BT-Drucksache 18/7568

Gute Arbeit - Gute Versorgung: Mehr Personal in Gesundheit und Pflege

Vom 17. Februar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7568
18. Wahlperiode 17.02.2016
Antrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring,
Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize
Tank, Dr. Axel Troost, Kathrin Vogler, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Gute Arbeit – Gute Versorgung: Mehr Personal in Gesundheit und Pflege

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine Reportage des Teams um den Enthüllungsjournalisten Günther Wallraff zeigte
am 11. Januar 2016 im Fernsehsender RTL einer breiten Öffentlichkeit die Zustände
in deutschen Krankenhäusern in aller Deutlichkeit (http://www.rtl.de/cms/team-
wallraff-katastrophale-zustaende-in-deutschlands-krankenhaeusern-2635472.html).
Gezeigt wurden die Auswirkungen einer über lange Jahre verfehlten Krankenhaus-
politik: Beschäftigte sind überlastet, es bleibt kaum Zeit für notwendige medizini-
sche und pflegerische Verrichtungen, aber auch zu wenig Zeit für hygienische Maß-
nahmen wie Hand- oder Bettendesinfektion. Dadurch entstehen Gefahren für Pati-
entinnen und Patienten. Es bleibt aber auch zu wenig Zeit für menschliche Zuwen-
dung. Burn-out und Berufsflucht verstärken sich. Viele Pflegekräfte befürchten, ih-
ren Beruf nicht bis zur Rente durchhalten zu können. Dadurch verschärft sich der
Fachkräftemangel.
Wir befinden uns längst am Rande von gefährlicher Pflege. Gefährlich für die Pfle-
gekräfte, vor allem Frauen, die täglich an den Rand ihrer Belastungsgrenzen und
darüber hinausgehen, um Schlimmstes zu verhindern. Gefährlich aber auch für jede
und jeden von uns, die/der in ein Krankenhaus eingeliefert werden muss. Schäden
an Leib und Leben der Patientinnen und Patienten sowie menschenunwürdige Zu-
stände sind Alltag in deutschen Kliniken.
Es handelt sich nicht um Einzelfälle oder womöglich um ein individuelles Verschul-
den der gezeigten Pflegekräfte. Die Reportage spricht die strukturellen Probleme an.
Erkennbar werden konkrete Anzeichen eines Systemversagens. Die Entscheidung,
Krankenhäuser über Fallpauschalen in einen Wettbewerb untereinander zu setzen,
hat fatale Auswirkungen. Fallpauschalen sind Preise für die Behandlung von Patien-
tinnen und Patienten mit bestimmter Diagnose. Sie bilden nicht die Kosten für den
individuellen Fall ab und orientieren sich daher nicht am konkreten medizinischen
Bedarf, geschweige denn an menschlichen Bedürfnissen. Sie setzen Anreize zur
Ausweitung lukrativer Behandlungen wie Knie- oder Hüft-OPs und zu Einsparungen
beim größten Kostenblock – dem Personal. Senken Krankenhäuser die Kosten, dann

