Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.06.2021, Az. B 13 R 94/20 B

13. Senat | REWIS RS 2021, 4604

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Gegenstand

Sozialgerichtsverfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Übergehen eines Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 28. Februar 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit macht der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung geltend.

2

Die Beklagte lehnte einen hierauf gerichteten Antrag des [X.] ab. Seine Klage hat das [X.] abgewiesen. Hiergegen hat der damals unvertretene Kläger mit Schreiben vom 5.1.2017 Berufung eingelegt und zugleich Prozesskostenhilfe ([X.]) beantragt. Hierzu hat er ausgeführt, es gehe mittlerweile um sein Leben, er sei "[X.] Empfänger" und könne diesen Umfang an Akten nicht mehr selbst bewältigen. Das L[X.] hat Beweis erhoben durch die Einholung medizinischer Sachverständigengutachten auf psychiatrischem, internistischem und orthopädischem Fachgebiet (Beweisanordnung vom 8.12.2017). Die Sachverständigen kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Kläger zumindest noch leichte körperliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung bestimmter q[X.]litativer Einschränkungen für täglich sechs Stunden verrichten könne. Die Gehfähigkeit des [X.] sei nicht eingeschränkt. Eine Anfrage des L[X.], ob er seine Berufung zurücknehme, hat der Kläger mit Schreiben vom 31.10.2019 zurückgewiesen. Zugleich hat er sein Unverständnis darüber geäußert, dass die Sachverständigen zu der Einschätzung gelangt seien, er könne noch eine Wegstrecke von 500 m in 20 Minuten zurücklegen.

3

Das L[X.] hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 28.2.2020 bestimmt und das persönliche Erscheinen des [X.] angeordnet. Daraufhin hat der Kläger mit Schreiben vom [X.] für sich und eine Begleitperson die Kostenübernahme für ein [X.] zur Wahrnehmung des Termins beantragt. Hierzu hat er auf die bereits zuvor erfolgte Übernahme der [X.]kosten für die Fahrt zu den [X.] sowie darauf hingewiesen, dass keine Anbindung seiner Wohnlage an den öffentlichen Nahverkehr bestehe. Zudem hat er [X.] auf eine Hilfsmittelverschreibung seiner Hausärzte verwiesen, wonach ihm ein E-Scooter durch seine Krankenkasse genehmigt werden sollte, sowie auf einen Bericht dieser Ärzte vom 11.11.2019, in dem eine wesentliche Bewegungseinschränkung des [X.] bei zunehmender Dyspnoe und Schmerzen der Beine, einen chronisch progredienten Verlauf der Beschwerden und eine zuletzt deutlich fortschreitende Gehstreckeneinschränkung sowie allgemein deutlich eingeschränkte Mobilität bescheinigt worden ist. Ohne auf diesen Antrag einzugehen, hat das L[X.] die Anordnung des persönlichen Erscheinens mit dem Kläger postalisch bekanntgegebener Verfügung vom 14.2.2020 aufgehoben. Nach mündlicher Verhandlung, die in Abwesenheit des [X.] durchgeführt worden ist, hat das L[X.] die Berufung mit Urteil vom 28.2.2020 zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Mit Beschluss vom [X.], der dem Kläger mit dem Urteil zugestellt worden ist, hat es diesem "für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe in vollem Umfang bewilligt".

4

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil das L[X.] die Anordnung des persönlichen Erscheinens aufgehoben habe, ohne seinen Antrag auf Übernahme von [X.]kosten zu bescheiden. Seinen Anspruch auf rechtliches Gehör sei auch deshalb verletzt, weil ihm [X.] nicht bereits vor der mündlichen Verhandlung, sondern erst mit Beschluss vom [X.] gewährt worden sei.

5

II. 1. Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist dem Kläger in die versäumten Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde Wiedereinsetzung zu gewähren, nachdem ihm durch Beschluss des Senats vom 12.1.2021, zugestellt am 3.2.2021, [X.] unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten gewährt worden ist. Die Fristen zur Nachholung der genannten Prozesshandlungen sind gewahrt. Zudem genügt die Beschwerdebegründung den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G an die Bezeichnung eines [X.].

6

2. Die Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

7

a) Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, denn das Berufungsurteil des L[X.] ist unter Verletzung des Anspruchs des [X.] auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Satz 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention ) ergangen. Das L[X.] hat es versäumt, vorab über den Antrag auf "Kostenübernahme für [X.]", den der Kläger rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung vom 28.2.2020 gestellt hat, zu entscheiden.

8

Das völlige Übergehen des Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung stellt bei einem - wie vorliegend - mittellosen und seinerzeit nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar. Nach § 124 Abs 1 [X.]G entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Diese dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern (vgl zum Ganzen B[X.] Beschluss vom 11.2.2015 - [X.]3 R 329/13 B - juris Rd[X.]1; B[X.] Beschluss vom 19.12.2017 - [X.] KR 38/17 B - juris RdNr 6, jeweils mwN; zuletzt B[X.] Beschluss vom [X.] - B 4 [X.]/20 B - juris RdNr 6).

