BT-Drucksache 18/776

Konsequenzen aus den Erkenntnissen des NSU-Untersuchungsausschusses

Vom 12. März 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/776
18. Wahlperiode 12.03.2014

Antrag
der Abgeordneten Irene Mihalic, Hans-Christian Ströbele, Monika Lazar,
Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Katja Keul, Renate Künast, Özcan
Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Cem Özdemir und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konsequenzen aus den Erkenntnissen des NSU-
Untersuchungsausschusses

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Untersuchungsausschuss „Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund“
hat in der 17. Wahlperiode wichtige Feststellungen und Bewertungen getroffen.
Vorbehaltlich einer weitergehenden Klärung stellen die gemeinsamen Schluss-
folgerungen und Empfehlungen einen fraktionsübergreifenden Minimalkonsens
dar, der nun zügig und konsequent umgesetzt werden muss.

Für die dringend nötige wirksame Bekämpfung des Rechtsextremismus auf allen
Ebenen reicht das aber nicht aus. Das hat die Bundestagsfraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits in ihrem Sondervotum zum NSU-Untersu-
chungsausschuss zum Ausdruck gebracht. Wir brauchen eine gesamtgesellschaft-
liche Kraftanstrengung gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für
Demokratieförderung auf allen Ebenen. Jede Bagatellisierung von Rechtsextre-
mismus, Rassismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlich-
keit muss ein Ende haben.

Der NSU-Untersuchungsausschuss hat sich sehr intensiv und eingehend mit der
Arbeits- und Funktionsweise der Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste der
Bundesrepublik Deutschland befasst. Er hat ein beispielloses Versagen der
Sicherheitsbehörden bei der Beobachtung und Verfolgung des Nazi-Trios und
seines Unterstützerumfeldes sowie bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen fest-
gestellt; mit tödlichen Konsequenzen für die Opfer des NSU und unerträglichen
Folgen für deren oft im Nachhinein noch zu Unrecht verdächtigter Familien und
unser aller Vertrauen in den Rechtsstaat. Obwohl die gemeinsamen Schlussfolge-
rungen des NSU-Untersuchungsausschusses dringenden Reformbedarf im Um-
gang mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen aufzeigen, ist es bisher noch
nicht einmal gelungen, das Ausmaß von Verdächtigung und Bespitzelung der
Opferfamilien vollständig aufzuklären und die Verantwortlichen in vielen Fällen
zu einem Wort der Entschuldigung und des Bedauerns gegenüber den Betroffe-
nen zu bewegen.

Drucksache 18/776 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Zäsur und Neustart bei den Geheimdiensten zu vollziehen, insbesondere
das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner derzeitigen Form aufzu-
lösen und eine Inlandsaufklärung mit auf das Wesentliche reduzierten
Aufgaben und Befugnissen, neuem Personal sowie starken und effekti-
ven internen und externen Kontrollstrukturen neu zu gründen; die neue
Inlandsaufklärung soll nur für die Aufklärung genau bestimmter Bestre-
bungen mit tatsächlichem Gewaltbezug zuständig sein;
die Beobachtungs- und Analyseaufgaben des bisherigen Bundesamtes für
Verfassungsschutz einem unabhängigen „Institut zur Analyse demokra-
tie- und menschenfeindlicher Bestrebungen“ zu übertragen, das ohne ho-
heitliche Befugnisse und ohne Anwendung nachrichtendienstlicher Mit-
tel wissenschaftlich arbeitet;
die interne und externe Kontrolle der Nachrichtendienste entschieden zu
verbessern und es willkommen zu heißen wenn Parlamente wirksamere,
lückenlose und Bund-Länder-übergreifende Kontrollstrukturen und
-kompetenzen der parlamentarischen Kontrollgremien bzw. -ausschüsse,
der G10-Kommissionen schaffen;
die Unabhängigkeit der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit zu stärken und ihre Kontrollkompetenzen im Be-
reich der Geheimdienste zu erweitern;
den Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden des Bun-
des und der Länder über rechtsextreme Straftäter bei gleichzeitiger Ge-
währleistung eines hohen Datenschutzniveaus und unter Berücksichti-
gung der verfassungsrechtlichen Grenzen des Trennungsgebotes zu ver-
bessern;
den Einsatz von V-Leuten in der rechten Szene, der sich als desaströs,
nutzlos und kontraproduktiv erwiesen hat, zu beenden und den Einsatz
von V-Leuten im Übrigen einer unabhängigen wissenschaftlichen Eva-
luierung zu unterziehen;

