BT-Drucksache 18/9055

10 Jahre nach dem Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes - Eine Reform ist überfällig

Vom 6. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9055
18. Wahlperiode 06.07.2016
Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ulle Schauws, Beate Müller-Gemmeke,
Corinna Rüffer, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Katja Keul,
Tom Koenigs, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu,
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

10 Jahre nach dem Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes –
Eine Reform ist überfällig

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 18. August 2006 ist das erste eigenständige Antidiskriminierungsgesetz der
Bundesrepublik Deutschland, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), in
Kraft getreten. Das AGG hat nicht nur die Rechte der Betroffenen, die Benachteili-
gungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Ge-
schlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder
der sexuellen Identität erfahren haben, gestärkt. Vielmehr hat das Gesetz eine Anti-
diskriminierungskultur in deutschen Unternehmen etabliert. Zudem hat sich das Ge-
setz in keiner Weise belastend für die Wirtschaft erwiesen. Im Gegenteil gilt: Dis-
kriminierung ist schlecht für die Wirtschaft und schlecht für das Ansehen Deutsch-
lands. In einer globalisierten Welt ist die Anerkennung von Vielfalt („Diversity“) ein
wichtiges Element für den wirtschaftlichen Erfolg.
Dennoch wurden die vier EU-Antidiskriminierungsrichtlinien mit dem AGG nur lü-
ckenhaft umgesetzt. Dazu ist die Durchsetzung der Rechte der von Benachteiligun-
gen Betroffenen sehr erschwert. Damit Diskriminierungen effektiv bekämpft werden
können, muss das AGG 10 Jahren nach dem Inkrafttreten reformiert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im AGG

1. klarzustellen, dass der Diskriminierungsgrund Geschlecht – entgegen der Geset-
zesbegründung des AGG – auch Diskriminierungen aufgrund der Geschlechts-
identität, also trans- und intergeschlechtliche Menschen, erfasst;

2. die sexuelle Belästigung nicht nur für den Bereich Beschäftigung und Beruf (§ 2
Abs. 1 Nr. 1 bis 4) sondern auch für den allgemeinen Zivilrechtsverkehr als Dis-
kriminierung zu definieren;

3. den Anwendungsbereich um die öffentlich-rechtlichen Leistungsgewährungen
durch Hoheitsakte bzw. durch öffentlich-rechtliche Verträge (z. B. im Bildungs-
bereich) und die staatliche Eingriffsverwaltung (z. B. im Rahmen polizeilichen
Handelns) zu ergänzen;

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4. die Verweigerung angemessener Vorkehrungen im Sinne der UN-BRK als Tat-

bestand der Benachteiligung aufzunehmen;
5. den horizontalen Ansatz des AGG konsequent durchzuhalten und das umfas-

sende zivilrechtliche Diskriminierungsverbot in § 19, das uneingeschränkt für
rassistische Benachteiligungen und Benachteiligungen wegen der ethnischen
Zuschreibung gilt, auf alle Diskriminierungsmerkmale zu erweitern;

6. private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen und privat betriebene öffent-
lich zugängliche Einrichtungen zu Gleichbehandlung und schrittweiser Umset-
zung von Barrierefreiheit zu verpflichten;

7. den Begriff „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse“ durch „rassistische Be-
nachteiligungen“ zu ersetzen;

8. den Schutz vor diskriminierenden Kündigungen in das AGG generell aufzuneh-
men, indem § 2 Abs. 4 ersatzlos gestrichen wird;

9. verbindliche Rahmen für eine umfassende und tatsächliche Durchsetzung von
Gleichberechtigung (proaktive Maßnahmen und Verpflichtungen) für den Be-
reich des staatlichen Handels zu verankern;

10. den Anspruch auf Entgeltgleichheit in § 8 Abs. 2 zu präzisieren;
11. die in § 9 Abs. 2 geregelte Ausnahmeklausel der Religionsgemeinschaften, die

arbeitsrechtliche Sanktionen beispielsweise gegen Menschen in eingetragenen
Lebenspartnerschaften zulassen, explizit nur auf den Kernbereich der Glaubens-
verkündung zu beschränken;

12. § 19 Abs. 3, der entgegen den Vorgaben der Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG
Unterscheidungen aufgrund der ethnische Herkunft bei der Vermietung von
Wohnraum zulässt, ersatzlos zu streichen;

