Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.03.2011, Az. 3 StR 450/10

3. Strafsenat | REWIS RS 2011, 9019

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Gegenstand

Notwehrlage: Irrige Annahme einer unmittelbar bevorstehenden Intensivierung des rechtswidrigen Angriffs


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 12. Mai 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

2

1. Die lückenhaften Feststellungen tragen nicht den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB).

3

a) Dem Angeklagten mussten im Jahre 2005 wegen arterieller Durchblutungsstörungen am rechten Bein ein Bypass gelegt und zwei Zehen amputiert werden. Seitdem ist er auf die Einnahme blutgerinnungshemmender Medikamente angewiesen. Gleichwohl wurden in der Folge an der [X.] langstreckige Verschlüsse und ein teilthrombosiertes Aneurisma mit einem Durchmesser von ca. 5 cm diagnostiziert, die dringend der operativen Behandlung bedürfen.

4

Der als unauffällig und ruhig beschriebene Angeklagte wohnte in einem größeren Wohnkomplex in [X.], in welchem es regelmäßig zu Ruhestörungen, Körperverletzungen, Drogendelikten und entsprechenden Polizeieinsätzen kam. Auf derselben Etage wohnte auch der als Hausmeister fungierende Zeuge [X.], zu dem er ein von gegenseitigem Verständnis geprägtes Verhältnis hatte.

5

In der Tatnacht gegen 23.00 Uhr vernahm der nach dem [X.] von acht Flaschen [X.]er alkoholisierte Angeklagte erheblichen Lärm aus der Wohnung des Zeugen [X.] , in der sich mehrere Personen aufhielten, die bei offener Wohnungstür Alkohol und Drogen konsumierten, grölten und laute Musik spielten. Auf die [X.]tte des Angeklagten sorgte der Zeuge [X.] für Ruhe, wo-rauf der Angeklagte sich schlafen legte. Gegen 0.45 Uhr erwachte der Angeklagte, weil erneut laute Musik aus der geöffneten Wohnungstür des Zeugen [X.] drang. Schlaftrunken und erheblich verärgert entschloss sich der Angeklagte, dessen Wohnung aufzusuchen, um für Ruhe zu sorgen und nötigenfalls den Stecker der Musikanlage zu ziehen. Die Einschaltung der Polizei hielt er nicht für angebracht, weil er mit dem Zeugen stets hatte reden können. Im Bewusstsein der erlebten Polizeieinsätze und aus Angst vor den unbekannten Gästen des Zeugen steckte er zu seinem Schutz ein zusammengeklapptes Taschenmesser mit einer 7 cm langen, spitz zulaufenden Klinge in die vordere Tasche der von ihm getragenen Jogginghose.

6

Der Zeuge [X.]war indes nach Alkoholkonsum zwischenzeitlich eingeschlafen. In dessen Wohnung fand der Angeklagte lediglich noch die Zeugen [X.].      und [X.].      ansprechbar. Im [X.] stehend forderte er den Zeugen [X.].       auf, die Musik leiser zu stellen. Dieser trat auf den Angeklagten zu, verwickelte ihn zunächst in eine verbale Auseinandersetzung und versuchte schließlich, ihn aus der Wohnung zu drängen. Hieraus entwickelte sich "ein Handgemenge und ein Schubsen". Nun entschloss sich der im Wohnzimmer befindliche Zeuge [X.].     , in das Geschehen "einzugreifen". Er stand auf und "schoss regelrecht" am Zeugen [X.].       vorbei in Richtung des Angeklagten, wobei er "mit den Armen gestikulierte". Obwohl die beiden Zeugen "zu keinem Zeitpunkt" beabsichtigten, den Angeklagten, der die Wohnung nicht freiwillig verlassen wollte, zu schlagen oder zu verletzen, fühlte dieser sich nun bedroht. Er fürchtete, gewaltsam aus der Wohnung des Zeugen [X.] "herauskatapultiert" zu werden und infolge dessen zu stürzen oder gegen die Wand des Etagenflurs zu prallen, was ihm wegen seines Gesundheitszustandes Angst bereitete. Er "meinte", einem solchen Angriff durch ungezielte Messerstiche in Richtung der Zeugen "begegnen zu dürfen". Deshalb zog er das Klappmesser hervor, öffnete es gleichzeitig und stach in unmittelbarer zeitlicher Abfolge zweimal ungezielt, aber heftig in Richtung der Zeugen. Der Zeuge [X.].      wurde an der linken Halsseite getroffen und erlitt dort eine etwa 3 cm tiefe Stichwunde. Der Zeuge [X.].       erhielt einen Stich in den rechten Oberbauch, der zwischen den Leberlappen hindurchging.

