Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.12.2017, Az. B 1 KR 38/17 B

1. Senat | REWIS RS 2017, 366

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Übergehen des Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 9. Februar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren - zuletzt gerichtet auf Erstattung von 1049,61 Euro Kosten in der [X.] vom [X.] bis 14.3.2013 aufgrund von [X.] selbst verschaffter nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel (Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, [X.] und [X.] Glucosamin), verschreibungspflichtiger Arzneimittel ([X.] und Batrafen Creme) sowie des Mittels [X.] - bei der [X.] und den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das [X.] hat unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des [X.] ausgeführt, die betroffenen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel seien nicht ausnahmsweise in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ([X.]) einbezogen. Das verschreibungspflichtige Arzneimittel [X.] sei wegen Geringfügigkeit der behandelten Gesundheitsstörung nicht von der [X.] zu leisten, Batrafen Creme sei nicht vertragsärztlich verordnet. [X.] sei kein Arznei-, sondern ein Nahrungsergänzungsmittel (Urteil vom [X.]). Der erkennende Senat hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wegen der unterlassenen Beiladung des Sozialhilfeträgers und dessen möglicher Verurteilung zur Kostenerstattung nach § 75 Abs 5 SGG das [X.]-Urteil aufgehoben, soweit es über das Begehren des [X.] auf Erstattung der für die Arzneimittel Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, [X.] und [X.] Glucosamin sowie [X.] und das Nahrungsergänzungsmittel [X.] aufgewandten Kosten entschieden hat. Insoweit hat der erkennende Senat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen. Im Übrigen hat er die Beschwerde als unzulässig verworfen. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren hat das [X.] den [X.] beigeladen und den Antrag des [X.] auf Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt. Ferner hat die Vorsitzende des [X.]-Senats den Antrag des [X.] abgelehnt, zwecks Teilnahme an der mündlichen Verhandlung Taxikosten für die An- und Abreise zu übernehmen. Das [X.] hat nach mündlicher Verhandlung in Abwesenheit des [X.] die Berufung zurückgewiesen. Die für das Sozialhilferecht zuständigen Spruchkörper hätten in einem Teil der hier gegenüber der [X.] geltend gemachten Kosterstattungsansprüche im Verhältnis zum Beigeladenen einen Anspruch bereits rechtskräftig verneint. Die übrigen vom Kläger hier geltend gemachten, gegen den Beigeladenen bereits im Klagewege bei den für das Sozialhilferecht zuständigen Spruchkörpern verfolgten [X.] seien noch rechtshängig. Aus den Gründen der rechtskräftigen Entscheidungen sei aber auch hier ein Anspruch gegen den Beigeladenen zu verneinen (Urteil vom 9.2.2017).

2

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im [X.]-Urteil.

3

II. Die Beschwerde des [X.] ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger seinen Antrag vom [X.] nicht ausdrücklich beschränkt hat, obwohl das [X.] zu Recht wegen entgegenstehender Rechtskraft die Berufung hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Kostenerstattung für das Medikament Batrafen Creme - wie nur aus den Gründen ersichtlich - als unzulässig verworfen hat. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist nur noch die Entscheidung des [X.], soweit es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen hat. Der Kläger hat jedenfalls in seiner Begründung klargestellt, dass er nur noch die Erstattung der Kosten für die Arzneimittel Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, [X.], [X.] Glucosamin, [X.] und das Nahrungsergänzungsmittel [X.] für die [X.] vom [X.] bis 14.3.2013 begehrt. Insoweit hat er seine Beschwerde beschränkt.

4

Die Beschwerde ist auch begründet. Das [X.]-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG hinreichend bezeichnet.

5

1. Nach § 160 Abs 2 [X.] SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das [X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Das Urteil des [X.] ist unter Verletzung des Anspruchs des [X.] auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 S 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) ergangen. Das [X.] hat nicht geprüft hat, ob es dem Kläger, der im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten gewesen ist und substantiiert geltend gemacht hat, mittellos zu sein, auf seinen Antrag hin die Teilnahme der mündlichen Verhandlung auf Kosten der Staatskasse nach dem Runderlass ([X.]) des [X.], für Integration und [X.] vom 23.12.2011 (5670 - II/[X.] - 2011/7729 - II/A, [X.] 2012, 37; geändert durch [X.] des [X.] vom [X.] - 5670 - II/[X.] - 2013/6749 - II/A, [X.] 2014, 228; unveränderte Neuinkraftsetzung des [X.] betreffend die Gewährung von [X.] durch [X.] des [X.] vom 11.10.2016 - 5670 - II/[X.] - 2016/11929 - II/A, [X.] 2016, 413 ) über die Gewährung von [X.] an mittellose Personen und Vorschusszahlungen für [X.] an Zeuginnen, Zeugen, Sachverständige, Dolmetscherinnen, Dolmetscher, Übersetzerinnen und Übersetzer, [X.]innen, [X.] und Dritte (vgl auch die Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von [X.] an mittellose Personen und Vorschusszahlungen etc - VwV Reiseentschädigung - idF vom 20.1.2014, BAnz [X.]) zu ermöglichen hat (dazu a). Das Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler (dazu b).