13. die Ausnahmeregelung des § 20 Abs. 2 für privatrechtliche Versicherungen ein-
zuschränken und auch hinsichtlich des Nachweises der Berechtigung der Un-
gleichbehandlung aufgrund von Behinderung und Alter auf die strengeren An-
forderungen zu stellen;

14. ein umfassendes Klagerecht in den Fällen von allgemeiner Bedeutung für Anti-
diskriminierungsverbände einzuführen;

15. die in § 15 Abs. 4 und § 21 Abs. 5 geregelten 2-Monats-Fristen für die Geltend-
machung von Ansprüchen auf 6 Monate zu verlängern;

16. das Klagerecht der Betriebsräte und Gewerkschaften nach § 17 Abs. 2 für alle
Verstöße von Arbeitgebern gegen das AGG auszuweiten;

17. das sog. Maßregelungsverbot gem. § 16, wonach niemand wegen Inanspruch-
nahme von Rechten nach dem AGG benachteiligt werden darf, auch auf das Zi-
vilrecht auszudehnen;

18. unabhängig zu evaluieren, ob die in § 15 und § 21 geregelten Sanktionen ent-
sprechend der europarechtlichen Vorgaben einen „wirksamen, verhältnismäßi-
gen und abschreckenden“ Charakter haben und wirksamen Schutz vor Benach-
teiligungen bieten;

19. den Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie zur Gleichbehandlung
ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Al-
ters oder der sexuellen Ausrichtung, KOM(2008) 426 (sog. 5. EU-Antidiskrimi-
nierungsrichtlinie) nicht länger zu blockieren, sondern ihm zuzustimmen.

Berlin, den 5. Juli 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9055
Begründung

Ad 1.
Entgegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes werden Benachteiligungen von trans- und inter-
geschlechtlichen Menschen laut der Begründung des AGG als Benachteiligungen aufgrund der sexuellen Iden-
tität behandelt. Dementsprechend bekommen die betroffenen Menschen einen schwächeren Schutz im Ver-
gleich zu Menschen, die wegen des Geschlechts benachteiligt werden.

Ad 2.
Das Verbot der sexuellen Belästigung gem. § 3 Abs. 4 AGG gilt nur im Arbeitsrecht, nicht aber beim Abschluss
von schuldrechtlichen Verträgen. Daher soll das Verbot auf den gesamten Anwendungsbereich des Gesetzes
erweitert werden. Die Gefahr von sexueller Belästigung besteht grundsätzlich bei allen Schuldverhältnissen,
aber auch im Bereich der Bildung und des Sozialen. Die Beschränkung auf das Arbeitsrecht ist zudem mit Art. 2
Buchstabe d der Genderrichtlinie 2004/113/EG unvereinbar.

Ad 3.
In § 2 Abs. 1 AGG werden als Anwendungsbereich des Gesetzes die selbständige und unselbständige Erwerbs-
tätigkeit, der Sozialschutz, die sozialen Vergünstigungen, die Bildung und der Zugang zu und die Versorgung
mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, genannt. Außerhalb der Erwerbs-
tätigkeit, wo § 24 AGG die entsprechende Geltung des Gesetzes auch für öffentlich-rechtliche Dienstverhält-
nisse anordnet, verbietet das AGG Benachteiligungen allein im Zivilrechtsverkehr (§§ 19 bis 21 AGG). Nicht
erfasst sind damit öffentlich-rechtliche Leistungsgewährungen durch Hoheitsakt oder öffentlich-rechtlichen
Vertrag, wie sie gerade im Bildungsbereich in Deutschland üblich sind. Auch die staatliche Eingriffsverwaltung,
zum Beispiel im Rahmen polizeilichen Handelns, ist nicht erfasst. Dies führt dazu, dass der Staat dort, wo er
privatrechtlich handelt, (auch) an das zivilrechtliche Diskriminierungsverbot des § 19 AGG und die daran an-
knüpfenden Regelungen zu dessen Durchsetzung gebunden ist, bei öffentlich-rechtlichem Handeln dagegen
allein an Art. 3 Abs. 3 GG (soweit nicht ausnahmsweise Unionsrecht unmittelbar anwendbar ist). In der Realität
ist der Bereich staatlichen Handelns nicht weniger diskriminierungsrelevant, als der des privaten Rechtsver-
kehrs. Das belegen empirische Untersuchungen, wie auch Klagen im Bereich des Verwaltungsrechts. Dies zeigt
nicht zuletzt das bei deutschen Sicherheitsbehörden zum Einsatz kommende „racial profiling“.

