Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.01.2017, Az. 1 StR 646/16

1. Strafsenat | REWIS RS 2017, 16639

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Gegenstand

Voraussetzungen für die Unterbringung eines Betäubungsmittelkonsumenten in einer Entziehungsanstalt: Übermäßiger Genuss von Rauschmitteln; symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und Straftaten; Vorrang vor der Möglichkeit der Zurückstellung der Strafvollstreckung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 15. Juni 2016, soweit es ihn betrifft, im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und davon abgesehen, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt als Maßregel anzuordnen.

2

Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] vom 15. Dezember 2016 unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

3

Die [X.] der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dies führt zur Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs.

4

1. Der vom [X.] beauftragte Sachverständige hat bei dem Angeklagten - auch [X.] - ein Abhängigkeitssyndrom von synthetischen Cannabinoiden sowie ein missbräuchliches [X.]verhalten an der Grenze zur Abhängigkeit von Cannabis diagnostiziert ([X.], 85). Insbesondere habe der Angeklagte trotz Wissens um die negativen Auswirkungen dieses Betäubungsmittelkonsums auf seine psychische Verfassung den [X.] fortgesetzt und ein körperliches Entzugssymptom bei Beendigung des [X.]s entwickelt. Bei ihm sei eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des [X.]s festzustellen. Anfang Dezember 2015 sei es nach dem [X.] einer Kräutermischung auch zur Bewusstlosigkeit des Angeklagten gekommen, was zu einer stationären Behandlung geführt habe ([X.]). Im Ergebnis spreche dies - gerade unter Berücksichtigung dieses letzten Vorfalls - dafür, dass bei dem Angeklagten bereits eine tief verwurzelte innere Disposition vorliege, synthetische Cannabinoide im Übermaß zu konsumieren ([X.] 85).

5

Gleichwohl geht das [X.] im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB davon aus, dass bei dem Angeklagten „ein Hang nicht sicher festzustellen ist“ ([X.]). Dies wird damit begründet, dass sich bei dem Angeklagten erhebliche psychosoziale Leistungseinbußen infolge des [X.]s synthetischer Drogen nicht feststellen ließen und es auch am Arbeitsplatz weder zu Fehlzeiten noch zu irgendwelchen Beanstandungen seiner Leistungen gekommen sei. Auch im [X.] Bereich seien im maßgeblichen Zeitraum keine Defizite erkennbar gewesen ([X.] 88).

6

2. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das [X.] - wie der [X.] zutreffend ausgeführt hat - rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist. Sie enthalten keine umfassende und widerspruchsfreie Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls bei der Entscheidung über die Maßregel.

7

a) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung des [X.] eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von [X.] im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 415/15; Urteile vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, [X.], 210 und vom 15. Mai 2014 - 3 [X.], [X.], 271). Insoweit kann dem Umstand, dass durch den [X.] bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden erheblich beeinträchtigt ist, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, [X.], 198 und vom 14. Dezember 2005 - 1 [X.], [X.], 103). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in der Regel mit übermäßigem [X.] einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hanges aus ([X.], Beschlüsse vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, [X.], 198 und vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15).

8

b) Diesem Maßstab genügen die Ausführungen des [X.]s nicht. Auch wenn das [X.] noch zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Feststellung eines Hanges nach § 64 StGB das Kriterium des [X.] nicht voraussetzt ([X.]), hätte es sich im Folgenden nicht einseitig damit begnügen dürfen, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Angeklagten zu erörtern. Vielmehr wäre eine nähere Auseinandersetzung mit der vom Sachverständigen diagnostizierten Abhängigkeitserkrankung des Angeklagten erforderlich gewesen. Dies umso mehr als sich durch den festgestellten Vorfall Anfang Dezember 2015 - und damit wenige Wochen vor der verfahrensgegenständlichen Tat - mit einem stationären Krankenhausaufenthalt nach dem [X.] einer Kräutermischung und der eingetretenen Bewusstlosigkeit durchaus Anhaltspunkte dafür ergeben haben, dass der [X.] synthetischer Cannabinoide bereits erhebliche negative Auswirkungen auf die Lebensgestaltung des Angeklagten hat.

