Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.12.2022, Az. VIII ZR 96/22

8. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 8503

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Räumungsverfahren: Gehörsverletzung bei Nichtberücksichtigung eines Beweisangebots zur Erkrankung des Wohnraummieters


Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des [X.] - 12. Zivilkammer - vom 12. April 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als hinsichtlich der Härteregelung nach §§ 574 ff. [X.] zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist.

Im Übrigen wird die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorstehend genannten Urteil zurückgewiesen.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.]s, an eine andere Kammer des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Gerichtskosten für das [X.] werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des [X.]s wird auf 6.702,96 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die [X.] ist seit dem [X.] Mieterin einer Zweizimmerwohnung in [X.]      . Die klagenden Vermieter beziehungsweise deren Rechtsvorgänger (im Folgenden: Kläger) verlangen von ihr nach einer mit Schreiben vom 20. März 2020 erklärten ordentlichen Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs in der Person des [X.] zu 3 die Räumung und Herausgabe der Wohnung.

2

Mit Schreiben des [X.] vom 30. Oktober 2020 ließ die [X.] der Kündigung widersprechen. Zur Begründung wurde in diesem Schreiben unter anderem angeführt, bei der [X.] liege eine seelische Belastung durch den Verlust eines Babys während der [X.] vor; sie sei sehr angeschlagen und leide an Angststörungen und Mutlosigkeit.

3

Mit der vorliegenden Klage haben die Kläger die [X.] auf Räumung und Herausgabe der Wohnung in Anspruch genommen. Die [X.] hat im Wege der Hilfswiderklage begehrt, die Kläger zu verurteilen, den Mietvertrag über die streitgegenständliche Wohnung auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.

4

Vor dem Amtsgericht hat die [X.] - soweit für das [X.] von Bedeutung - vorgetragen, sie leide an einer Depression und einem posttraumatischen Belastungssyndrom sowie unter Angstzuständen. Durch den Verlust eines Kindes im vierten Schwangerschaftsmonat sei ihre bereits zuvor vorhandene depressive Grundeinstellung erheblich belastet worden. Aufgrund ihrer Erkrankungen sei die Wohnung ein Rückzugsort, der ihr letzte Sicherheit gebe. Sollte sie diesen verlieren, verlöre sie auch den letzten psychischen Halt und würde sich die Depression derart verstärken, dass sie Gefahr laufe, ein eigenständiges Leben nicht mehr führen zu können.

5

Das Amtsgericht hat der Klage ohne Beweisaufnahme unter Gewährung einer Räumungsfrist stattgegeben und die Hilfswiderklage abgewiesen.

6

In der Berufungsbegründung hat die [X.] vorgetragen, sie sei krankheitsbedingt nicht in der Lage, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben. Sie leide seit Jahren an einer psychischen Erkrankung mit Angstzuständen und Verlustängsten. Mit weiterem Schriftsatz hat die [X.] im Berufungsverfahren unter Vorlage eines [X.] eines Facharztes für Allgemeinmedizin, psychosomatische Medizin und Psychotherapie zudem vorgetragen, sie leide an einer langjährigen und wiederkehrenden rezidivierenden depressiven Störung in derzeit schwergradiger depressiver Episode. In dem vorgelegten "[X.]" (im Folgenden auch: Attest) heißt es insbesondere, es bestehe bei der [X.] eine langjährige und wiederkehrende depressive Störung mit deutlich gedrückter Stimmung, ausgeprägter Antriebsminderung, formalgedanklichen Einschränkungen, Angstzuständen und vegetativer Begleitsymptomatik. Die derzeitige Nichtinanspruchnahme von psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten sei dem Schweregrad ihrer Störung geschuldet. Die im Raum stehende Zwangsräumung ihrer Wohnung könnte die über Jahre chronifizierte schwergradige depressive Störung der [X.] erheblich vertiefen, selbstgefährdende Tendenzen seien dabei nicht sicher auszuschließen. Auf sich allein gestellt sei die [X.] mit der Organisation und den Veränderungen, die mit einem Wohnungswechsel verbunden seien, durch [X.] und die damit verminderte Veränderungsflexibilität überfordert.

7

Die Kläger haben die von der [X.] vorgetragenen gesundheitlichen Einschränkungen in Abrede gestellt.

8

Das [X.] hat die [X.] persönlich angehört und ihre Berufung ohne Beweiserhebung unter Gewährung einer weiteren Räumungsfrist zurückgewiesen.

