Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16.08.2011, Az. 1 C 4/10

1. Senat | REWIS RS 2011, 4004

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Gegenstand

Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen; Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts; Bedarfsgemeinschaft; unterhaltsberechtigte Familienangehörige


Leitsatz

Bei der Beurteilung, ob der Lebensunterhalt eines erwerbsfähigen Ausländers im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gesichert ist, ist darauf abzustellen, ob der Ausländer nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis seinen Lebensunterhalt voraussichtlich ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG, d.h. insbesondere ohne Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, bestreiten kann. Für die Berechnung, ob er voraussichtlich einen Anspruch auf derartige Leistungen hat, gelten grundsätzlich die sozialrechtlichen Regelungen über die Bedarfsgemeinschaft (im Anschluss an Urteil vom 16. November 2010 - BVerwG 1 C 21.09).

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen.

2

Der 1969 in [X.] geborene Kläger reiste im Jahre 1990 in das [X.] ein. Nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens wurde sein weiterer Aufenthalt seit Mai 1995 zunächst geduldet. Am 13. März 2002 erhielt er erstmals eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen gemäß § 30 Abs. 3 AuslG 1990. Diese wurde in der Folgezeit als Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 [X.] bis zum 29. April 2006 verlängert.

3

Am 31. August 2005 beantragte der Kläger, der mit seiner Lebensgefährtin und seinen drei 1999, 2001 und 2003 geborenen Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebte, die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 [X.]. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 4. Dezember 2007 ab, da es an der nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] erforderlichen Sicherung des Lebensunterhalts fehle. Dem durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen des [X.] von 1 349 € stehe ein monatlicher Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft von 1 583 € gegenüber. Auch bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis sei nicht nur auf die Sicherung des Lebensunterhalts des jeweiligen Antragstellers, sondern auf die Bedarfsgemeinschaft abzustellen, in der der Ausländer lebe. Die Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung ergebe sich auch aus den einschlägigen Bestimmungen des [X.] und des [X.] ([X.] und XII).

4

Mit seiner Klage hat der Kläger geltend gemacht, die für eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 [X.] erforderliche Sicherung des Lebensunterhalts sei nur auf den antragstellenden Ausländer selbst zu beziehen und könne nicht auf seine Familienangehörigen ausgedehnt werden.

5

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 16. Oktober 2008 den Ablehnungsbescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Antrag des [X.] auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erneut zu bescheiden. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] sei es ausreichend, wenn der Kläger selbst seinen Lebensunterhalt durch eigenen Verdienst sichern könne. Das sei durch die vorgelegten Verdienstbescheinigungen eindeutig belegt. Die Beklagte habe zu Unrecht auch den Bedarf der minderjährigen Kinder des [X.] in die Berechnung einbezogen. Der Umstand, dass der Kläger für seine drei Kinder Leistungen nach dem [X.] erhalte, stehe der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht entgegen. Auch wenn der Kläger damit möglicherweise tatbestandlich einen [X.] nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 [X.] erfüllt habe, sei dies im Rahmen von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 [X.] nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass ihm der Titel der Niederlassungserlaubnis zu versagen wäre. Der Antrag des [X.] sei daher nach Maßgabe dieser Rechtsauffassung von der Beklagten erneut zu bescheiden. Ein Verpflichtungsausspruch komme allerdings nicht in Betracht, weil noch die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 [X.] zu prüfen seien. Insoweit hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen.

