Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.04.2023, Az. B 7 AS 112/22 B

7. Senat | REWIS RS 2023, 3478

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Übergehen eines Antrags auf Gewährung einer Reiseentschädigung zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen Beteiligten - Zurückverweisung


Tenor

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] vom 16. September 2021 - L 10 AS 19/17 - gewährt.

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 16. September 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts vom 23.4.2014. Die Klage ist vor dem [X.] erfolglos geblieben (Urteil vom 9.11.2016). Im Berufungsverfahren war der Kläger anwaltlich nicht vertreten. Nachdem er zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 16.9.2021 geladen worden ist, hat er mit einem Schreiben vom [X.] unter Hinweis auf den Beschluss des B[X.] vom [X.] ([X.] AS 308/20 B) einen "Antrag auf die Bereitstellung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung als [X.]" gestellt. Dem Schreiben waren als "Beweis für [die] Mittellosigkeit" eine ausgefüllte und unterschriebene Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe sowie ein aktueller Bewilligungsbescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.]B II beigefügt.

2

Das L[X.] hat in der Besetzung der Berufsrichter des Senats den Antrag auf Gewährung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abgelehnt (Beschluss vom 17.8.2021). Ein Anspruch auf einen Vorschuss für eine Entschädigung nach § 191 [X.]G bestehe nicht, da das persönliche Erscheinen des [X.] nicht angeordnet worden sei. Im Übrigen scheide eine Gewährung von Reisekosten aus. Das Berufungsverfahren habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Kläger habe seine Bedürftigkeit nicht nachgewiesen. Seine Angaben seien widersprüchlich. Der Kläger habe in der Erklärung angegeben, über kein Girokonto zu verfügen. Dagegen folge aus dem beigefügten [X.]B II-Bescheid, dass die Leistungen auf ein Bankkonto überwiesen würden. Der Beschluss enthielt den Hinweis, er sei nach § 177 [X.]G unanfechtbar.

3

Der Kläger war im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anwesend.

4

Das L[X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen (Urteil vom 16.9.2021). Hiergegen wendet er sich mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, mit der er ua einen Verfahrensfehler rügt.

5

II. Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 [X.]G) wegen der fristgerechten Stellung eines [X.] durch ihn und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung seines Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.

6

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des L[X.] und Zurückverweisung der Sache begründet (§ 160a Abs 5 [X.]G).

7

Das Urteil des L[X.] vom 16.9.2021 beruht auf einem von dem Kläger hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, weil das Urteil des L[X.] unter Verletzung des Anspruchs des [X.] auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) ergangen ist.

8

Gemäß § 124 Abs 1 [X.]G entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Stellt ein mittelloser Beteiligter einen Antrag auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, der vom Gericht übergangen wird, kann hierin nach der ständigen Rechtsprechung des B[X.] eine Versagung rechtlichen Gehörs liegen, weil in solchen Fällen die Gewährung einer Reiseentschädigung entsprechend der jeweiligen landesrechtlichen Regelung zur (bundeseinheitlichen) "Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen" in Betracht kommt (VwV Reiseentschädigung, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 20.1.2014, BAnz [X.]; hier anwendbar idF der VwV Reiseentschädigung des [X.] vom 12.6.2006, [X.], 447; zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 31.1.2014, [X.] 2014, 66; vgl hierzu nur B[X.] vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - RdNr 11; B[X.] vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 6; B[X.] vom [X.] R 94/20 B - RdNr 8 f; B[X.] vom [X.] - [X.] AS 308/20 B - RdNr 6 ff; [X.], NZS 2021, 281, 284 f; [X.], [X.]b 2022, 723 ff).