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a) Das Übergehen des Antrags auf Bewilligung einer Reiseentschädigung zur - anders nicht möglichen - Teilnahme an der mündlichen Verhandlung stellt bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar (vgl [X.] Beschluss vom 11.2.2015 - [X.]3 R 329/13 B - Juris RdNr 11). Nach § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (stRspr, vgl [X.], 44 = [X.] zu § 62 SGG; [X.] Beschluss vom 10.10.2017 - [X.] KR 64/17 B - Juris RdNr 8). Die mündliche Verhandlung, aufgrund der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig entscheiden (§ 124 Abs 1 SGG), ist gleichsam das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (stRspr; vgl [X.]E 44, 292 = [X.] 1500 § 124 [X.]; [X.] Beschluss vom 4.3.2014 - [X.] [X.]/13 B - Juris RdNr 5; [X.] Beschluss vom 17.11.2015 - [X.] KR 65/15 B - Juris RdNr 7 mwN). Sie dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern (stRspr, vgl [X.]E 44, 292 = [X.] 1500 § 124 [X.]; [X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.]3; [X.] Beschluss vom 11.2.2015 - [X.]3 R 329/13 B - Juris RdNr 9; [X.] Beschluss vom 17.11.2015 - [X.] KR 65/15 B - Juris RdNr 7).

7

Das [X.] hat es versäumt, das persönlich verfasste Schreiben des [X.] vom [X.] entsprechend seinem Sinngehalt auszulegen. Der Kläger hat dort nicht nur ausdrücklich einen [X.] unter Beiordnung seines gegenwärtigen Prozessbevollmächtigten gestellt und die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt. Er hat auch ausdrücklich unter Hinweis auf Art 103 Abs 1 GG und auf seine Absicht, an der bereits anberaumten mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen, zusätzlich beantragt, "dem gerichtsbekannt mittellosen und schwer behinderten Kläger für die An- und Abreise zum Termin der mündlichen Behandlung am 09. Februar 2017 ein [X.] zu bewilligen". In diesen Ausführungen hat sinngemäß auch der Antrag auf Bewilligung einer Reiseentschädigung gelegen und nicht bloß die Anregung an das Gericht, das persönliche Erscheinen anzuordnen. Über diesen Antrag hätte das [X.] zeitnah vor dem Termin eine Entscheidung herbeiführen müssen. Die Vorsitzende des [X.]-Senats hat in ihrem Schreiben gemäß Verfügung vom [X.] jedoch nur ausgeführt, dass Taxikosten nicht übernommen würden, weil das persönliche Erscheinen des [X.] nicht angeordnet worden sei. Indem das [X.] über den Antrag auf Reiseentschädigung nicht entschieden und zugleich PKH unter Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten abgelehnt hat, hat es den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör verletzt.

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b) Nach § 160 Abs 2 [X.] Halbs 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Grundsätzlich bedarf es keines weiteren Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl [X.] [X.] 4-1500 § 158 [X.] RdNr 4; [X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.]3 S 62). Wird einem Beteiligten ein vom Gericht anberaumter Verhandlungstermin nicht mitgeteilt, reicht es wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens vielmehr aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl [X.]E 44, 292, 295 = [X.] 1500 § 124 [X.] S 5; [X.] Beschluss vom 17.2.2010 - [X.] KR 112/09 B - Juris RdNr 5 mwN; [X.] Beschluss vom 18.12.2012 - [X.] [X.]/12 B - Juris RdNr 5). Gleiches gilt für den Fall, dass - wie hier - dem Kläger der Termin zwar mitgeteilt wird, aber eine vom Kläger bei sachgerechter Auslegung seines Antrags geforderte Prüfung der Bewilligung einer Reiseentschädigung unterbleibt, er dem Termin fernbleibt und die geltend gemachte [X.]igkeit als Grund des Fernbleibens nach dem Vorbringen des [X.] in dem Rechtszug, in dem die angefochtene Entscheidung ergangen ist, nicht fern liegt. [X.] ist ein Kläger, der nicht in der Lage ist, die Kosten der Reise aus eigenen Mitteln zu bestreiten ([X.] Hess[X.]-Reiseentschädigung). Dies kann nach den vom Kläger mit Schreiben vom [X.] vorgelegten Einkommensnachweisen nicht als fern liegend ausgeschlossen werden. Ebenso wenig kann mit Blick auf die Begründung des [X.] eine Verurteilung des Beigeladenen ausgeschlossen werden.

9

2. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das [X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] SGG vorliegen, was hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem [X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 38/17 B

19.12.2017

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Gießen, 9. Juli 2014, Az: S 9 KR 55/13, Gerichtsbescheid

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.12.2017, Az. B 1 KR 38/17 B (REWIS RS 2017, 366)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 366

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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