BT-Drucksache 18/381

Vorratsdatenspeicherung verhindern

Vom 29. Januar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/381
18. Wahlperiode 29.01.2014

Antrag
der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise Amtsberg,
Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), Dieter Janecek, Renate Künast,
Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Cem Özdemir, Brigitte Pothmer,
Manuel Sarrazin, Hans-Christian Ströbele, Claudia Roth (Augsburg) und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vorratsdatenspeicherung verhindern

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich auf europäischer Ebene mit aller Kraft dafür einzusetzen, dass die beste-
hende EU-Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie umgehend aufgehoben wird,

2. unabhängig von dem für das Frühjahr dieses Jahres erwarteten Urteils des
Europäischen Gerichtshofs (EuGH) darauf hinzuwirken, dass es auf europäi-
scher Ebene zu keiner Neuauflage einer für die Mitgliedstaaten verpflichten-
den Regelung der Massenerfassung und -speicherung der Kommunikationsda-
ten der eigenen Bevölkerungen kommt sowie

3. eindeutig und unmissverständlich von der geplanten Wiedereinführung der
Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten abzusehen.

Berlin, den 28. Januar 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

1. Die schwarz-rote Koalition drückt sich wie die Vorgängerregierung um eine für die Öffentlichkeit klar
erkennbare Position des Schutzes der Bürgerrechte und des Datenschutzes. Laut Koalitionsvertrag strebt sie
stattdessen eine rasche Wiederauflage der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im März 2010 für nich-
tig erklärten gesetzlichen Regelung der Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikati-
on sowie des Internets an. Sie zielt damit erklärtermaßen weiterhin auf eine praktisch lückenlose
Überwachbarkeit der Telekommunikation und Internetnutzung potentiell aller Bürgerinnen und Bürger.

Drucksache 18/381 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Doch nur wenige Tage nach Aufnahme der Arbeit durch die neue Bundesregierung verkündet der Bundes-
justizminister, insoweit zumindest fachlich nachvollziehbar, zunächst die Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs in der Sache abwarten zu wollen. Damit bleibt unklar, ob die Bundesregierung ihrer Verant-
wortung für den Schutz der Bürger- und Menschenrechte in dieser für das demokratische Gemeinwesen
zentralen Frage nachkommen wird.
2. Die schwarz-rote Bundesregierung versucht, ihr Vorgehen allein mit den Vorgaben der EU-
Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie 2006/24/EG zu rechtfertigen. Diese Argumentation überzeugt schon
deshalb nicht, weil derzeit ein mit Verstößen gegen europäische Grundrechte begründetes Klageverfahren
gegen diese Richtlinie beim Europäischen Gerichtshof anhängig ist, dem hohe Erfolgschancen eingeräumt
werden. Diese Einschätzung kann sich auf den für das Verfahren regelmäßig bedeutsamen Schlussantrag
des Berichterstatters des Verfahrens, EU-Generalanwalt Pedro Cruz Villazón, vom 12. Dezember 2013
(Rechtssache C-293/12) stützen, der die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie massiv kritisiert und mit
Verweis auf die Unvereinbarkeit mit EU-Grundrechten weitgehende Änderungen fordert. Es ist deshalb
nicht unwahrscheinlich, dass der EuGH die Richtlinie wegen Verstoßes gegen Grundrechte jedenfalls teil-
weise für nichtig erklärt, womit auch rückwirkend die Umsetzungspflicht für die Richtlinie entfallen würde.
Zudem ist davon auszugehen, dass der EuGH Anforderungen an die Zulässigkeit etwaiger Vorratsdaten-
speicherungen formulieren wird, die von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, weswegen eine Neurege-
lung in Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls sinnvoll erscheint.
3. Die durch die Bundesregierung geplante Wiederauflage der Vorratsdatenspeicherung erscheint auch vor
dem Hintergrund der ständig anwachsenden Erkenntnisse aus dem andauernden Geheimdienste- und Über-
wachungsskandal um die US-amerikanische National Security Agency (NSA) und verbündete Partnerdiens-
te wie das britische Government Communications Headquarters (GCHQ) oder den deutschen Bundesnach-
richtendienst (BND) aus rechtsstaatlicher Perspektive absolut ungerechtfertigt. Denn die Enthüllungen zei-
gen nicht zuletzt, dass die Verkehrsdaten (in den USA als Metadaten bezeichnet) keineswegs als weniger
schützenswert einzustufen sind, sondern aufgrund ihrer eigenen, besonderen Aussagekraft sogar im Mittel-
punkt moderner Ausspähpraktiken weltweit stehen.
Sie zeigen die besonders hohe Missbrauchsanfälligkeit derartiger Datenspeicher für zweckwidrige Massen-
auswertungen und deren Bedeutung als potentielle Ziele für unbefugte Zugriffe. Sie belegen damit, dass
auch aus der Vorhaltung der Daten bei den Unternehmen keine Verringerung des Schutzbedarfs abzuleiten
ist. Vor diesem Hintergrund erscheinen daher auch die Schlussfolgerungen des Bundesverfassungsgerichts
in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung in einem neuen Licht. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der
vom Gericht geforderten „Überwachungsgesamtrechnung“ drängt sich die Frage auf, ob die zwischenzeit-
lich seit dem Urteil des Gerichts bekannt gewordenen, tatsächlich erfolgenden sowie die in Planung befind-
lichen Vorratsdatenspeicherungen in anderweitigen Bereichen nicht bereits über die vom Gericht gerade
noch für zulässig erachtete Obergrenze des Überwachungsniveaus hinausgehen und damit eine Sperrwir-
kung gegenüber der geplanten Wiedereinführung der Telekommunikationsdatenvorratsdatenspeicherung
entfalten. Dies betrifft namentlich u. a. die auslandsgestützte Überwachung des bundesdeutschen Internet-
verkehrs durch den britischen Geheimdienst GCHQ (Programm TEMPORA), die auslandsgestützte Inter-
netüberwachung durch die US-amerikanische NSA in Gestalt des Zugriffs auf die Datenbestände der füh-
renden Internetunternehmen (Programm PRISM) sowie die Pläne der EU für eine Passagierdatenspeiche-
rung zu allgemeinen Sicherheitszwecken (PNR), das geplante EU-Programm für eine Speicherung von
Finanztransaktionsdaten (TFTS), das geplante Einreise-/Ausreisesystem (EES) sowie das Registrierpro-
gramm für Reisende (RTP) im Rahmen des EU-Smart-Borders-Gesamtpakets und andere geplante Vorrats-
datenspeicherungen.
4. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN streiten seit Jahren an der Seite von Bürgerrechtsorganisationen und
Wirtschaft gegen die Vorratsdatenspeicherung. Zuletzt hat die BT-Fraktion mit einem Antrag (BT-DrS
17/1168) versucht, die Umsetzungspläne der damaligen Bundesregierung aufzuhalten.
Die geplante Neuauflage einer anlass- bzw. verdachtslosen, massenhaften Speicherung individueller Tele-
kommunikationsverkehrsdaten bedeutet einen tiefen Eingriff in die durch das Grundgesetz und die EU-
Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger, insbesondere in das Telekommu-
nikationsgeheimnis, die Grundrechte auf Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Zugleich bedeutet sie einen historischen Einschnitt in die freiheitlich-rechtsstaatliche Verfasstheit unserer
Demokratie. Denn die geplante Massenspeicherung stellt alle Bürgerinnen und Bürger unter einen unzuläs-
sigen Generalverdacht. Sie ermöglicht präziseste Verhaltens-, Kontakt- und Bewegungsprofile sowohl Ein-
zelner als auch ganzer Bevölkerungsgruppen. Der damit verbundene Überwachungsdruck ist geeignet, nicht