7

b) Das [X.] ist der Ansicht, der Angeklagte habe rechtswidrig gehandelt, weil er sich nicht auf eine Notwehrlage (§ 32 StGB) habe berufen könne. Die Zeugen hätten keinen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf ihn geführt, sondern nur versucht, ihn aus der Wohnung des Zeugen [X.]  zu drängen. Hierzu seien sie berechtigt gewesen, weil sich der Angeklagte dort ohne Erlaubnis des Inhabers aufgehalten habe. Zwar habe der Angeklagte in [X.] gehandelt, weil er irrig angenommen habe, er werde nun - mit der möglichen Folge erheblicher Verletzungen - aus der Wohnung "herauskatapultiert". [X.] müsse sich jedoch im Rahmen dessen halten, was bei gegebener Notwehrlage gerechtfertigt wäre. Die Messerstiche seien aber bereits nicht das mildeste Mittel gewesen, um den (befürchteten) Angriff abzuwehren; der Angeklagte hätte den unbewaffneten Zeugen den Einsatz des Messers zunächst androhen müssen. Jedenfalls seien sie aber nicht geboten gewesen, da sie in einem krassen Missverhältnis zu dem vom Angeklagten als gefährdet angesehenen Rechtsgut stünden. Auf eine Überschreitung der Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken könne sich der Angeklagte nicht berufen, da § 33 StGB im Falle bloßer [X.] keine Anwendung finde.

8

c) Diese Erwägungen sind nicht frei von Rechtsfehlern.

9

aa) Entgegen der Ansicht des [X.]s befand sich der Angeklagte auch objektiv insoweit in einer Notwehrlage, als der Zeuge [X.].     versuchte, ihn mittels körperlicher Gewalt zum Verlassen der Wohnung des Zeugen  [X.] zu zwingen, denn hierdurch hat er den Angeklagten rechtswidrig angegriffen (§ 240 StGB; § 32 Abs. 2 StGB). Das Handeln des Zeugen [X.].    war insbesondere nicht durch Nothilfe zugunsten des Zeugen [X.]    gerechtfertigt, denn der Angeklagte ist weder widerrechtlich in dessen Wohnung eingedrungen noch hat er unberechtigt darin verweilt (§ 123 Abs. 1 StGB). Inhaber des Hausrechts war der Zeuge [X.]   . Dass dessen Wille einem Betreten seiner Wohnung durch den Angeklagten aus gegebenem Anlass entgegenstand, hat das [X.] nicht festgestellt. Angesichts des Verhaltens des Zeugen  [X.] anlässlich der vorangegangenen Ruhestörung und seines sachlichen Verhältnisses zum Angeklagten liegt dies auch nicht nahe. Schon deshalb konnte die vom Zeugen [X.].   als Drittem (vgl. hierzu [X.], StGB, 58. Aufl., § 123 Rn. 29) an den Angeklagten gerichtete Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, rechtlich keine Wirkung entfalten.

In einer objektiven Notwehrlage befand sich der Angeklagte naheliegend aber auch gegenüber dem Zeugen [X.].      . Zwar hat das [X.] nicht ausdrücklich festgestellt, mit welchem Ziel sich dieser dazu entschloss, in das Geschehen "einzugreifen", jedoch geht es nach dem Gesamtzusammenhang des Urteils von der nahe liegenden Annahme aus, er habe den Zeugen [X.].  bei der Entfernung des Angeklagten aus der Wohnung körperlich unterstützen wollen (s. insbes. UA S. 13).

bb) Danach irrte der Angeklagte entgegen der Ansicht des [X.]s nicht über die tatsächlichen Voraussetzungen einer Notwehrlage. Vielmehr schloss er aus dem Eingreifen des Zeugen [X.].      irrig auf eine unmittelbar bevorstehende Intensivierung des bereits in Gang befindlichen rechtswidrigen Angriffs, der er durch den bislang geleisteten bloßen körperlichen Widerstand nicht mehr begegnen zu können glaubte.

(1) Hält sich der Angegriffene in einem solchen Falle im Rahmen dessen, was in der von ihm angenommenen Situation zur Abwendung des Angriffs objektiv erforderlich und geboten gewesen wäre, so beurteilt sich sein Handeln zunächst allein nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums. Seine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ist nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Bei Vermeidbarkeit des Irrtums kommt gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB die Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht ([X.] aaO § 16 Rn. 22; § 32 Rn. 51). Zu prüfen bleibt dann indes, ob der (vermeidbare) Irrtum auf einem der in § 33 StGB genannten asthenischen Affekte - Verwirrung, Furcht oder Schrecken - beruht, denn hierdurch entfiele schuldhaftes Handeln. Anders als in dem Fall, dass der Täter die Fortsetzung eines bereits beendeten Angriffs annimmt (hierzu [X.], Urteil vom 24. Oktober 2001 - 3 [X.], [X.], 141), ist die Anwendung dieser Vorschrift nicht ausgeschlossen, denn die objektive Notwehrlage dauert fort (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Juli 1986 - 3 StR 269/86, [X.], 20).