Drucksache 18/7568 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
werden auch die Fallpauschalen abgesenkt, eine Spirale nach unten ist die Folge.
Gerade Kürzungen im Pflegebereich sind für die Krankenhausleitungen häufig die
Stellschraube, um Krankenhäuser vor einem Defizit zu bewahren oder privaten Kon-
zernen wie Fresenius-Helios, Sana, Rhön oder Asklepios größtmögliche Gewinne
zu ermöglichen.
In Deutschland ist das Verhältnis von Pflegekräften zu Patientinnen und Patienten
katastrophal schlecht: Eine Pflegekraft betreut im Durchschnitt zehn Patientinnen
und Patienten. Damit ist Deutschland Schlusslicht im europäischen Vergleich. Die
Unterschiede sind eklatant. Norwegen z. B. hat eine um das dreieinhalbfach höhere
Personalbesetzung (eine Pflegekraft betreut 3,7 Patientinnen und Patienten). Um die
Personalausstattung der Niederlande zu erreichen, müssten in Deutschland 323.000
Vollzeit-Pflegekräfte eingestellt werden (https://www.bundes-
tag.de/blob/386204/29e8029bb020804c39b9c35f083da6a4/esv-prof--dr--michael-
simon-data.pdf).
Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen zu wenig Pflegepersonal, einer
schlechteren Arbeitsqualität und einem höheren Vorkommen von Komplikationen,
Zwischenfällen und Todesfällen bei Patientinnen und Patienten auf der einen Seite,
aber auch häufigerem Burnout, Arbeitsunzufriedenheit und arbeitsbedingten Verlet-
zungen beim Pflegepersonal auf der anderen Seite (Greß/Stegmüller: Personalbe-
messung und Vergütungsstrukturen in der stationären Pflege, 2014). Die Wahr-
scheinlichkeit zu sterben ist in Krankenhäusern mit einer durchschnittlichen Arbeits-
last von acht Patientinnen und Patienten pro Pflegekraft um 26 Prozent höher als in
Krankenhäusern, in denen vier Patientinnen und Patienten auf eine Pflegekraft ent-
fallen (Aiken et al. 2008). Mit jeder oder jedem zusätzlich zu betreuenden operierten
Patientin oder Patienten steigt die Wahrscheinlichkeit um 7 Prozent, dass Menschen
nach einer OP innerhalb von 30 Tagen versterben (Aiken et al 2014).
Auch in der Altenpflege führen zunehmend marktförmige Strukturen und fehlende,
am Pflegebedarf orientierte bundesweit verbindliche Personalvorgaben zu erhebli-
chen Pflegemängeln und überdurchschnittlich hohen Krankheitsbelastungen. Seit
der Einführung der sozialen Pflegeversicherung 1995 hat sich ein privater Pflege-
markt entwickelt, denn jede Pflegeeinrichtung hat einen gesetzlichen Anspruch auf
Abschluss eines Versorgungsvertrages mit den Pflegekassen, sofern sie die gesetzli-
chen Zulassungsvoraussetzungen erfüllt. Private Träger wurden von Beginn an mit
frei-gemeinnützigen und öffentlichen Trägern gleichgestellt, womit letztere ihren
Vorrang bei der Leistungserbringung einbüßten. Mittlerweile befindet sich mehr als
die Hälfte der Pflegedienste in privater Trägerschaft. Quelle: Statistisches Bundes-
amt http://de.statista.com/statistik/daten/studie/36958/umfrage/ambulante-pflege-
dienste-in-deutschland-nach-traegerschaft/ Das gilt auch für größere Dienste mit
über zehn Beschäftigten, die 1998 noch überwiegend in gemeinnütziger Träger-
schaft waren.
Die Folgen des privaten Pflegemarktes sind steigende Konkurrenz unter den Anbie-
tern, Druck auf die Löhne und eine enorme Arbeitsverdichtung. Beschäftigte klagen
über zu knappe Zeitvorgaben für eine bedarfsgerechte Pflege und krankmachende
Arbeitszeitregelungen. Es gibt kaum Spielraum, um den erhöhten Betreuungsauf-
wand bei Demenzkranken oder individuelle Bedürfnisse der Gepflegten zu berück-
sichtigen. Arbeitsspitzen werden zur Dauerbelastung. Die Gefahr von Pflegefehlern
steigt.
Zugleich verringert sich das Leistungsangebot der einzelnen Dienste. Die Leistun-
gen richten sich nicht nach dem Bedarf, sondern nach den durch die soziale Pflege-
versicherung vorgegebenen Pflegesätzen. Der Kostendruck ist immens: Die Hälfte
der ambulanten Pflegedienste gibt an, dass die Vergütung nicht ihre Kosten deckt.
Das geht zu Lasten der Beschäftigten und der Pflegebedürftigen. Privatisierung löst
die Probleme nicht, sondern verschärft sie und schafft neue.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7568
Es fehlt an Instrumenten zur Erfassung des tatsächlichen Pflegebedarfs. Nicht einmal
die Personalrichtwerte, die Mindestvorgaben für die Personalbesetzung festlegen,
sind bundeseinheitlich geregelt. Ohne eine wissenschaftlich basierte, am individuel-
len Pflegebedarf ausgerichtete Personalbemessung lässt sich die steigende Belastung
von Pflegekräften nicht abbauen.
In den Kliniken arbeiten zu 70 Prozent Frauen, in der Altenpflege zu 80 Prozent, oft
in Teilzeit. Sorge, Pflege und Gesundheit liegen traditionell in der Zuständigkeit von
Frauen. Obwohl Pflegearbeit eine hohe Bedeutung für die gesamte Gesellschaft hat
und ihre Bedeutung in Sonntagsreden immer wieder herausgehoben wird, erfährt sie
wenig Wertschätzung. Das zeigt sich insbesondere in zu niedrigen Löhnen. Deshalb
müssen die Pflegeberufe aufgewertet werden. Die gesetzliche Sozialversicherung
muss weiterentwickelt werden, damit Pflegende zu guten Bedingungen arbeiten kön-
nen und Patientinnen und Patienten sowie Menschen mit Pflegebedarf gut ver- und
umsorgt werden. Eine echte Entlastung von Angehörigen und Pflegebedürftigen und
auch ihrer persönlichen Beziehungen wäre es, die professionelle Pflege zu stärken.
Die Pflegeversicherung muss zukunftsfähig werden, um den pflegerischen Bedarf
abdecken zu können und gute Arbeitsplätze zu schaffen.
Mit steigender Migration durch Geflüchtete verändern sich die Pflegebedarfe.
Gleichzeitig ergeben sich neue Möglichkeiten, dem Fachkräftemangel zu begegnen
und Pflege kultursensibel auszurichten.
Für die Pflege muss genügend und gut qualifiziertes Personal eingesetzt werden.
Eine verbindliche, bundesweit einheitliche Personalbemessung in Kliniken, Reha-
Einrichtungen sowie ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen der Alten-
pflege ist wichtig, um den Personalmangel zu beseitigen, eine humane Pflege und
gute Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Um die Arbeitsbedingungen attraktiver
zu gestalten, sind die Arbeitsgestaltung, das Maß an Selbstbestimmung, der Abbau
von Belastungen, soziale Absicherung und Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Pri-
vatleben und Beruf zu verbessern. Gute Arbeit bedeutet gute Löhne und ein attrak-
tives Arbeitsumfeld. Mehr Personal, gute Arbeitsbedingungen und eine bessere Be-
zahlung in Gesundheit und Pflege sind überfällig, im Interesse der Beschäftigten,
der zu pflegenden Menschen und ihrer Angehörigen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