9

Die Revision hat das [X.] nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.], mit der sie die Zulassung der Revision mit dem Ziel begehrt, ihre aufgrund des Widerspruchs gegen die Kündigung erhobene Hilfswiderklage unter gleichzeitiger Abweisung des auf Räumung gerichteten Begehrens der Kläger weiterzuverfolgen.

II.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:

Den Klägern stehe ein Anspruch auf Räumung und Herausgabe gemäß § 546 Abs. 1 [X.] zu, weil die ordentliche Kündigung vom 20. März 2020 das Mietverhältnis gegenüber der [X.] beendet habe. Die Hilfswiderklage der [X.], die auf unbefristete Fortsetzung des Mietverhältnisses abziele, sei zwar zulässig, aber unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 1 Satz 1 [X.] von der [X.] nicht schlüssig vorgebracht worden seien. Dies gelte unter anderem für die Behauptung der [X.], ihr sei ein Umzug wegen einer bestehenden Erkrankung nicht zuzumuten. Die [X.] habe weder substantiiert zu ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen noch aussagekräftige fachärztliche Atteste vorgelegt. Der von ihr eingereichte ärztliche Befundbericht sei unverständlich und unschlüssig und stelle kein aussagekräftiges fachärztliches Attest im Sinn der Rechtsprechung des [X.] dar. Die in dem Befundbericht dargestellte Anamnese sei "bestenfalls lückenhaft". Der Befundbericht entspreche nicht den Anforderungen, die an ein aussagekräftiges fachärztliches Attest zu stellen seien, er habe "gerade keine Aussagekraft". Unter Berücksichtigung der Angaben der [X.] in ihrer Anhörung erschließe sich die Anamnese in dem fachärztlichen Befundbericht nur unzureichend, was insbesondere für die festgehaltene Diagnose der rezidivierenden depressiven Störung gelte. Weder aus der Anamnese in dem Befundbericht noch aus den Angaben der [X.] vor dem Berufungsgericht ergäben sich Anhaltspunkte für rezidivierende depressive Störungen der [X.] in der Vergangenheit. Diese Schlussfolgerung sei aus den Angaben des [X.] nicht nachzuvollziehen. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass der Befundbericht einerseits Suizidgedanken der [X.] verneine, andererseits selbstgefährdende Tendenzen nicht sicher ausschließen wolle. Insgesamt fehle es an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten tatsächlichen Voraussetzungen für die notwendige Einholung eines Sachverständigengutachtens.

III.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist der [X.] nach § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erreicht. Sie hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch in der Sache Erfolg, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, da über ihre Behauptungen zum Vorliegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung sowie zu den Auswirkungen einer Räumung auf ihre gesundheitliche Situation der (angebotene) Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht erhoben wurde. Dies führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, soweit hinsichtlich der Härteregelung nach §§ 574 ff. [X.] zum Nachteil der [X.] erkannt worden ist.

1. Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines solchen erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (st. Rspr.; siehe etwa [X.] 65, 305, 307; 69, 141, 143 f.; [X.]sbeschlüsse vom 28. Januar 2020 - [X.], NJW 2020, 1740 Rn. 4; vom 26. Mai 2020 - [X.], NJW-RR 2020, 1019 Rn. 13; vom 12. Oktober 2021 - [X.], NJW-RR 2022, 86 Rn. 16 f.; jeweils mwN).

2. So liegen die Dinge hier.

a) Das Berufungsgericht durfte das Vorliegen einer Härte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 [X.]) - die im Übrigen bereits im Rahmen der Prüfung des Bestehens des [X.] gemäß § 546 Abs. 1 [X.] im [X.] an die Bejahung der Wirksamkeit der ([X.] nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 [X.] und nicht erst im Rahmen der ([X.] zu prüfen gewesen wäre (vgl. [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, [X.], 133 Rn. 15 ff., 24 ff.) - nicht verneinen, ohne den (angebotenen) [X.] zu dem behaupteten Beschwerdebild sowie zu den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs für die [X.] zu erheben.

aa) Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 [X.] kann der Mieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn dessen Beendigung für ihn, seine Familie oder seine Haushaltsangehörigen eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

(1) Der Tatrichter ist dabei gehalten, sich durch gründliche und sorgfältige Sachverhaltsfeststellung vom Vorliegen der von dem Mieter geltend gemachten Härtegründe und der berechtigten Interessen des Vermieters zu überzeugen. Einen Härtegrund in diesem Sinn stellt - soweit vorliegend von Relevanz - die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation eines (schwer) erkrankten Mieters im Falle eines Wohnungswechsels dar (vgl. [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 31, 37; [X.]sbeschlüsse vom 26. Mai 2020 - [X.], NJW-RR 2020, 1019 Rn. 16; vom 30. August 2022 - [X.], NJW-RR 2022, 1453 Rn. 14).