6

Die gegen die Verpflichtung zur Neubescheidung gerichtete Berufung der Beklagten hat der [X.] mit Urteil vom 14. Dezember 2009 zurückgewiesen. Er hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 [X.] seien erfüllt. Der Kläger besitze seit mehr als sieben Jahren ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen. Bei der Frage, ob der Lebensunterhalt des [X.] gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] gesichert sei, sei entgegen der Ansicht der Beklagten ausschließlich auf den Kläger selbst abzustellen, nicht aber auf etwaige unterhaltsberechtigte Personen. Zwar sei in Fällen des Familiennachzugs nach überwiegender Meinung angesichts der konkretisierenden Bestimmung des § 2 Abs. 3 Satz 4 [X.] auch der Bedarf von Familienangehörigen, mit denen der Ausländer in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, mit einzubeziehen. Dies gelte dagegen, wie der Wortlaut der § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und § 2 Abs. 3 Satz 1 [X.] zeige, nicht für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen. Der Vergleich mit verschiedenen anderen Regelungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im [X.] und im Staatsangehörigkeitsgesetz zeige, dass der Gesetzgeber bewusst unterschiedlich lautende Formulierungen gewählt habe, wenn es um die Frage gehe, in welcher Form bzw. hinsichtlich welches Personenkreises der Lebensunterhalt gesichert sein müsse. Damit lasse bereits der Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] nur den Schluss zu, dass bei der Sicherung des Lebensunterhalts hier nur auf den Ausländer selbst abgestellt werden könne. Auf die Frage, ob diese Auslegung mit der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegen eines [X.]es nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 [X.] vereinbar sei, komme es nicht an. Denn die Leistungen nach dem [X.], welche die Kinder des [X.] erhielten, seien nach § 23 Abs. 2 [X.] nicht als Sozialhilfe im Sinne dieses Ausweisungstatbestandes einzustufen.

7

Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision macht die Beklagte im Wesentlichen geltend, der Lebensunterhalt eines in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Menschen könne nicht isoliert berechnet werden. [X.] es sich bei den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft um Familienangehörige, mindere deren Bedürftigkeit das dem Antragsteller zur Verfügung stehende Einkommen. Sollte man bei der Berechnung des Lebensunterhalts nicht die Bedarfsgemeinschaft zugrunde legen, wären Unterhaltsansprüche gleichwohl einkommensmindernd in Ansatz zu bringen. Auch die [X.] zum [X.] vom 27. Juli 2009 gehe davon aus, dass die Sicherung des Lebensunterhalts der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen Bestandteil der eigenen Lebensunterhaltssicherung sei (Nr. 2.3.2.3). Im Übrigen stellten die Leistungen nach dem [X.], die die Familie des [X.] erhalte, eine Leistung der Sozialhilfe im Sinne des Ausweisungstatbestandes nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 [X.] dar. Denn es handele sich dabei nur um eine im Verhältnis zur Sozialhilfe gekürzte Leistung.

8

Der Kläger hält die Revision u.a. schon mangels ausreichender Revisionsbegründung für unzulässig. Im Übrigen verteidigt er in der Sache das angegriffene Berufungsurteil und weist darauf hin, dass zu seiner Familie inzwischen drei weitere Kinder gehörten, nämlich ein 2008 geborener [X.] und zwei 2010 geborene Zwillinge, die ebenfalls Leistungen nach dem [X.] erhielten.

9

Der Vertreter des [X.] beim [X.] ist mit der Beklagten der Auffassung, dass bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] nicht allein auf den Kläger, sondern auf die Bedarfsgemeinschaft insgesamt abzustellen sei, die er zusammen mit seinen Familienangehörigen bilde.

Entscheidungsgründe

A. Die Revision der Beklagten ist zulässig. Entgegen der Ansicht des [X.] sind die Revisionsschrift und die [X.] von einer nach § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO vertretungsberechtigten Person, nämlich von einer Beschäftigten der Beklagten mit Befähigung zum Richteramt, unterzeichnet worden. Ferner genügt die [X.] den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO. Sie enthält insbesondere einen bestimmten Antrag und bezeichnet mit den Ausführungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 und § 2 Abs. 3 [X.] die aus Sicht der Beklagten verletzte Rechtsnorm.

