Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.03.2021, Az. B 1 KR 51/20 B

1. Senat | REWIS RS 2021, 7453

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - Berufung gegen einen Gerichtsbescheid - Feststehen einer mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht - absoluter Revisionsgrund


Tenor

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des [X.] vom 4. Juni 2020 - L 9 KR 290/20 - gewährt.

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 4. Juni 2020 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten über die Erstattung bzw Übernahme der Kosten für ein Arzneimittel.

2

Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger beantragte bei dieser unter Übersendung eines [X.] die Erstattung der Kosten für das Arzneimittel Carmenthin in Höhe von 12,97 Euro. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da es sich um ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel handele (Bescheid vom [X.], Widerspruchsbescheid vom 7.4.2020). Das [X.] hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen (Gerichtsbescheid vom 13.5.2020). In der Rechtsmittelbelehrung hat es ausgeführt, der Gerichtsbescheid könne nicht mit der Berufung angefochten werden. Es könne beim [X.] Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt oder beim L[X.] Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt werden. Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid beim L[X.] "Berufung" eingelegt. Das L[X.] hat den Kläger darauf hingewiesen, dass die Berufung unzulässig sei. Es hat auf die Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheides des [X.] verwiesen und darauf hingewiesen, dass der Kläger einen Antrag auf mündliche Verhandlung nicht gestellt habe. Es hat angekündigt, die Berufung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen (Schreiben vom 28.5.2020). Der Kläger hat geltend gemacht, der Wert übersteige 750 Euro. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung sei selbstverständlich; das müsse er nicht beantragen. Die Berufung sei zugelassen worden. Das L[X.] hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie eine Geldleistung von weniger als 750 Euro betreffe und vom [X.] nicht zugelassen worden sei. Die Entscheidung habe ohne Mitwirkung [X.] durch Beschluss ergehen können (Beschluss vom 4.6.2020).

3

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das L[X.] und rügt einen Verfahrensmangel.

4

II. 1. Dem Kläger war von Amts wegen gemäß § 67 [X.]G Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach der Bewilligung von PKH fristgerecht eingelegt und begründet hat.

5

2. Die zulässige Beschwerde des [X.] ist begründet. Der Beschluss des L[X.] beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G; dazu b), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G bezeichnet (dazu a).

6

a) Nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel des Verstoßes gegen das durch Art 101 Abs 1 Satz 2 GG gewährleistete Recht auf [X.] hinreichend. Ausführungen zum Beruhen der angefochtenen Entscheidung auf diesem Gesetzesverstoß bedurfte es nicht. Denn nach § 547 [X.] iVm § 202 Satz 1 [X.]G ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.

7

b) Die Beschwerde ist auch begründet. Das L[X.] hätte auch unter Beachtung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren, zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und unter Beachtung von Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention nicht durch Beschluss entscheiden dürfen, sondern nur aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter.

8

Nach § 158 Satz 2 [X.]G kann die Entscheidung über die Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluss ergehen. Damit ist dem Berufungsgericht - insoweit vergleichbar der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 1 [X.]G - Ermessen eingeräumt, durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung kann im Revisionsverfahren zwar nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht, dh etwa sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde gelegt hat. Allerdings verbietet es im Regelfall das Gebot fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 158 Satz 2 [X.]G zu entscheiden, wenn diese sich gegen einen Gerichtsbescheid richtet (vgl B[X.] vom 8.11.2005 - [X.] KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.] RdNr 7 ff; B[X.] vom 12.7.2012 - [X.] [X.]/12 B - [X.] 4-1500 § 105 [X.] RdNr 5; B[X.] vom [X.] [X.] 22/14 B - juris RdNr 6 f; B[X.] vom 30.10.2019 - [X.] [X.]/19 B - juris Rd[X.]). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist unter anderem für den Fall anerkannt, dass sicher feststeht, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem [X.] stattfinden wird (vgl B[X.] vom 12.7.2012 - [X.] [X.]/12 B - [X.] 4-1500 § 105 [X.] RdNr 13; zur weiteren Ausnahme für den Fall, dass der Gerichtsbescheid nur wegen der Kostenentscheidung angegriffen wird vgl B[X.] vom [X.] [X.] 22/14 B - juris RdNr 8, mit [X.]erkung von [X.], jurisPR-[X.] 17/2014 [X.] 5).

9

Dies war indes vorliegend nicht der Fall. Zum einen ist bereits fraglich - und wird vom L[X.] nicht näher geprüft -, ob es sich bei dem Schreiben des [X.] vom [X.] um einen Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs 2 Satz 2 [X.]G handelte, zumal das Schreiben an das L[X.] gerichtet war und der Kläger darin behauptet, der Wert übersteige 750 Euro. Zum anderen hätte ein solcher Antrag beim [X.] gestellt werden müssen (vgl [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, § 105 RdNr 100 ; zu den Folgen der Stellung des Antrages beim L[X.] vgl Bayerisches L[X.] vom 13.7.2020 - L 18 [X.] 139/20 [X.] - juris RdNr 16 ff; zur Unanwendbarkeit des § 91 [X.]G vgl B[X.] vom 22.3.1963 - 11 RV 628/62 - [X.] Nr 1 zu § 105 [X.]G = juris RdNr 11).