(2) Bei der anschließenden Würdigung und Gewichtung der beiderseitigen Belange haben die Tatsacheninstanzen darauf zu achten, sich nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlich verbürgten Rechtspositionen der Mietvertragsparteien zu setzen. Weiter haben sie zu berücksichtigen, dass die Abwägung stets auf der Grundlage der sorgfältig festzustellenden Einzelfallumstände zu erfolgen hat ([X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 37; [X.]sbeschlüsse vom 26. Mai 2020 - [X.], aaO Rn. 17; vom 30. August 2022 - [X.], aaO Rn. 15; siehe auch [X.]surteil vom 3. Februar 2021 - [X.], NJW-RR 2021, 461 Rn. 25, 38 mwN).

Macht der Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels durch hinreichend substantiierten Prozessvortrag ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen daher - beim Fehlen eigener Sachkunde - regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann. Diese Verpflichtung zu besonders sorgfältiger Nachprüfung des [X.] bei schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt nicht zuletzt aus der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. [X.]surteile vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 41, und [X.], NJW-RR 2019, 972 Rn. 37; [X.]sbeschlüsse vom 26. Mai 2020 - [X.], aaO Rn. 18; vom 30. August 2022 - [X.], aaO Rn. 16; siehe auch [X.], NJW 2022, 2537 Rn. 23; [X.], 1540 Rn. 40 [jeweils zu § 765a ZPO]).

Dabei sind nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären ist. Erst dies versetzt den Tatrichter in einem solchen Fall in die Lage, die Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden sind, im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 [X.] notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten ([X.]surteile vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 44, und [X.], aaO Rn. 38; jeweils mwN; vom 28. April 2021 - [X.], NJW-RR 2021, 1312 Rn. 31; [X.]sbeschlüsse vom 26. Mai 2020 - [X.], aaO Rn. 19; vom 30. August 2022 - [X.], aaO Rn. 17).

(3) Der erforderliche hinreichend substantiierte Vortrag des Mieters kann insbesondere durch Vorlage eines (ausführlichen) fachärztlichen Attests untermauert werden (vgl. [X.]surteile vom 28. April 2021 - [X.], aaO Rn. 28; vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 44, 48, und [X.], aaO Rn. 38; [X.]sbeschluss vom 26. Mai 2020 - [X.], aaO Rn. 19 ff.). Von einem Mieter als medizinischen Laien ist - wie im Ausgangspunkt noch rechtsfehlerfrei auch das Berufungsgericht angenommen hat - über die Vorlage eines solchen fachärztlichen Attests hinaus nicht zu verlangen, noch weitere - meist nur durch einen Gutachter zu liefernde - Angaben zu den gesundheitlichen Folgen, insbesondere zu deren Schwere und zu der Ernsthaftigkeit zu befürchtender Nachteile, zu tätigen (vgl. [X.]surteile vom 28. April 2021 - [X.], aaO; vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO; [X.], NJW-RR 1993, 463, 464 [zur ausreichenden Substantiierung eines auf ein ausführliches ärztliches Attest gestützten Vortrags]; siehe auch [X.]surteil vom 3. Februar 2021 - [X.], NJW-RR 2021, 461 Rn. 44 mwN).

bb) Hiernach durfte das Berufungsgericht nicht von der Einholung eines Sachverständigengutachtens zu den nach der Darlegung der [X.] bei einem erzwungenen Umzug drohenden schwerwiegenden Gesundheitsgefahren absehen. Denn in dem von der [X.] vorgelegten Attest stellt ein Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie die Diagnose, bei der [X.] bestehe eine rezidivierende depressive Störung bei derzeit schwergradiger depressiver Episode, und führt aus, dass die im Raum stehende Zwangsräumung ihrer Wohnung die über Jahre chronifizierte schwergradige depressive Störung der [X.] erheblich vertiefen könnte, wobei selbstgefährdende Tendenzen nicht sicher auszuschließen seien.