B. Die Revision ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 [X.] mit einer Begründung bejaht, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist. Es hat zu Unrecht angenommen, dass der Lebensunterhalt des [X.] im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 3 [X.] schon dann gesichert ist, wenn der Kläger mit seinem Einkommen seinen eigenen Bedarf decken kann, und es nicht darauf ankommt, ob die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Mitglieder der Kernfamilie hilfebedürftig sind. Mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil kann der Senat allerdings in der Sache nicht abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 ([X.]), die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten. Nach § 26 Abs. 4 [X.] kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 [X.] bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Dabei ist im Fall des [X.] die Besonderheit zu beachten, dass er vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer [X.] war und deshalb nach der Übergangsregelung in § 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 [X.] die Bestimmungen in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 (Leistung von Pflichtbeiträgen oder freiwilligen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung für mindestens 60 Monate) und Nr. 8 [X.] (Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im [X.]) nicht anwendbar sind und auch beim [X.] nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 [X.] geringere Anforderungen zu stellen sind.

a) Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 [X.] erfüllt. Diese Voraussetzungen müssen grundsätzlich im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsacheninstanz vorliegen (Urteil vom 10. November 2009 - BVerwG 1 C 24.08 - BVerwGE 135, 225 Rn. 13). Das ist hier der Fall, weil der Kläger im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung (14. Dezember 2009) im Besitz einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 [X.] war und er diesen Aufenthaltstitel - oder eine gleichwertige Rechtsposition - ununterbrochen seit sieben Jahren besaß. Dabei sind die Zeiten des Besitzes der [X.] nach § 30 Abs. 3 AuslG 1990 vom März 2002 bis Ende Dezember 2004 gemäß § 102 Abs. 2 [X.] auf den [X.] anzurechnen. Ab 1. Januar 2005 war der Kläger im Besitz einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 [X.] oder hatte auf seinen rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrag hin, der in dem Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis sinngemäß enthalten war, zumindest einen Anspruch auf Verlängerung dieser Aufenthaltserlaubnis. Dementsprechend hat die Beklagte ausweislich der Ausländerakte ihm letztlich auch am 17. Dezember 2007 seine Aufenthaltserlaubnis für weitere zwei Jahre verlängert. Insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

b) Zu Unrecht ist das Berufungsgericht dagegen bei der Prüfung der Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 26 Abs. 4 Satz 1 [X.] davon ausgegangen, dass es genügt, wenn der Kläger mit seinem Erwerbseinkommen seinen eigenen Bedarf decken könnte und es auf die Sicherung des Lebensunterhalts der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Mitglieder der Kernfamilie unter keinen Umständen ankommt. Diese Auffassung ist mit der inzwischen durch Urteil des Senats vom 16. November 2010 (BVerwG 1 C 21.09 - zur [X.] in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen, Rn. 14 ff., [X.] 2011, 182) vorgenommenen Auslegung dieser Erteilungsvoraussetzung nicht vereinbar. Wie der Senat in diesem Urteil im Einzelnen ausgeführt hat, verlangt die gesetzliche Definition der Sicherung des Lebensunterhalts in § 2 Abs. 3 Satz 1 [X.], auf die sich § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] ebenso wie § 5 Abs. 1 Nr. 1 [X.] beziehen, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen - sofern sie nicht nach § 2 Abs. 3 Satz 2 [X.] unschädlich sind - bestreiten kann. Ob ein Anspruch auf öffentliche Leistungen für den Lebensunterhalt besteht, bestimmt sich bei erwerbsfähigen Ausländern deshalb im Grundsatz nach den entsprechenden Bestimmungen des [X.] ([X.]). Lebt der erwerbsfähige Ausländer mit seiner Familie zusammen, so richtet sich die Berechnung seines Anspruchs auf öffentliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] grundsätzlich nach den Regeln über die Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 [X.]. Danach gilt in einer Bedarfsgemeinschaft, wenn deren gesamter Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt werden kann, jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 [X.]). Im Regelfall hat danach jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft einen Leistungsanspruch in Höhe dieses Anteils. Das führt nach der Rechtsprechung des Senats - jedenfalls soweit die Bedarfsgemeinschaft aus Mitgliedern der Kernfamilie besteht - regelmäßig dazu, dass der Lebensunterhalt des Ausländers dann nicht im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 [X.] gesichert ist, wenn der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft nicht durch eigene Mittel bestritten werden kann (wegen der Begründung im Einzelnen vgl. Urteil vom 16. November 2010 a.a.[X.] Rn. 15 ff.).