Ad 4.
Angemessene Vorkehrungen bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderli-
chen Maßnahmen ergreift, um einem Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung
eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermög-
lichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist
nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitglied-
staates ausreichend kompensiert wird (vgl. Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG und
Art. 2 UN-Behindertenrechtskonvention). Das Entsprechende gilt im Zivilrecht für den Zugang zu und die Ver-
sorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Die Versagung angemessener Vorkehrungen ist eine Diskriminierung
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 2 Abs. 3 sowie Art. 5 Abs. 3). Das soll im Allgemeinen
Teil des AGG klargestellt werden.

Ad 5.
Das AGG enthält zahlreiche Hierarchisierungen, die einen einheitlichen Rechtsschutz und eine sichere Rechts-
anwendung erschweren bzw. verunmöglichen. Das betrifft den Schutzbereich des Gesetzes wie auch den Recht-
fertigungsmaßstab. So gilt das zivilrechtliche Diskriminierungsverbot in § 19 uneingeschränkt nur für rassisti-
sche Benachteiligungen und Benachteiligungen wegen der ethnischen Zuschreibung. Der horizontale Ansatz
des AGG soll mit dieser Forderung konsequent durchgehalten werden, indem das zivilrechtliche Diskriminie-
rungsverbot in § 19 auf alle Diskriminierungsmerkmale erweitert wird.

Ad 6.
Mit der im AGG verankerten Verpflichtung zur Gleichbehandlung und Umsetzung der Barrierefreiheit sollen
schrittweise auch private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen und privat betriebene öffentlich zugängli-
che Einrichtungen an der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beteiligt werden.

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Ad 7.
Der Begriff „Rasse“ sollte gerade in Gesetzestexten, die die Bekämpfung der Diskriminierung zum Ziel haben,
nicht mehr verwendet werden, da die ihm zugrunde liegende angenommene Existenz menschlicher „Rassen“
selbst rassistische Implikationen hat. Dadurch entstehen in der Anwendung solcher Gesetzestexte in der Recht-
sprechung Probleme. Diese könnten vermieden werden, wenn das Gesetz stattdessen den Begriff „rassistische
Benachteiligung“ verwenden würde.

Ad 8.
Nach § 2 Abs. 4 AGG gelten für Kündigungen „ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und beson-
deren Kündigungsschutz“. Keine dieser Vorschriften zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz ver-
bieten die Kündigung wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, einer Be-
hinderung, des Alters, der sexuellen Identität oder des Geschlechts. Das ist mit der Antirassismusrichtli-
nie 2000/43/EG, der Genderrichtlinie 2004/113/EG und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG
nicht zu vereinbaren. Danach gelten die Diskriminierungsverbote auch für „die Entlassungsbedingungen“. Un-
ter den Begriff „Entlassungsbedingungen“ fallen auch Kündigungen.

Ad 9.
Im AGG fehlt es bisher weitgehend an einem verbindlichen Rahmen für eine umfassende und tatsächliche
Durchsetzung von Gleichberechtigung – jenseits der Förderung von Frauen oder von Menschen mit Behinde-
rung im öffentlichen Dienst. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des AGG um den Bereich staatlichen
Handelns sollte daher um die verpflichtende Verankerung der im Folgenden dargestellten proaktiven Maßnah-
men und Verpflichtungen ergänzt werden.

Ad 10.
Frauen sind in der Arbeitswelt noch immer häufig schlechter gestellt als Männer. Ungleiche Bezahlung und
unsichere Arbeitsverhältnisse sind für viele Frauen Realität. Das zeigt, dass Selbstverpflichtungen und Freiwil-
ligkeit allein nicht die erforderlichen Veränderungen bewirken. Bei Entgeltdiskriminierungen ist der bisher
mögliche individuelle Klageweg für die Beschäftigten risikoreich und unüberschaubar. Daher wird gar nicht
oder oft erst nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses geklagt. Und selbst wenn die Klage erfolgreich war,
klärt sie nur den individuellen Fall und bewirkt in der Regel nicht, dass andere Frauen davon profitieren. Eine
staatliche Kontrolle der Regelungen im Rahmen des Entgeltgleichheitsgesetzes ist jedoch unrealistisch und auch
nicht anstrebenswert. Deshalb soll neben anderen im vorliegenden Antrag formulierten Forderungen in § 8
Abs. 2 AGG den Anspruch auf Entgeltgleichheit präzisiert werden.