(1) Der Umstand, dass die [X.] in ihrem [X.] das Vorliegen einer Depression - neben der dort angeführten seelischen Belastung durch den Verlust eines Babys, den Angststörungen und der Mutlosigkeit - noch nicht (ausdrücklich) geltend gemacht hat, ist - wie das Berufungsgericht insoweit nicht verkannt hat - unschädlich, denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob das durch eine wirksame Kündigung beendete Mietverhältnis aufgrund einer Anordnung des Gerichts gemäß § 574a [X.] fortzusetzen ist, ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, [X.], 133 Rn. 32; [X.]sbeschluss vom 30. August 2022 - [X.], NJW-RR 2022, 1453 Rn. 24; jeweils mwN).

(2) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch - ersichtlich ohne eigene, von ihm auch nicht aufgezeigte (vgl. hierzu [X.]surteile vom 15. März 2017 - [X.], NJW 2017, 1474 Rn. 29; vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 43) Sachkunde - das vorgelegte fachärztliche Attest als "unverständlich und unschlüssig" beurteilt und angenommen, dieses habe "keine Aussagekraft". Soweit das Berufungsgericht hierbei gemeint hat, die in dem Attest dargestellte Anamnese sei nicht ausreichend für die darin erfolgte fachärztliche Diagnose und Beurteilung der für die [X.] aus einem erzwungenen Umzug drohenden Folgen, fehlt dem Berufungsgericht dafür - offensichtlich - die erforderliche medizinische Sachkunde. Insbesondere verfügt das Berufungsgericht für seine Einschätzung, wonach der Umstand, dass sich die [X.] nach dem [X.] nicht mehr in "psychische/psychiatrische Behandlung" begeben habe, gegen eine weitere psychische Belastung der [X.] und auch gegen ihre Prozessbehauptung spreche, ihr Krankheitsbild stehe der Aufnahme einer Behandlung entgegen, ersichtlich nicht selbst über die erforderliche medizinische Sachkunde. In dem von der [X.] vorgelegten fachärztlichen Attest heißt es demgegenüber - wozu sich das Berufungsgericht in Widerspruch gesetzt, womit es sich aber gleichwohl nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat -, die Nichtinanspruchnahme von Behandlungsmöglichkeiten durch die [X.] sei dem Schweregrad ihrer Störung geschuldet.

Wenn das Berufungsgericht im Weiteren angenommen hat, unter Berücksichtigung der Angaben der [X.] im Rahmen ihrer Anhörung vor der Kammer erschließe sich die Anamnese in dem vorgelegten Attest nur unzureichend, was insbesondere auch für die festgehaltene Diagnose der rezidivierenden depressiven Störung gelte, dann fehlt ihm auch hierfür - offensichtlich - die notwendige Sachkunde. Soweit das Berufungsgericht darüber hinaus einen Widerspruch in dem vorgelegten Attest darin zu erkennen meint, dass der Arzt Suizidgedanken der [X.] verneint und gleichzeitig selbstgefährdende Tendenzen nicht sicher ausschließen kann, ist auch dies rechtlich zu beanstanden, da das Berufungsgericht die entsprechenden Ausführungen aus ihrem inhaltlichen Zusammenhang reißt. Denn der Facharzt verneint in dem Attest - bezogen auf den Zeitpunkt seiner Beurteilung - gegenwärtige Suizidgedanken der [X.], während er für die im Raum stehende Zwangsräumung - also auf die Zukunft bezogen - selbstgefährdende Tendenzen der [X.] nicht auszuschließen vermag.

b) Die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Dies gilt zunächst bei richtiger Sachbehandlung, wonach der [X.] gemäß §§ 574 ff. [X.] bereits im Rahmen der Klage von Amts wegen (§ 308a ZPO) zu prüfen gewesen wäre. Entsprechendes gilt aber auch, wenn das Gericht - wie hier - die nach § 308a ZPO im Rahmen der Klage gebotene Prüfung unterlassen hat, für die erhobene ([X.]. Denn die Bestimmung des § 308a ZPO schließt die Erhebung einer ([X.] des Mieters nicht aus (vgl. [X.]/[X.], [X.], [X.]. 2021, § 574a Rn. 10; MünchKomm[X.]/Häublein, 8. Aufl., § 574a Rn. 9; [X.]/[X.], Stand: 1. August 2022, § 574a [X.] Rn. 11; BeckOGK-[X.]/[X.], Stand: 1. Oktober 2022, § 574a Rn. 24). Im Streitfall kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Vorliegen eines Härtegrundes im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 [X.] ausgegangen wäre (vgl. [X.]sbeschluss vom 26. Mai 2020 - [X.], NJW-RR 2020, 1019 Rn. 27 mwN).

Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht - im Fall der Bejahung einer Härte in vorstehendem Sinne - bei der anschließenden Würdigung und Gewichtung der beiderseitigen Belange der Parteien die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der [X.] sowie deren etwaige - wie ausgeführt hinsichtlich Art, Umfang sowie den konkreten Auswirkungen im Einzelnen durch Sachverständigengutachten zu klärende - Verschlechterungen im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels mit ihrem entsprechenden Gewicht in die gebotene Abwägung mit den Interessen der Kläger eingestellt hätte und damit im Ergebnis zu einer abweichenden Beurteilung des Fortsetzungsverlangens der [X.] (§§ 574, 574a [X.]) gelangt wäre (vgl. [X.]sbeschluss vom 26. Mai 2020 - [X.], aaO Rn. 28; vgl. ferner [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.], NJW-RR 2019, 972 Rn. 35; zur Interessenabwägung [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, aaO Rn. 36 ff.).

3. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen [X.] hat der [X.] geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 2 ZPO).

IV.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung - unter Beachtung der Rechtsauffassung des [X.]s (§ 563 Abs. 2 ZPO) - an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Der [X.] macht dabei von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch, der auch im Beschlussverfahren nach § 544 Abs. 9 ZPO entsprechend herangezogen werden kann ([X.]sbeschlüsse vom 26. Mai 2020 - [X.], NJW-RR 2020, 1019 Rn. 29 mwN; vom 30. August 2022 - [X.], NJW-RR 2022, 1453 Rn. 23).

Gerichtskosten für das [X.] werden gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG nicht erhoben.

Für das weitere Berufungsverfahren weist der [X.] vorsorglich darauf hin, dass der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz den maßgeblichen Zeitpunkt sowohl für die nach wirksamem Widerspruch des Mieters gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 [X.] vorzunehmende Abwägung der wechselseitigen Interessen von Vermieter und Mieter (siehe hierzu bereits oben unter [X.]) darstellt als auch für die sich anschließende Beurteilung, ob beziehungsweise für welchen Zeitraum das durch wirksame ordentliche Kündigung gemäß § 573 [X.] beendete Mietverhältnis nach § 574a [X.] fortzusetzen ist (vgl. [X.]surteil vom 22. Mai 2019 - [X.]/18, [X.], 133 Rn. 32; vom 30. August 2022 - [X.], NJW-RR 2022, 1453 Rn. 24; jeweils mwN).

Der [X.] weist für das weitere Verfahren außerdem darauf hin, dass § 574a [X.] dem Gericht - gemäß § 308a ZPO auch ohne entsprechenden Antrag - weite Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, das Mietverhältnis zu Bedingungen fortzusetzen, die den Interessen beider Parteien möglichst nahe kommen (vgl. [X.]surteil vom 15. März 2017 - [X.], NJW 2017, 1474 Rn. 32).

[X.]     

  

Dr. Bünger     

  

Dr. Schmidt

  

Dr. [X.]     

  

Dr. Reichelt     

  

Meta

VIII ZR 96/22

13.12.2022

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG München II, 12. April 2022, Az: 12 S 3526/21

Art 103 Abs 1 GG, § 574 Abs 1 S 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.12.2022, Az. VIII ZR 96/22 (REWIS RS 2022, 8503)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8503

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VIII ZR 6/19 (Bundesgerichtshof)

Räumungsprozess nach Eigenbedarfskündigung: Erforderlichkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur krankheitsbedingten Unzumutbarkeit eines Umzugs für den …


VIII ZR 64/19 (Bundesgerichtshof)

Kündigung eines Wohnraummietvertrags: Gerichtliche Berücksichtigung des Vortrags zur unzumutbaren Härte


VIII ZR 68/19 (Bundesgerichtshof)

Eigenbedarfskündigung bei Wohnraummiete: Interessenabwägung bei hohem Lebensalter des Mieters und langjähriger Mietdauer; nicht zu rechtfertigende …


VIII ZR 429/21 (Bundesgerichtshof)

Räumungsprozess nach Kündigung des Wohnraummietvertrages: Notwendige Beweiserhebung des Berufungsgerichts über den Einwand der unzumutbaren Härte …


VIII ZR 81/20 (Bundesgerichtshof)

Wohnraummiete: Widerspruch des langjährigen Mieters gegen eine an sich gerechtfertigte ordentliche Kündigung des Vermieters; Härtegründe


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.