2. Konzepte für eine neue Polizeikultur vorzulegen und insbesondere folgende
Maßnahmen umzusetzen:

Gründung einer unabhängigen Polizeibeschwerdestelle auf gesetzlicher
Grundlage; diese soll u.a. Beschwerden über Polizeigewalt und rassis-
tisch motivierte Fehlermittlungen oder Untätigkeit prüfen, Betroffene
(Opfer) bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen und Anlaufstelle
für Polizistinnen und Polizisten sein, die dort Kritik an Ermittlungen und
Vorgesetzten o. Ä. vorbringen können;
Einführung einer zumindest anonymisierten Kennzeichnung für alle
Bundespolizistinnen und -polizisten und entsprechendes Einwirken auf
die Innenministerinnen und Innenminister der Bundesländer bezüglich
deren Regelungen zu Kennzeichnung von Polizistinnen und Polizisten;
eine unabhängige, empirische Untersuchung zu Vorurteilen und Diskri-
minierungsstrukturen innerhalb der deutschen Polizei- und Strafverfol-
gungsbehörden zu veranlassen und die Sensibilität und Kompetenz von
Bediensteten von Polizeien und Geheimdiensten im Umgang mit Rechts-
extremismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfein-
dlichkeit, u. a. durch neue Konzepte der Personalwerbung und -auswahl
und durch Bildungsmaßnahmen, zu erhöhen; in der polizeilichen Aus-
und Fortbildung verstärkt Bildungsmodule zu Menschenrechten bzw.
zur interkulturellen, geschlechtersensiblen und fehleranalytischen Kom-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/776

petenzen anzubieten und diskriminierendes polizeiliches Handeln (sog.
ethnic profiling) auf allen Ebenen zu bekämpfen;
Schaffung von Strukturen für eine bessere Lagebilderstellung und Straf-
verfolgung; das beinhaltet eine systematischere Erfassung rechter Ge-
walttaten unter Einbeziehung der Justiz und zivilgesellschaftlicher Op-
ferberatungsstellen. Außerdem soll die Sensibilität und Kompetenz der
Bediensteten von Polizeien und Geheimdiensten insgesamt, auch ge-
schlechterreflektiert, im Umgang mit Rechtsextremismus und anderen
Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit durch geeignete Maß-
nahmen erhöht werden – sinnvoll wäre hier ein Schwerpunkt im Bereich
der behördlichen Wahrnehmung, Einordnung und Bearbeitung sog.
Hassdelikte;
Verbesserung der Möglichkeiten zur parlamentarischen Kontrolle auch
der Polizei – insbesondere des polizeilichen Staatsschutzes – sowie des
Zugangs des Deutschen Bundestages zu (diesbezüglichen) Unterlagen
der Innenministerkonferenz;
Etablierung eines strukturierten Dialoges zwischen Polizei und zivilge-
sellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus in Zusammenarbeit
mit den Ländern;

3. die zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechts nachhaltig zu fördern und
zu stärken, das heißt unter anderem:

Aufstockung der Bundesmittel auf der Grundlage eines verbesserten
Konzepts auf jährlich mindestens 50 Mio. Euro mittels einer dauerhaften,
kontinuierlichen Förderung durch eine Zuwendungsstiftung „Stiftung zur
Förderung der Demokratie und gegen Rechtsextremismus, Rassismus,
Antisemitismus, Antiziganismus und andere Formen gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit“;
dabei gilt es, gezielt eine nachhaltige lokale Verankerung von Strukturen
wie mobilen Beratungsteams, bundesweiten spezifischen Opferbera-
tungsstellen und geschlechtersensiblen Ausstiegsprojekten zu unterstüt-
zen und zu fördern;
die derzeitige Praxis, nach der ausgerechnet von Demokratieinitiativen
für eine Bundesförderung in diskriminierender Weise ein gesondertes
Bekenntnis zur Verfassung für sich und ihre Kooperationspartner ver-
langt wird, muss endlich beendet werden. Dabei ist es unerheblich, ob
dies wie bisher durch eine Verpflichtung zur Unterzeichnung der
„Extremismusklausel“ oder in anderer Form durchgesetzt wird.

Berlin, den 11. März 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Polizei und Verfassungsschutz sind in ihren Ermittlungen allzu oft Hinweisen auf einen rechtsextremen
Tathintergrund nicht nachgegangen. Gründe dafür waren bürokratische Ignoranz, gravierende strukturelle
Mängel, Blindheit auf dem rechten Auge und in Teilen institutioneller Rassismus bzw. institutionelle grup-
penbezogene Menschenfeindlichkeit, aber auch individuelles Versagen, Inkompetenz, Konkurrenzdenken
Drucksache 18/776 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

und von Vorurteilen geleitetes Handeln. Das Personal der Sicherheitsbehörden hat immer wieder große
Fehler gemacht und sich zum Teil falsch verhalten. Aufgrund dieses eklatanten und dramatischen Versa-
gens bedarf es auch eines personellen Neustarts bei Polizei, Justiz und Geheimdiensten. Vor allem soll
durch die unter 2. geforderten Maßnahmen sichergestellt werden, dass gerade im Bereich Aufklärung mut-
maßlich rechtsextremistisch motivierter Straftaten nur hinreichend qualifizierte und für diesen Bereich spe-
zialisierte Beamtinnen und Beamte eingesetzt werden. Das war bei denen, die in diesem Bereich so eklatant
versagt haben, nicht der Fall. Wir setzen auf solide Polizeiarbeit und gut ausgebildete PolizeibeamtInnen,
statt auf immer neue Datenbanken.
Die strukturelle Aufarbeitung dieses Versagens ist nun Aufgabe nicht nur der Behörden selbst, sondern
auch des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung. Jetzt müssen klare Konsequenzen gezogen
werden: Für die Behebung struktureller Mängel brauchen wir entschiedene Reformen bei den Sicherheits-
behörden, eine bessere Qualifizierung ihres Personals sowie eine effektive Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus auf allen Ebenen.

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