Ad 11.
Durch die Regelung des § 9 Abs. 2 wird eine Ausnahme vom allgemeinen Benachteiligungsverbot zugunsten
der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften sowie deren Einrichtungen und Vereinigungen gemacht,
die auf das individuelle Verhalten der Beschäftigten zielt. Danach können sie von ihren Beschäftigten ein loya-
les und aufrichtiges Verhalten verlangen. Damit ist den Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften er-
laubt, den in ihren Einrichtungen Beschäftigten bestimmte Lebensführungspflichten abzuverlangen, die in den
Bereich der Privatsphäre hineinreichen. Der Verstoß gegen Loyalitätsobliegenheiten wie die Eingehung be-
stimmter Rechtsverhältnisse („Verpartnerung“) oder die Auflösung bestimmter Verträge („Scheidung“) hat im
Extremfall die Kündigung zur Folge. In der Praxis macht vor allem die Katholische Kirche von diesen Mög-
lichkeiten Gebrauch, was verfassungs- und europarechtlich problematisch ist. Daher soll klargestellt werden,
dass diese Ausnahmeklausel nur auf den Kernbereich der Glaubensverkündung ihre Anwendung findet.

Ad 12.
§ 19 Abs. 3 AGG erlaubt Benachteiligungen bei der Vermietung von Wohnraum, wenn dies zum Zwecke der
Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie aus-
geglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse geschieht. Das verstößt gegen die Antirassis-
musrichtlinie 2000/43/EG und die Genderrichtlinie 2004/113/EG, weil diese Richtlinien solche Einschränkun-
gen nicht zulassen. Zudem hat diese Regelung dazu geführt, dass beim Abschluss von Mietverträgen vermehrt
Ungleichbehandlungen aus rassistischen Gründen festgestellt wurden (vgl. den Schattenbericht des Forums
Menschenrechte zum 16. - 18. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an das CERD-Komitee, Ber-
lin 2008).

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Ad 13.
Gemäß § 20 Abs. 2 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion, einer Behinderung, des
Alters oder der sexuellen Identität zulässig, wenn diese auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation
beruht, insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung
statistischer Erhebungen. Eine Differenzierung aufgrund einer Religion oder einer sexuellen Identität ist nicht
erkennbar, kann aber zur Stigmatisierung bestimmter Gruppen führen.

Ad 14.
Diskriminierung ist nicht nur ein individuelles Problem, vielmehr gibt es in unserer Gesellschaft strukturelle
Diskriminierung. Es ist klar, dass Opfer von Diskriminierung hohe emotionale Hürden überspringen müssen,
bevor sie etwa ihre Arbeitgeber verklagen. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, fehlende Rechtsbe-
ratung oder schlicht die Prozesskosten sind nur einige der Gründe. Häufig fehlen aber schlicht die Daten und
die Kenntnisse, um eine Diskriminierung im Sinne des AGG mit Indizien untermauern zu können. Deswegen
ist es notwendig, dass auch die Antidiskriminierungsverbände grundsätzlich in die Lage versetzt werden, ohne
die Verletzung eigener Rechte darlegen zu müssen, Klage zu erheben auf Feststellung, dass gegen das Benach-
teiligungsverbot verstoßen wurde. Soweit eine betroffene Person selbst Klage erheben kann oder hätte erheben
können, soll die Verbandsklage nur zulässig sein, wenn der Antidiskriminierungsverband geltend macht, dass
es sich bei der Maßnahme um einen Fall von allgemeiner Bedeutung handelt. Dies soll insbesondere der Fall
sein, wenn eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle vorliegt.

Ad 15.
Gemäß § 15 Abs. 4 AGG müssen Entschädigungs- bzw. Schadensersatzansprüche innerhalb einer Frist von
zwei Monaten gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich gemacht werden. Im Zivilrecht (§ 21 Abs. 5 AGG) gilt
ebenfalls eine zweimonatige Frist zur Geltendmachung gegenüber dem Vertragspartner, es sei denn, die be-
nachteiligte Person war ohne eigenes Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert. Die Beratungspraxis
zeigt, dass diese Fristen in keiner Weise mit der Lebensrealität der betroffenen Gruppen übereinstimmen, denn
es braucht Zeit, bis Betroffene nach der Aufdeckung der Ungleichbehandlung sich zum Handeln durchringen.
Außerdem blockiert die zur Fristwahrung nötige frühzeitige schriftliche Geltendmachung des Anspruchs eine
einvernehmliche Lösung. Um die Durchsetzung der Ansprüche durch eine zu kurze Geltendmachungsfrist nicht
unverhältnismäßig zu beschränken sowie einen Dialog zu ermöglichen, der zu nachhaltigen Veränderungen
sowie zu einem befriedigenden Ausgleich führen kann, müssen die Fristen zur Geltendmachung von Ansprü-
chen nach dem AGG auf 6 Monate verlängert werden (vgl. Liebscher/Klose, Vorschläge zur Novellierung des
AGG, im Auftrag des Büros zur Umsetzung von Gleichbehandlung e. V., 2014).

