.]). Das [X.] (L[X.]) [X.] hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 7.12.2015). Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, trotz des Einwands des [X.], er könne sich im Gericht nicht vertreten und benötige Beistand, habe es nach Auswertung eines im Auftrag der [X.] ([X.]) [X.] in Auftrag gegebenen Gutachtens aus Februar 2013 und der persönlichen Anhörung des [X.] einen besonderen Vertreter nicht bestellt. Es halte den Kläger für geschäfts- und damit auch prozessfähig.

2

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss und macht geltend, das L[X.] habe nicht beachtet, dass er prozessunfähig sei. Dies habe schon vor dem [X.] dazu geführt, dass er keine sachdienlichen Anträge in der mündlichen Verhandlung habe stellen können, in der insgesamt drei Verfahren verhandelt worden seien, die er am selben Tag wegen der Höhe der Ansprüche von Juni 2013 bis April 2014 unter verschiedenen Aspekten anhängig gemacht habe und die nach seiner Auffassung denselben Lebenssachverhalt beträfen. Dies habe sich im Berufungsverfahren fortgesetzt. Wäre er ordnungsgemäß vertreten gewesen, hätte er eine Verbindung der Rechtsstreitigkeiten beantragt und geordnet zur Sache vorgetragen.

3

II. [X.] ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] Sozialgerichtsgesetz ([X.]G). [X.] ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem [X.], weil das L[X.] zu Unrecht von einer Prozessfähigkeit des [X.] ausgegangen ist und er deshalb nicht wirksam vertreten war (§ 202 [X.]G iVm § 547 [X.] Zivilprozessordnung ); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass der Beschluss des L[X.] auf ihm beruht. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 [X.]G).

4

Die (zumindest) partielle [X.]keit des [X.] stellt kein Verfahrenshindernis für die vorliegende Beschwerde dar. Ein Rechtsmittel, in welchem sich ein Beteiligter auf seine [X.]keit beruft, ist zunächst ohne Rücksicht darauf zulässig, ob die für die Prozessfähigkeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden; entsprechend ist auch die zur Einlegung des Rechtsmittels erteilte [X.] wirksam. Die Prozessfähigkeit ist dann grundsätzlich solange zu unterstellen, bis darüber rechtskräftig entschieden ist (vgl nur B[X.]E 91, 146 = [X.]-1500 § 72 [X.] RdNr 6). Im Übrigen hat der Vorsitzende des Senats für das weitere Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde den Prozessbevollmächtigten des [X.] als besonderen Vertreter (vgl § 72 Abs 1 [X.]G) bestellt, nachdem der Senat zur Überzeugung gelangt ist, dass eine (partielle) [X.]keit vorliegt.

5

Der Kläger ist und war im gesamten Verfahren prozessunfähig. Ihm ist eine sachgerechte [X.] nicht möglich. [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.]G), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (vgl § 104 [X.]) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (dazu etwa Lange in [X.], 8. Aufl 2017, § 104 Rd[X.]2 ff mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen (Geschäfts- und) [X.]keit führen, bei der sich die [X.]keit auf einen gegenständlich begrenzten Lebensbereich beschränkt (stRspr seit BGHZ 18, 184, 186 f; 30, 112, 117 f). Soweit eine solche partielle [X.]keit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (B[X.] SozR 3-1500 § 160a [X.]2 S 65). Eine solche [X.]keit zumindest bezogen auf die Führung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren liegt und lag nach dem Ergebnis der Ermittlungen zur Überzeugung des Senats vor; ob die Geschäftsfähigkeit des [X.] insgesamt aufgehoben ist, wovon der Sachverständige ausgeht, kann offenbleiben.

6

Nach den Feststellungen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin B in seinem vom Senat in Auftrag gegebenen neuropsychiatrischen Gutachten (vom 7.11.2017) besteht beim Kläger eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis ([X.]) mit einer dafür typischen Wahnsymptomatik im Sinne eines systematischen Wahns, Ichstörungen, formalen Denkstörungen, Manierismus, fehlender Kohärenz und einer fehlenden Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Der Sachverständige hat im Einzelnen überzeugend ausgeführt, dass sich auf Grundlage der Akten, eines etwa einstündigen Gesprächs mit dem Kläger und einer Textanalyse verschiedener Schreiben nach neurolinguistischen und psycholinguistischen Kriterien ausreichende Hinweise dafür ergeben hätten, dass es sich um ein chronifiziertes Bild einer solchen Erkrankung handele, nicht dagegen um eine Persönlichkeitsstörung (im Sinne etwa eines Querulantenwahns). Entscheidend für die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit/Prozessfähigkeit sei eine Einschränkung in der sog [X.], die es ihm - dem Kläger - erschwere, zB in Gerichtsverfahren Informationen korrekt einzuordnen. Zudem sei das sog [X.] beeinträchtigt. Es gelinge dem Kläger (als Ausdruck seiner formalen Denkstörung) nicht, wichtige Inhalte, auf die er sich beim Schreiben und beim Sprechen beziehen sollte, sinnvoll zu verknüpfen; er beziehe sein Gegenüber schließlich nicht ausreichend mit ein. Die Einengung des Denkens beeinträchtige sein Urteilsvermögen. Eine Einsichtsfähigkeit als Kriterium für die Fähigkeit, den Willen frei und unbeeinträchtigt von einer Störung bilden zu können, fehle ebenfalls. Durch die Psychose sei die Wahrnehmung des [X.] in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass schon bei einfachen Vertragsschlüssen im täglichen Leben die Wahrscheinlichkeit, dass Inhalte wahnhaft fehlinterpretiert würden, sehr hoch sei. Dem entsprechend sei die Fähigkeit, eigene Angelegenheiten vor Gericht zu vertreten, massiv eingeschränkt und eingeschränkt gewesen.

7

Diese gutachterliche Einschätzung, die wegen der aus der Erkrankung folgenden Einschränkungen im [X.] mit früheren Gutachten übereinstimmt, wird durch das Verhalten des [X.] im Verlauf des Prozesses bestätigt. Schon von Beginn des Verfahrens sind die vom Sachverständigen beschriebenen Defizite in den Schreiben des [X.] erkennbar. Zur Überzeugung des Senats ist damit von Klageerhebung an von (zumindest partieller) [X.]keit auszugehen; ein Fall der Unterbrechung nach § 202 [X.]G iVm § 241 ZPO liegt deshalb nicht vor.

8

Das L[X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 63/16 B

14.12.2017

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Braunschweig, 4. Juni 2014, Az: S 32 SO 196/13, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.12.2017, Az. B 8 SO 63/16 B (REWIS RS 2017, 632)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 632

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