geeignete Maßnahmen zu treffen sowie einen Gesetzentwurf vorzulegen, der folgen-
de Regelungen trifft:
1. Kurzfristig Maßnahmen zur Verbesserung der Personalbesetzung in den Kran-

kenhäusern zu treffen, um mindestens 100.000 Vollzeitstellen in der Pflege zu
schaffen, welche bedarfsgerecht – außerhalb der Fallpauschalen/DRGs zu finan-
zieren sind. Eine verbindliche Personalbemessung ist als Strukturqualitätsmerk-
mal in die Krankenhausplanung aufzunehmen. Bei den Ländern ist darauf hin-
zuwirken, dass die Einhaltung vorgegebener Personalbesetzungsstandards so-
wie anderer Qualitätskriterien zur Bedingung für die Aufnahme oder den Ver-
bleib im Krankenhausplan wird.

2. In der Altenpflege ist eine bundeseinheitliche, verbindliche Personalbemessung
für den stationären und ambulanten Bereich einzuführen, die sich neben den
Pflegegraden auch an den Qualitätsstandards der Einrichtungen sowie an indi-
viduellen Mehrbedarfen orientiert. Damit gute Pflege möglich wird, muss die
Personalbemessung dem tatsächlichen Pflegebedarf in der geforderten Qualität
und in der benötigten Zeit entsprechen.

3. Wirtschaftlicher Wettbewerb und die Möglichkeit, mit Krankenhäusern oder
Pflegeeinrichtungen Gewinne und Verluste erzielen zu können, sind zu beenden.
Die von der Bundespolitik gesetzten Anreize, den betriebswirtschaftlichen Nut-
zen für Träger zu maximieren, sind Schritt für Schritt zurückzudrängen, denn

Drucksache 18/7568 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

sie sind nicht mit dem Patientenwohl oder der bestmöglichen Versorgungsqua-
lität in Einklang zu bringen. Die zukünftige stationäre und pflegerische Versor-
gung ist so organisieren, dass sie den Patientinnen und Patienten bzw. Menschen
mit Pflegebedarf bestmöglich dient und den Beschäftigten erfüllende und ange-
messen bezahlte Arbeitsplätze ermöglicht.

4. Maßnahmen zu treffen, um weitere Privatisierung von Einrichtungen zu verhin-
dern. Dazu gehört auch zu befördern, dass bereits privatisierte Krankenhäuser
und Pflegeeinrichtungen in nicht-kommerzielle Trägerschaft überführt werden.
Freigemeinnützige und öffentliche Träger sind zu stärken. Krankenhäuser und
Pflegeeinrichtungen sind konsequent am Gemeinwohl auszurichten.

5. Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe und zum Abbau
übermäßiger Arbeitsbelastungen sind in die Wege zu leiten, damit die absehbare
Nachfrage nach qualifizierten Pflegekräften erfüllt werden kann, wie z. B. Ver-
besserung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich der Vergütung, der Arbeitsge-
staltung, des Maßes an Selbstbestimmung und der sozialen Absicherung, Ver-
besserung der Ausbildungsqualität sowie der Vereinbarkeit von Privatleben und
Beruf.

6. Eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung (Bürgerinnen- und Bür-
gerversicherung) ist einzuführen, um langfristig die solidarische Finanzierung
der Kranken- und Pflegeversicherung zu gewährleisten und bestehende Gerech-
tigkeitsdefizite zu beseitigen. Die Beitragsbemessungsgrenze ist dabei perspek-
tivisch abzuschaffen. Alle Einkommen sollen zur solidarischen Finanzierung
herangezogen werden. Die derzeit privat Krankenversicherten werden in der so-
lidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung abgesichert. Damit wird eine
stabile und gerechte Grundlage zur Finanzierung der laufenden Betriebs-, Be-
handlungs- und Pflegekosten einschließlich einer guten Entlohnung der Be-
schäftigten geschaffen. Eine Ausweitung der Leistungen der sozialen Pflegever-
sicherung hin zur Vollversicherung bietet die Basis für eine gute und umfas-
sende Versorgung.

Berlin, den 17. Februar 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.