9

Vorliegend hat der Kläger deutlich erkennen lassen, dass er an der mündlichen Verhandlung teilnehmen möchte und ausdrücklich [X.]kosten beantragt, da keine öffentliche Nahverkehrsanbindung bestehe. Bereits mit seinem [X.] hat er nachgewiesen, nicht über ausreichende eigene Mittel zu verfügen, um eine Teilnahme sicherzustellen (vgl zu den [X.] in diesem Punkt B[X.] Beschluss vom [X.] - B 5 R 286/18 B - juris Rd[X.]1 f). Hierüber hätte das L[X.] nach Maßgabe der Allgemeinen Verfügung (AV) des [X.] des [X.] vom [X.] idF vom 30.12.2013 über Gewährung von [X.] ([X.] 2014, 14; vgl auch die Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von [X.] an mittellose Personen und Vorschusszahlungen etc - VwV Reiseentschädigung - idF vom 20.1.2014, BAnz [X.], sowie bereits die bundeseinheitlichen Vorschriften über die Bewilligung von [X.] an mittellose Personen und Vorschußzahlungen an Zeugen und Sachverständige vom [X.], [X.] 1958, 223; abgedruckt auch bei [X.]/[X.], [X.], 17. Aufl 1973, [X.], [X.]) entscheiden müssen.

Diese AV sieht vor, dass mittellosen Beteiligten auf Antrag Mittel für die Reise zum Ort einer Verhandlung gewährt werden können. Die Entscheidung richtet sich danach, ob die Teilnahme des Beteiligten an der mündlichen Verhandlung notwendig ist. Dazu hat das Gericht den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und gegebenenfalls das Fragerecht des Beteiligen in der Beweisaufnahme (§ 116 Satz 2 [X.]G) einerseits und die Möglichkeit der Vertretung durch einen ortsansässigen oder ortsnahen Rechtsanwalt - eventuell unter Bewilligung von [X.] - andererseits gegeneinander abzuwägen. Die Entscheidung kann unter Umständen auch dann zugunsten des Beteiligten zu treffen sein, wenn das Gericht aus seiner Sicht deren persönliches Erscheinen nicht für geboten erachtet. Dabei sind auch die Bedeutung der Sache und das mutmaßliche Verhalten eines nicht mittellosen, auf verständige Wahrnehmung seiner Rechte bedachten Beteiligten zu berücksichtigen ([X.] Beschluss vom 19.3.1975 - IV ARZ ([X.]) 29/74 - [X.], 139 = NJW 1975, 1124 - juris RdNr 8; BVerwG Beschluss vom 28.2.2017 - 6 C 28.16 - NJW 2017, 1497 - juris Rd[X.]).

Die Entscheidung des L[X.] kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur B[X.] Beschluss vom 19.12.2017 - [X.] KR 38/17 B - juris RdNr 8 mwN; B[X.] Beschluss vom [X.] - B 4 [X.]/20 B - juris RdNr 6). Vorliegend ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das L[X.] zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten des Rechtsstreits, insbesondere der sinngemäß geltend gemachten und seitens der Hausärzte bescheinigten weiteren Verschlechterung seiner Mobilität, zu äußern.

b) Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob auch der weitere vom Kläger gerügte Verfahrensmangel in jeder Hinsicht dargelegt ist. Allerdings liegt es nahe, dass das L[X.] den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) auch dadurch verletzt hat, dass es über den Antrag des [X.] auf [X.] nicht zeitnah entschieden hat.

Es ist allgemein anerkannt, dass die ablehnende Entscheidung über [X.] zeitgleich mit der Entscheidung in der Hauptsache die in Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG gewährleistete Rechtsschutzgleichheit und den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen kann ([X.] Kammerbeschluss vom [X.] - 1 BvR 1152/02 - [X.] 4-1500 § 73a [X.]; B[X.] Beschluss vom 4.12.2007 - B 2 U 165/06 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 73a Rd[X.]1 mwN). Es verstößt zudem gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G, Art 103 Abs 1 GG), wenn ein Beteiligter durch willkürliche Ablehnung von [X.] daran gehindert wird, sich während des Berufungsverfahrens einschließlich mündlicher Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen (vgl BVerwG Beschluss vom 9.6.2008 - 5 B 204.07 - juris RdNr 4; [X.], [X.], 2. Aufl 2010, [X.]). Ein solcher Verstoß ist aber auch dann anzunehmen, wenn [X.] zwar bewilligt wird, dies jedoch wie vorliegend erst nach Ende der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils geschieht. Auch in diesem Fall wird der Antragsteller daran gehindert, sich während des Verfahrens und in der mündlichen Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen.

c) Liegen - wie unter a) dargestellt - die Voraussetzungen eines [X.], auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G), vor, kann das B[X.] auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des L[X.] vorbehalten.

Meta

B 13 R 94/20 B

25.06.2021

Bundessozialgericht 13. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Dortmund, 9. Dezember 2016, Az: S 34 R 1192/15, Urteil

§ 62 SGG, § 116 S 2 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.06.2021, Az. B 13 R 94/20 B (REWIS RS 2021, 4604)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4604

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