9

3. Den bisher getroffenen Feststellungen ist auch nicht zu entnehmen, dass die übrigen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel nicht vorliegen.

a) Dies gilt insbesondere für den für eine Unterbringung nach § 64 StGB erforderlichen symptomatischen Zusammenhang zwischen Hang und Taten. Dieser ist anzunehmen, wenn der Hang allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist ([X.], Beschlüsse vom 25. November 2015 - 1 StR 379/15, [X.], 113; vom 6. November 2013 - 5 StR 432/13 und vom 25. Mai 2011 - 4 StR 27/11, [X.], 309), mithin die konkrete Tat in dem Hang ihre Wurzel findet (vgl. [X.], Beschluss vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, [X.], 75). Dieser Zusammenhang liegt bei Delikten, die begangen werden, um Rauschmittel selbst oder Geld für ihre Beschaffung zu erlangen, nahe ([X.], Urteil vom 18. Februar 1997 - 1 [X.], [X.]R StGB § 64 Abs. 1 Rausch 1; Beschluss vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, [X.], 75). Das [X.] hat eine Mitursächlichkeit der Abhängigkeit des Angeklagten für die verfahrensgegenständliche Tat selbst nicht ausgeschlossen ([X.] 88) und ist bei dem Angeklagten auch von einer „gewissen Enthemmung“ auf Grund leichter Intoxikation zur Tatzeit ([X.] 86) ausgegangen. Weiter hat es die Feststellung getroffen, dass die Tat auf Grund von [X.] begangen wurde ([X.] 67).

b) Einer Anordnung der Unterbringung steht auch nicht entgegen, dass der Angeklagte - wie vom [X.] im Rahmen der Strafzumessung erörtert - von der Möglichkeit einer Zurückstellung nach § 35 BtMG Gebrauch machen kann und das [X.] bereits in Aussicht gestellt hat, einem solchen Antrag stattzugeben ([X.] 68). Das begegnet schon deswegen Bedenken, da dies die Annahme einer [X.] voraussetzt und lässt besorgen, dass das [X.] verkannt hat, dass die Unterbringung nach § 64 StGB der Zurückstellung der Strafvollstreckung vorgeht (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschlüsse vom 5. April 2016 - 3 StR 554/15, [X.], 209 und vom 11. Juli 2013 - 3 [X.] mwN); ein „Wahlrecht“ des Angeklagten besteht insoweit nicht.

4. Wegen des durch § 5 Abs. 3 [X.] vorgegebenen sachlichen Zusammenhangs zwischen Strafe und Unterbringung (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17. Dezember 2013 - 2 StR 154/13 für § 64 StGB; vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 494/12, [X.]R [X.] § 5 Abs. 3 Absehen 3 und vom 18. Januar 1993 - 5 [X.], [X.]R [X.] § 5 Abs. 3 Absehen 1, jeweils für § 63 StGB) ist auch der Strafausspruch aufzuheben. Der [X.] kann nicht ausschließen, dass das [X.] bei Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt in Anwendung von § 5 Abs. 3 [X.] davon abgesehen hätte, eine Jugendstrafe zu verhängen (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Dezember 2013 - 2 StR 154/13 mwN). Die zum Rechtsfolgenausspruch getroffenen Feststellungen werden mit aufgehoben, um dem neuen Tatrichter widerspruchsfreie eigene Feststellungen zu ermöglichen.

5. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert eine Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; [X.], Beschluss vom 25. November 2015 - 1 StR 379/15, [X.], 113; Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, [X.]St 37, 5, 9). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. [X.], Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, [X.]St 38, 362).

Raum     

       

Graf     

       

Cirener

       

Radtke     

       

Bär     

       

Meta

1 StR 646/16

26.01.2017

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Ansbach, 15. Juni 2016, Az: KLs 3041 Js 42/16

§ 64 StGB, § 35 BtMG, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.01.2017, Az. 1 StR 646/16 (REWIS RS 2017, 16639)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 16639

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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