9

Die VwV Reiseentschädigung mit den dort geregelten Voraussetzungen für eine Entschädigung können die Gerichte im Rahmen ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit zwar nicht binden. Die Gerichte haben aber im Rahmen der sie treffenden prozessualen Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs zu beachten, dass entsprechende Ansprüche auf Reiseentschädigung für Personen bestehen können, die nicht in der Lage sind, die Kosten für die Reise zum Ort der mündlichen Verhandlung aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Sie sind deshalb verpflichtet, hierüber eine Entscheidung herbeizuführen (zu letzterem B[X.] vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - RdNr 11; vgl auch B[X.] vom [X.] R 94/20 B - RdNr 9), indem sie entweder selbst über solche Anträge entscheiden und dabei unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung die VwV Reiseentschädigung zu berücksichtigen haben (vgl nur [X.], [X.]b 2022, 723, 725) oder solche Anträge jedenfalls an die [X.] weiterleiten, damit von dort über sie entschieden werden kann (vgl [X.] NZS 2021, 281, 285; Entscheidungszuständigkeit zuletzt offengelassen von B[X.] vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 9).

Im vorliegenden Fall lag ein solches Übergehen des klägerischen Antrags vor. Der Beschluss des L[X.] vom 17.8.2021, mit dem es den Antrag auf Gewährung von Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abgelehnt hat, enthält keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Gewährung von Reiseentschädigung nach der entsprechenden Verwaltungsvorschrift. Geprüft wird zunächst § 191 [X.]G. "Im Übrigen" hat das L[X.] die Gewährung von Reisekosten - ohne Bezugnahme auf eine konkrete Rechtsgrundlage - mit der Begründung abgelehnt, das Berufungsverfahren des [X.] weise keine hinreichende Erfolgsaussicht auf. Eine solche - der PKH entsprechende - Voraussetzung lässt sich der VwV Reiseentschädigung gerade nicht entnehmen (vgl zu den verschiedenen Anspruchsgrundlagen für eine Reiseentschädigung [X.], NZS 2021, 281 ff sowie zuletzt B[X.] vom [X.] [X.]/22 B - RdNr 4).

Der Kläger hat seinerseits alles getan, um sich Gehör zu verschaffen. Speziell im Zusammenhang mit Gehörsverletzungen aufgrund des Übergehens oder der Ablehnung von Anträgen auf Reiseentschädigungen verlangt das B[X.] insoweit von den Betroffenen, ihre Mittellosigkeit substantiiert darzulegen und auf Verlangen des Gerichts nachzuweisen (vgl hierzu nur B[X.] vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 8). Teilweise verlangt es auch von ihnen, gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Reisekostenvorschusses weiter vorzugehen (B[X.] vom 3.1.2022 - B 1 KR 45/21 B - RdNr 9; B[X.] vom [X.] - B 5 R 286/18 B - RdNr 11) sowie das Gericht - ggf im Wege einer Gegenvorstellung - noch einmal ausdrücklich auf mögliche Ansprüche nach der entsprechenden VwV Reiseentschädigung hinzuweisen (B[X.] vom 17.12.2020 - B 1 KR 26/20 B - RdNr 6).

Der Kläger hat keine Obliegenheit verletzt. Er hat seine Mittellosigkeit durch Vorlage eines [X.]B II-Bescheids und eines PKH-Formulars substantiiert dargelegt. Nachfragen - etwa im Hinblick auf das vom Kläger für die unbare Auszahlung des [X.] verwendete Konto, das nach seinen Angaben im [X.] vor dem B[X.] einem Dritten gehört - hat das L[X.] nicht gestellt. Anlass, gegen den Beschluss des L[X.] weiter vorzugehen, bestand nicht. Insbesondere war der Kläger nicht verpflichtet, das L[X.] noch einmal auf die Möglichkeit der Gewährung einer Reiseentschädigung nach der VwV Reiseentschädigung hinzuweisen, nachdem er in seinem Antrag sogar schon auf den Beschluss des B[X.] vom [X.] ([X.] AS 308/20 B) Bezug genommen hatte.

Die Entscheidung des L[X.] kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "[X.]" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Kläger behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur B[X.] vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - RdNr 8 mwN). Dies ist hier vor dem Hintergrund des Umstands, dass das L[X.] maßgeblich abgestellt hat auf eine fehlende Darlegung des berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts durch den Kläger, der Fall.

Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten.

 S. Knickrehm

Siefert

Harich

Meta

B 7 AS 112/22 B

25.04.2023

Bundessozialgericht 7. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Schwerin, 9. November 2016, Az: S 11 AS 947/14, Urteil

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 191 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.04.2023, Az. B 7 AS 112/22 B (REWIS RS 2023, 3478)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3478

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