Ad 16.
Gemäß § 17 Abs. 2 AGG haben Betriebsräte und Gewerkschaften die Möglichkeit, Arbeitgeber bei einem „gro-
ben Verstoß“ gegen die Vorschriften des AGG zum Schutz der Beschäftigten vor Diskriminierungen vor dem
Arbeitsgericht zu verklagen. Ansprüche der Benachteiligten dürfen nicht geltend gemacht werden. Von der
Vorschrift wird nur selten Gebrauch gemacht, was u. a. an der Anforderung „grober Verstoß“ liegt, der nur bei
objektiv erheblichen und offensichtlich schwerwiegenden Pflichtverletzungen vorliegen kann. Um den Diskri-
minierungsschutz wirksamer zu gestalten, soll künftig jeder Verstoß von Arbeitgebern gegen das AGG ausrei-
chen, um das Recht von Betriebsrat und Gewerkschaft auszulösen.

Ad 17.
Das Maßregelungsverbot gem. § 16 AGG, wonach es Arbeitgebern verboten ist, Beschäftigte wegen der Inan-
spruchnahme von Rechten nach dem AGG zu benachteiligen, gelten nur im Arbeitsrecht, nicht beim Abschluss
von schuldrechtlichen Verträgen. Daher soll das Verbot auf den gesamten Anwendungsbereich des Gesetzes
erweitert werden. Die Gefahr von Viktimisierung besteht grundsätzlich bei allen Schuldverhältnissen, aber auch
im Bereich der Bildung und des Sozialen. Die Beschränkung auf das Arbeitsrecht ist zudem mit Art. 9 der
Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG unvereinbar.

Ad 18.
Die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien sehen bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot vor: „Die
Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismä-
ßig und abschreckend sein.“ Ob die Regelungen des AGG dieser Vorgaben genügend Rechnung tragen und ob
für die Gewährleistung eines wirksamen Schutzes vor Benachteiligungen zusätzlicher Regelungsbedarf besteht,
soll von einer unabhängigen Stelle evaluiert werden.

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Ad 19.
Bereits vor acht Jahren, am 2. Juli 2008, hat die EU-Kommission ihren ersten Vorschlag für eine Richtlinie des
Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschau-
ung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, KOM(2008) 426, (sog. 5. Antidiskriminie-
rungsrichtlinie) vorgelegt. Ziel des Entwurfs war es, auch außerhalb von Beschäftigung und Beruf ein einheit-
liches Schutzniveau für Personen festzulegen, die Opfer von Diskriminierungen sind. Der Geltungsbereich der
Richtlinie soll daher neben den Bereichen Sozialschutz, soziale Vergünstigungen und Bildung auch den Zugang
zu Gütern und Dienstleistungen erfassen. Damit sollte der sog. horizontale Ansatz auf europäischer Ebene ver-
wirklicht werden, indem das Schutzniveau europaweit für alle Diskriminierungsmerkmale auf das Niveau der
Antirassismusrichtlinie aus dem Jahr 2000 (RL 2000/43/EG) angehoben werden soll. Nach den bisherigen
Richtlinien gelten für die unterschiedlichen Merkmale unterschiedliche Schutzstandards.
Das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) mit seinem horizontalen Ansatz geht – bei allen
Mängeln bei den Instrumenten – in diesem Punkt bereits über das bisherige europäische Recht hinaus und zieht
alle Formen von Diskriminierung in alle Regelungsbereiche mit ein. Genau dieses Ziel verfolgt auch der EU-
Kommission, die seit 2008 mehrere Entwürfe für die neue Richtlinie vorgelegt hat. Mit ihrem unerbittlichen
Widerstand gegen alle diese Vorschläge wendet sich die Bundesregierung seit acht Jahren also dagegen, dass
auf EU-Ebene nachvollzogen wird, was in Deutschland bereits weitgehend verwirklicht worden ist. Diese sture
Blockadehaltung muss endlich beendet werden.

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