Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.07.2020, Az. 2 StR 210/20

2. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1948

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Gegenstand

Absehen von der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Annahme eines nicht mehr bestehenden Hanges zum übermäßigen Rauschmittelkonsum; Widersprüchlichkeit der gleichzeitig erklärten Zustimmung zur Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer Drogenentwöhnungsbehandlung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 18. Dezember 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das [X.] von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.]s zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der [X.] hat aus den Gründen der Zuschrift des [X.] zum Schuld- und Strafausspruch sowie zur Einziehungsentscheidung keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben.

3

2. Das Urteil hält jedoch insoweit der rechtlichen Prüfung nicht stand, als das [X.] die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat.

4

a.) Das [X.] hat zum Rauschmittelkonsum des zur Tatzeit 42-jährigen Angeklagten festgestellt, dass dieser mit 13 Jahren begann, Cannabis zu konsumieren. Ab seinem 31. Lebensjahr - ungefähr 2007 - konsumierte er zusätzlich fünf bis acht Gramm Kokain täglich. [X.] stellte er seinen Kokainkonsum ohne ärztliche Hilfe ein, setzte aber seinen erheblichen Marihuanakonsum von sieben bis zehn Gramm pro Tag bis zu seiner Verhaftung in dieser Sache am 5. April 2019 fort. Parallel dazu trank er im erheblichen Umfang Alkohol, nämlich acht bis 15 Flaschen Bier am Tag. In der Justizvollzugsanstalt litt er unter Entzugserscheinungen und wurde medikamentös behandelt. Seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 2. Mai 2019 lebt er drogenfrei, was er durch negative [X.] im Juli, August und Dezember 2019 belegte. Er strebt eine ambulante Drogenentwöhnungsbehandlung an.

5

Das [X.] ist davon ausgegangen, der Angeklagte habe sich im Tatzeitraum aufgrund seines exzessiven Drogen- und Alkoholkonsums nicht ausschließbar in einem Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB befunden. Bis zu seiner Verhaftung im April 2019 habe eine langjährige Abhängigkeit von Alkohol und Cannabis und damit einhergehend ein Hang im Sinne des § 64 StGB bestanden. Ein solcher Hang sei jedoch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht mehr festzustellen. Die drei negativen Drogenscreenings belegten die dauerhafte Abstinenz des Angeklagten. Dieser verfüge - was die Einstellung seines früheren [X.] verdeutliche - über die Fähigkeit, seine Alkohol- und [X.] auch ohne therapeutische Unterstützung zu beenden und die Abstinenz dauerhaft aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund komme die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB nicht in Betracht.

6

Ungeachtet dessen hat die [X.] “bereits jetzt“ ihre Zustimmung zur Rückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer - gegebenenfalls auch ambulanten - Drogenentwöhnungsbehandlung im Sinne der §§ 35, 36 BtMG “zur Stabilisierung des Abstinenzwunsches“ des Angeklagten erklärt.

7

b.) Diese Begründung trägt das Absehen von einer [X.] nach § 64 StGB nicht. Die Annahme des [X.]s, ein bis dahin bestehender Hang des Angeklagten habe mit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft ein Ende gefunden, ist nicht nachvollziehbar. Die vom Angeklagten präsentierten negativen Drogenscreenings waren nicht unter Aufsicht erfolgt und damit nur von sehr begrenztem Aussagewert.

8

Hinzu kommt, dass der Angeklagte - was sich aus den mitgeteilten Vorstrafen ergibt - bereits in der Vergangenheit gegenüber dem Gericht unwahre Angaben zu seiner angeblichen Drogenabstinenz gemacht hat. Ungeachtet dessen stehen Intervalle der Abstinenz dem Vorliegen eines Hanges nicht entgegen ([X.], Beschlüsse vom 27. November 2018 - 3 [X.], [X.], 265; vom 12. April 2012 - 5 [X.], [X.], 271; vom 30. März 2010 - 3 [X.], [X.], 216).

9

Soweit das [X.] das Nicht(mehr)vorliegen eines Hanges zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung damit begründet, dem Angeklagten sei auch im Jahre 2009 der Ausstieg aus der Kokainabhängigkeit mit anschließender Kokainabstinenz ohne therapeutische Hilfe gelungen, übersieht es die damaligen Begleitumstände. Keineswegs hat der Angeklagte seinerzeit seinen Betäubungsmittelmissbrauch vollständig eingestellt, sondern er ist vielmehr auf einen noch exzessiveren [X.] von Cannabis und Alkohol ausgewichen, den er in den folgenden Jahren durchgehend aufrechterhalten hat.

Ein durchgreifender Widerspruch liegt zudem darin, dass das [X.] gleichzeitig seine Zustimmung zur Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer Drogenentwöhnungsbehandlung im Sinne der §§ 35, 36 BtMG erklärt hat. Dies verdeutlicht, dass es von der Drogenabstinenz des Angeklagten und dem Nichtvorliegen eines Hanges gerade nicht überzeugt ist. Auf die “Stabilisierung des Abstinenzwunsches des Angeklagten“ kann es sich zur Begründung nicht stützen. Die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG setzt eine Betäubungsmittelabhängigkeit zum Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung voraus (Körner/[X.]/[X.], BtMG, 9. Aufl., § 35 Rn. 194). Es ist damit zu besorgen, dass die [X.] vorliegend einen Weg gesucht hat, der gegenüber der Unterbringung nach § 64 StGB nachrangigen Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Juni 2010 - 4 StR 229/10, [X.], 319; Senat, Beschluss vom 10. März 2010 - 2 StR 34/10) den Vorrang einzuräumen.

c.) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nach den Feststellungen des [X.]s nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht ([X.], Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, [X.]St 37, 5). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. Senat, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, [X.]St 38, 362). Über die [X.] ist daher - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen - neu zu entscheiden.

3. Der Senat kann ausschließen, dass der Tatrichter bei Anordnung der Unterbringung auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Der Strafausspruch kann deshalb bestehen bleiben.

VRi[X.] Dr. Franke
ist wegen Urlaubs an der
Unterschrift gehindert.

        

Appl     

        

Eschelbach

Appl   

                                   
        

     Zeng     

        

Schmidt     

        

Meta

2 StR 210/20

28.07.2020

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Aachen, 18. Dezember 2019, Az: 61 KLs 16/19

§ 64 StGB, § 29 BtMG, §§ 29ff BtMG, § 35 BtMG, § 36 BtMG, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.07.2020, Az. 2 StR 210/20 (REWIS RS 2020, 1948)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1948

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