Soweit der Kläger demgegenüber geltend macht, in seinem Fall könne nicht an das [X.] angeknüpft werden, weil er ebenso wie seine Kinder als Leistungsberechtigter nach dem [X.] nicht dem [X.] unterfalle, er selbst keine Leistungen nach dem [X.] beziehe und es in diesem Gesetz keine dem § 9 Abs. 2 Satz 3 [X.] vergleichbare Vorschrift gebe, greift dieser Einwand nicht durch. Denn für die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist nicht maßgeblich, welche Leistungen gegenwärtig tatsächlich bezogen werden. Entscheidend ist vielmehr, ob künftig voraussichtlich ein Anspruch auf öffentliche Leistungen im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 [X.] besteht (Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - BVerwGE 131, 370 Rn. 21). Würde dem Kläger aber eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 [X.] erteilt, fiele er nicht mehr unter die Vorschriften des [X.]es (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 und 3 AsylbLG). Damit wäre er nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [X.] nicht mehr von Leistungen nach dem [X.] ausgeschlossen. Da er erwerbsfähig ist und auch die übrigen Voraussetzungen für die [X.] nach § 7 Abs. 1 Satz 2 [X.] erfüllt, stünden ihm nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis im Falle der Hilfebedürftigkeit Leistungen nach dem [X.] zu. Bei Ermittlung des künftigen Hilfebedarfs ist deshalb auch im Fall des [X.] auf die Vorschriften des [X.] abzustellen. Mit seiner hiervon abweichenden Auffassung beruht das Berufungsurteil auf der Verletzung von Bundesrecht.

2. Der Senat kann aufgrund der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht selbst abschließend entscheiden, ob die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts scheitert. Denn das Berufungsgericht hat schon keine genauen Feststellungen über die im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung zu erwartende Höhe des durchschnittlichen monatlichen Erwerbseinkommens des [X.] und sonstige für die Ermittlung seines Bedarfs nach dem [X.] wesentliche Umstände - etwa die Höhe der Kosten für Unterkunft und Heizung - getroffen. Darüber hinaus lassen sich dem Berufungsurteil - nach der dort vertretenen Rechtsauffassung folgerichtig - auch keinerlei Feststellungen hinsichtlich der zur Bedarfsgemeinschaft des [X.] im Sinne von § 7 Abs. 3 [X.] zu rechnenden Personen entnehmen. Auf dieser Grundlage lässt sich nicht beurteilen, ob der Kläger nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis mit Rücksicht auf seine Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] beanspruchen könnte. Die Sache ist deshalb zur weiteren Klärung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 [X.] an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