Ob auch dann durch Beschluss entschieden werden kann, wenn ein Beteiligter von seiner Möglichkeit, mündliche Verhandlung nach § 105 Abs 2 Satz 2 [X.]G zu beantragen, keinen Gebrauch macht, hat das B[X.] bislang offengelassen (vgl B[X.] vom 12.7.2012 - [X.] [X.]/12 B - [X.] 4-1500 § 105 [X.] RdNr 13; B[X.] vom 30.10.2019 - [X.] [X.]/19 B - juris Rd[X.]; dafür BVerwG Beschluss vom [X.] - 9 B 303/95 - juris Rd[X.]; L[X.] Berlin-Brandenburg vom [X.] [X.]79/10 - juris RdNr 14; L[X.] Sachsen-Anhalt vom 16.11.2010 - L 3 R 362/09 - juris Rd[X.]0; L[X.] Niedersachsen-Bremen vom [X.] - L 11 AS 13/19 - juris RdNr 15; [X.] in [X.], [X.]G, 6. Aufl 2021, § 158 RdNr 8; Jungeblut in [X.], [X.]G, § 158 RdNr 6, Stand 1.12.2020; [X.] in [X.]/[X.], Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, [X.]. Kapitel, [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/Leithe-rer/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 158 RdNr 6; [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 3. Aufl 2020, § 158 RdNr 6; dagegen [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, § 158 Rd[X.]0 [X.], Stand 1.10.2017; [X.] in [X.], [X.]G, § 158 RdNr 10, Stand 1.1.2021; zweifelnd auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], aaO, § 105 Rd[X.]).

Darauf kommt es jedoch vorliegend nicht an. Denn die prozessuale Fürsorge- und Hinweispflicht gebietet die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch in einem solchen Fall jedenfalls dann, wenn die abgegebenen prozessualen Erklärungen auslegungsbedürftig sind (vgl B[X.] vom 8.11.2005 - [X.] KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.] RdNr 7; [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 3. Aufl 2020, § 158 RdNr 6). So lag der Fall hier.

Die Ausführungen des [X.] hinsichtlich des Klagebegehrens waren auslegungs- und klärungsbedürftig. Die Frage nach der [X.] der Berufung hängt von dem Auslegungsergebnis ab. Zwar hat der Kläger im Verwaltungsverfahren bei der Beklagten nur die Erstattung von 12,97 Euro für ein selbst beschafftes Arzneimittel beantragt. Bereits im Klageverfahren hat er zur Begründung der Klage jedoch geltend gemacht, er könne das Medikament nicht bezahlen. Dies könnte dafür sprechen, dass es ihm auch um die Kostenübernahme für die Zukunft geht. Hinzu kommt, dass der Kläger sowohl vor dem [X.] als auch vor dem L[X.] auf der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bestanden hat. In dieser Situation hätte das L[X.] nicht durch Beschluss entscheiden, sondern zur Wahrung seiner Fürsorge- und Hinweispflicht eine mündliche Verhandlung durchführen und dem Kläger Gelegenheit geben müssen, seine prozessualen Erklärungen zu konkretisieren.

3. Der Senat macht von seiner Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 [X.]G). Einer Zurückverweisung steht nicht der Rechtsgedanke des § 170 Abs 1 Satz 2 [X.]G entgegen, der auch bei Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden Anwendung findet (vgl B[X.] vom [X.] - [X.] KR 19/15 B - juris RdNr 9). Nach § 170 Abs 1 Satz 2 [X.]G ist eine Revision bei einer Gesetzesverletzung auch dann zurückzuweisen, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt. Dies gilt jedoch nicht für den absoluten Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts. Denn hierbei handelt es sich um einen die Grundlagen des Verfahrens betreffenden Mangel, der so wesentlich ist, dass ein Einfluss auf die Sachentscheidung unwiderlegbar vermutet wird (B[X.] vom 2.11.2007 - [X.] KR 72/07 B - [X.] 4-1100 Art 101 [X.] RdNr 13; B[X.] vom 17.11.2015 - [X.] KR 65/15 B - juris RdNr 10).

4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 51/20 B

25.03.2021

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Chemnitz, 13. Mai 2020, Az: S 11 KR 254/20, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 158 S 1 SGG, § 158 S 2 SGG, § 105 Abs 2 S 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.03.2021, Az. B 1 KR 51/20 B (REWIS RS 2021, 7453)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 7453

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