Ist sich der Angegriffene demgegenüber bewusst, dass seine Verteidigungshandlung über das hinausgeht, was zur Abwehr des (angenommenen) Angriffs im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB erforderlich gewesen wäre, so bleibt es bei einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat. Indes kommt ihm auch in diesem Falle der Schuldausschließungsgrund des § 33 StGB dann zugute, wenn er aus den in der Vorschrift genannten Gründen zur Überschreitung der Grenzen der Notwehr hingerissen worden ist ([X.], Beschluss vom 21. Juni 1989  - 3 [X.], [X.], 474; [X.] aaO § 33 Rn. 8).

(2) Welche der genannten Möglichkeiten vorliegend in Betracht kommt, lässt sich anhand der Feststellungen nicht abschließend beurteilen.

Ob die Messerstiche im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB erforderlich gewesen wären, um einen Angriff abzuwehren, wie der Angeklagte ihn befürchtete, kann der [X.] mangels zureichender Darlegungen zur inneren Tatseite nicht überprüfen. Zwar geht das [X.] zutreffend davon aus, dass der Einsatz einer lebensgefährlichen Waffe jedenfalls gegenüber einem unbewaffneten Angreifer grundsätzlich zunächst anzudrohen ist. Indes teilt es nicht mit, ob der Angeklagte überhaupt von einer Kampflage ausging, in der es noch möglich und Erfolg versprechend gewesen wäre, zunächst mit dem Messer zu drohen (hierzu [X.] aaO § 32 Rn. 33 mwN). Angesichts der Feststellung, der Zeuge [X.].      sei regelrecht auf den Angeklagten zugeschossen, versteht sich dies nicht von selbst.

Der Auffassung des [X.]s, die Messerstiche wären jedenfalls nicht im Sinne von § 32 Abs. 1 StGB geboten gewesen, kann sich der [X.] nicht anschließen. Der Angegriffene muss von einer erforderlichen Verteidigungshandlung nicht bereits dann absehen, wenn zwischen der dem Angreifer dadurch drohenden Rechtsgutverletzung und dem angegriffenen eigenen Rechtsgut ein Ungleichgewicht besteht. [X.] und damit nicht mehr geboten ist eine Verteidigungshandlung vielmehr erst dann, wenn die jeweils bedrohten Rechtsgüter zueinander in einem unerträglichen Missverhältnis stehen, etwa wenn die - wie hier - Leib oder Leben des Angreifers gefährdende Handlung der Abwehr eines evident bagatellhaften, bloßem Unfug nahe kommenden Angriffs dient (vgl. [X.] aaO § 32 Rn. 39). Bei dem vom Angeklagten befürchteten "Hinauskatapultieren" mit der Gefahr nicht unerheblicher Verletzungen infolge eines Sturzes oder eines Aufpralls auf der Wand kann davon keine Rede sein.

2. Unabhängig davon hat der Schuldspruch auch deshalb keinen Bestand, weil die Feststellungen nicht die Annahme des [X.]s tragen, der Angeklagte sei bei der Begehung der ihm vorgeworfenen Tat schuldfähig gewesen (§ 20 StGB).

Sachverständig beraten hat das [X.] festgestellt, dass der aus dem Schlaf gerissene Angeklagte zur Tatzeit infolge einer Blutalkoholkonzentration von 1,66 ‰ und eines beträchtlichen Erregungszustandes "in der Fähigkeit, das Unrecht seiner Handlungen einzusehen und nach der Einsicht zu handeln, erheblich eingeschränkt" war. Ist indes die Fähigkeit des [X.], das Unrecht seiner Tat einzusehen, erheblich vermindert, so kommt es für die Beurteilung seiner Schuldfähigkeit entscheidend darauf an, ob ihm deswegen diese Einsicht fehlt oder ob er gleichwohl über sie verfügt. Hat der Täter nicht die Einsicht in das Unerlaubte seines Handelns und kann ihm dies auch nicht vorgeworfen werden, so handelt er nach § 17 Satz 1 StGB ohne Schuld (vgl. [X.] aaO § 21 Rn. 3 mwN). Dazu, ob der Angeklagte ungeachtet der festgestellten erheblichen Beeinträchtigung seiner Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte seines Handelns erkannte, verhält sich das Urteil nicht.

3. Die nunmehr zur Entscheidung berufene [X.] wird - nötigenfalls unter Heranziehung des [X.] - sowohl den objektiven Sachverhalt als auch die subjektiven Vorstellungen des Angeklagten genauer festzustellen haben, um eine ausreichende Grundlage für die Bewertung zu schaffen, ob die Tat des Angeklagten gerechtfertigt oder entschuldigt ist.

[X.]                                        Hubert

                       Schäfer                                            Mayer

Meta

3 StR 450/10

01.03.2011

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bückeburg, 12. Mai 2010, Az: 4 Ks 408 Js 9349/09 (2/10), Urteil

§ 16 Abs 1 StGB, § 32 Abs 2 StGB, § 33 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.03.2011, Az. 3 StR 450/10 (REWIS RS 2011, 9019)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9019

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