BT-Drucksache 18/7877

Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln

Vom 16. März 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7877
18. Wahlperiode 16.03.2016
Antrag
der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,
Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Volker Beck (Köln), Anja Hajduk, Dr. Konstantin von Notz,
Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Ekin
Deligöz, Katja Dörner, Kai Gehring, Dr. Tobias Lindner, Elisabeth
Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Beate
Walter-Rosenheimer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungs-
gesetz, BGG) setzte 2002 Maßstäbe bei der Umsetzung des Benachteiligungsverbots
im öffentlich-rechtlichen Bereich. Viele Gebäude staatlicher Einrichtungen sind in
den letzten Jahren barrierefrei gebaut oder umgebaut worden. Die Internetseiten der
Bundesministerien und -behörden sind weitgehend barrierefrei, so auch die Internet-
seite des Deutschen Bundestages. Mit der Barrierefreie-Informationstechnikverord-
nung (BITV) wurde ein Standard gesetzt, an dem sich auch private Website-Betrei-
berinnen und Betreiber, die auf Barrierefreiheit Wert legen, orientieren können. Die
Deutsche Gebärdensprache wird nach der staatlichen Anerkennung auch in der Ge-
sellschaft immer stärker als selbstverständliche Form zu kommunizieren wahrge-
nommen.
Die Entwicklungen der letzten vierzehn Jahre, insbesondere das Inkrafttreten der
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sowie Erfahrungen aus der Praxis ma-
chen jedoch weitere Anpassungen notwendig. Der von der Bundesregierung im Ja-
nuar 2016 vorgelegte Entwurf zur Weiterentwicklung des BGG enthält einige gute
Ansätze, ist insgesamt aber mutlos und alles andere als ausreichend.
Viele im Gesetzentwurf enthaltene Änderungen sind nicht geeignet, das laut Begrün-
dung beabsichtigte Ziel zu erreichen. Vor allem scheut die Bundesregierung ver-
bindliche Verpflichtungen. Barrieren in bestehenden Gebäuden und im Intranet der
Bundesministerien und -behörden sollen zwar bis 2021 erhoben werden, bis wann
sie tatsächlich abgebaut werden, steht aber in den Sternen. Hier fehlt der Mut zu
einer klaren zeitlichen Vorgabe.
Als Vorbild zum Abbau von Barrieren in anderen Bereichen ist dieses Vorgehen
ungeeignet, vielmehr verfestigt die Bundesregierung damit den Mythos, der Abbau
von Barrieren sei eine (zu) große Belastung und führt die eigene Öffentlichkeitsar-

Drucksache 18/7877 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
beit in Sachen Barrierefreiheit ad absurdum. Menschen mit Lernschwierigkeiten sol-
len Informationen und Erklärungen in Leichter Sprache bekommen, den Behörden,
die das umsetzen sollen, bleibt aber ein Spielraum, das zu verweigern.
Auch wenn die Inhalte der Internet-Auftritte der Bundesverwaltung weitgehend bar-
rierefrei zugänglich sind, gilt dies nicht für wichtige Portale wie z. B. bundesanzei-
ger.de, die im Auftrag des Bundes betrieben werden. Darauf weist auch der drei-
zehnte Zwischenbericht und die Handlungsempfehlungen der Projektgruppen „Kul-
tur, Medien und Öffentlichkeit“ (vgl. Bundestagsdrucksache 17/12542) und „Demo-
kratie und Staat“ vgl. Bundestagsdrucksache 17/12290) der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ hin.
Private Einrichtungen müssen sich künftig an das BGG halten, wenn sie dauerhaft
(institutionell) vom Staat gefördert werden. Für private Einrichtungen, die immer
wieder viel Geld für Projekte bekommen, gilt das aber nicht. Da viele Projekte mit
großen Beträgen und für lange Zeit bezuschusst werden, ist diese Unterscheidung
nicht nachvollziehbar. Die Gleichstellung behinderter Frauen und Mädchen wird be-
tont, konkrete Maßnahmen hierzu lassen aber weiter auf sich warten.
Die größte Lücke lässt der Gesetzentwurf aber weiterhin dadurch bestehen, dass der
private Sektor weitgehend außen vor bleibt. Es ist schön und gut, wenn der Bund
erklärt, sich zu Barrierefreiheit und Gleichstellung zu verpflichten. Die meisten
Menschen nutzen private Geschäfte, Gaststätten, Kinos usw. aber deutlich häufiger
als Bundesministerien und Behörden. Die Hoffnung, der private Sektor lasse sich
allein durch das Baurecht und Zielvereinbarungen erreichen, hat sich nicht erfüllt.
Den meisten Verbänden behinderter Menschen fehlt Personal und Geld, um Zielver-
einbarungen ohne staatliche Unterstützung verhandeln zu können. Das belegt auch
die Tatsache, dass laut Zielvereinbarungsregister der Bundesregierung die meisten
Zielvereinbarungen in Rheinland-Pfalz geschlossen wurden, wo die Landesregie-
rung derartige Verhandlungen moderiert und unterstützt. Die Aufgabenbeschreibung
der neuen Bundesfachstelle für Barrierefreiheit lässt nicht erwarten, dass sich an die-
ser Schwachstelle etwas ändert. Auch das 2006 in Kraft getretene Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz (AGG) muss daher geändert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Schwächen des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Weiterentwicklung des Behin-
dertengleichstellungsgesetzes zu beheben und
1. alle Einrichtungen im Geltungsbereich des BGG grundsätzlich im gleichen