3. Bei der erneuten Befassung wird der Verwaltungsgerichtshof prüfen müssen, ob dem Kläger nach den Bestimmungen des [X.] in der nunmehr geltenden Bekanntmachung der Neufassung vom 13. Mai 2011 ([X.]) nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis voraussichtlich ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zustehen würde. Dabei wird es alle hierfür erheblichen Umstände sowohl hinsichtlich des [X.] als auch hinsichtlich der Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft ermitteln müssen. Dabei kann für die Berechnung des Anspruchs auch die Frage von Bedeutung sein, ob ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft voraussichtlich (weiterhin) nach dem [X.] leistungsberechtigt und damit von Leistungen nach dem [X.] ausgeschlossen wäre (vgl. zur Berechnung bei sog. gemischten Bedarfsgemeinschaften: BSG, Urteil vom 15. April 2008 - [X.]/7b [X.]/06 - [X.], 259). Sollte sich bei der Berechnung ein Leistungsanspruch des [X.] nach dem [X.] ergeben, bliebe weiter zu prüfen, ob der Kläger durch Beantragung des - nach § 2 Abs. 3 Satz 2 [X.] unschädlichen - Kinderzuschlags für seine - inzwischen sechs - Kinder nach § 6a [X.], von dem er bisher als Leistungsberechtigter nach dem [X.] ausgeschlossen war, künftig eine Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft insgesamt und damit auch den eigenen Bezug von Leistungen nach dem [X.] vermeiden könnte (vgl. zu dieser Möglichkeit auch Urteil vom 16. November 2010 a.a.[X.] Rn. 22). Bei der Prognose, ob der Kläger den antragsabhängigen Kinderzuschlag anstelle der Leistungen nach dem [X.] gegebenenfalls tatsächlich auch beantragen würde, ist zu berücksichtigen, dass nach § 12a [X.] eine Pflicht zur Inanspruchnahme des Kinderzuschlags nach dem Bundeskindergeldgesetz besteht, es sei denn, dass dadurch nicht die Hilfebedürftigkeit aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als drei Monaten beseitigt würde (§ 12a Satz 2 Nr. 2 [X.]). Wegen der Komplexität der Berechnung und der Anwendung der einschlägigen sozialrechtlichen Vorschriften dürfte es in der Praxis sachdienlich sein, Auskünfte des für die Leistungen nach dem [X.] zuständigen Sozialleistungsträgers und gegebenenfalls der für den Kinderzuschlag zuständigen Familienkasse einzuholen.

Da mangels ausreichender tatrichterlicher Feststellungen derzeit nicht absehbar ist, ob ein Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft des [X.] auch nach Erteilung einer Niederlassungserlaubnis noch längerfristig Leistungen nach dem [X.] in Anspruch nehmen müsste, braucht der Senat die noch nicht höchstrichterlich geklärte Frage, ob damit der [X.] nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 [X.] ("wenn der Ausländer für sich, seine Familienangehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialhilfe in Anspruch nimmt") erfüllt sein könnte oder ob dieser nur Leistungen nach dem [X.] erfasst, im Rahmen dieser Hinweise nicht zu entscheiden. [X.] kann auch, ob überhaupt ein Rückgriff auf den [X.] zulässig ist oder insoweit § 9 [X.] eine abschließende Regelung trifft. Wenn der gegenwärtige Bezug von Leistungen nach dem [X.] nach der vom Berufungsgericht zu treffenden Prognose nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis voraussichtlich enden wird, würde dieser [X.] jedenfalls schon deshalb nicht mehr als möglicher Versagungsgrund für die Niederlassungserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 5 Abs. 3 Satz 2 [X.] eingreifen, weil er nach seinem Sinn und Zweck nicht darauf angelegt ist, eine Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen in der Vergangenheit zu sanktionieren, sondern der fortdauernden künftigen Inanspruchnahme solcher Leistungen entgegenwirken soll.

Meta

1 C 4/10

16.08.2011

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 14. Dezember 2009, Az: 9 A 1733/09, Urteil

§ 26 Abs 4 AufenthG 2004, § 9 Abs 2 AufenthG 2004, § 2 Abs 3 AufenthG 2004, § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG 2004, § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG 2004, § 5 Abs 3 AufenthG 2004, § 55 Abs 2 Nr 6 AufenthG 2004, § 7 Abs 1 S 1 SGB 2, § 7 Abs 3 SGB 2, § 9 Abs 2 SGB 2, § 12a SGB 2, § 6a BKGG, § 1 Abs 1 Nr 3 AsylbLG, § 1 Abs 2 AsylbLG, § 1 Abs 3 AsylbLG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16.08.2011, Az. 1 C 4/10 (REWIS RS 2011, 4004)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4004

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