Umfang zu verpflichten,
2. auch Empfängerinnen und Empfänger von Projektförderung auf Einhaltung des

BGG zu verpflichten, sofern das Projekt eine bestimmte Dauer und die Förder-
summe eine bestimmte Höhe überschreiten,

3. grundsätzlich feste Fristen zum barrierefreien Umbau bestehender Gebäude
und zur barrierefreien Umgestaltung des Intranets zu setzen,

4. das Recht auf Erläuterungen in Leichter Sprache verbindlicher auszugestalten,
5. volle Teilhabe im Netz zu ermöglichen, indem der Geltungsbereich des neuen

§ 12 BGG (Barrierefreie Informationstechnik) auf im Auftrag des Bundes be-
triebene und überwiegend vom Bund geförderte Internet-Angebote ausgeweitet
wird sowie allgemein die Handlungsempfehlungen zur Barrierefreiheit im Netz
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zu berücksichti-
gen und umzusetzen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7877
und ergänzend zur Weiterentwicklung des BGG unter Beteiligung von behinderten
Menschen und ihren Verbänden:
6. die systematische Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in deutsches

Recht voranzutreiben,
7. sich hinsichtlich des „Vertrags von Marrakesch um den Zugang zu veröffent-

lichten Werken für blinde, sehbehinderte oder sonst lesebehinderte Personen zu
erleichtern“ der UN-Organisation „World Intellectual Property Organization“
für eine umgehende Ratifizierung im europäischen Rat einzusetzen und aktive
Schritte zur Umsetzung vorzunehmen,

8. im AGG den Schutz vor Benachteiligungen wegen aller im AGG genannten
Gründen, darunter von Menschen mit Behinderungen, auf alle im AGG genann-
ten Bereiche des Zivilrechts auszuweiten und damit auch private Anbieter und
privat betriebene öffentlich zugängliche Einrichtungen zu Gleichbehandlung
und schrittweiser Umsetzung von Barrierefreiheit zu verpflichten sowie den
Diskriminierungsschutz für den öffentlichen Sektor so auszuweiten, dass alle
im AGG genannten Personengruppen umfasst sind,

9. die Verweigerung angemessener Vorkehrungen im Sinne der UN-BRK als Tat-
bestand der Benachteiligung auch in das AGG aufzunehmen,

10. den Empfehlungen des UN-Fachausschusses zu Barrierefreiheit und Nichtdis-
kriminierung zu folgen und Frauen und Mädchen mit Behinderungen systema-
tisch und präventiv vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung zu schützen und
dazu spezielle Programme zu entwickeln und durchzuführen,

11. die EU-Aufnahmerichtlinie umzusetzen, und damit alle geflüchteten Menschen
mit Behinderungen systematisch und präventiv vor Gewalt, Missbrauch und
Ausbeutung zu schützen und eine ihrer Situation angemessene Unterbringung
und Versorgung sicherzustellen und

12. unter Berücksichtigung vorliegender themenbezogener Daten eine Strategie zur
Bewusstseinsbildung im Sinne des Artikels 8 (Bewusstseinsbildung) der UN-
BRK zu entwickeln, umzusetzen und ihren Erfolg transparent darzustellen.

III. Der Deutsche Bundestag wird die vorliegende Novelle des Behindertengleich-
stellungsgesetzes dazu nutzen

1. den Ausschluss behinderter Menschen vom Wahlrecht gemäß § 13 Nummer 2
und 3 BWahlG sowie gemäß § 6a EuWG noch vor der nächsten Bundestags-
wahl zu beenden und

2. die Vorgaben des BGG zur Barrierefreiheit auch auf die parlamentarische Ar-
beit auszudehnen, so dass
a. Dokumente im Zusammenhang mit Petitionsverfahren den Petentinnen

und Petenten in einem für sie wahrnehmbaren Format zugänglich gemacht
und auf Verlangen in Leichter Sprache erläutert werden,

b. bei öffentlichen Anhörungen, insbesondere im Rahmen von Petitionsver-
fahren, auf Verlangen Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmet-
scher und andere Kommunikationshilfen bereitgestellt werden,

c. Übertragungen und Beiträge des Parlamentsfernsehens barrierefrei im
Sinne der Barrierefreie-Informationstechnikverordnung in der jeweils gül-
tigen Fassung gestaltet werden und

d. Ausstellungen und andere öffentliche Veranstaltungen barrierefrei durch-
geführt werden.

Drucksache 18/7877 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Berlin, den 15. März 2016

Katrin Göring-Eckhardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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