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nur einzelne, sondern auch besonders zu schützende Gruppen sowie die Gesamtbevölkerung insgesamt
einzuschüchtern. Sie bedroht damit die freiheitliche Kommunikation unseres Landes auf einer fundamenta-
len Ebene und damit die Funktionsbedingungen unserer Demokratie insgesamt. Dazu birgt jede Vorratsda-
tenspeicherung nicht zuletzt wegen des inzwischen erreichten Vernetzungsgrades der beteiligten Infrastruk-
turen extreme Risiken des Datenmissbrauchs.
Der Bundestag hatte bereits im Jahr 2004 (vgl. Bundestagsdrucksache 15/4597, Nr. 8) deutlich seine Ab-
lehnung der Vorratsdatenspeicherung erklärt. Dennoch hat die Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD
im März 2006 die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mitgetragen und im November 2007
das entsprechende Umsetzungsgesetz mit der Mehrheit der damaligen großen Koalition im Bundestag ver-
abschiedet.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 2. März 2010 über Beschwerden gegen
dieses Gesetz festgestellt:
„Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur ver-
fassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland (vgl. zum grundgesetzlichen Identitätsvorbe-
halt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u. a. –, juris, Rn. 240), für deren
Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss.
Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weite-
re anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“
Das Bundesverfassungsgericht hat damit aufgezeigt, dass auch auf europäischer Ebene nicht weiter eine
Strategie verfolgt werden darf, die schrittweise „auf möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung
aller für die Strafverfolgung oder Gefahrprävention nützlichen Daten“ zielt. Genau diesen Weg aber droht
die Europäische Union auch weiterhin zu beschreiten. Bereits jetzt werden neben den bestehenden zusätzli-
che Vorratsdatenspeicherungen diskutiert. So gibt es etwa Bestrebungen, Verpflichtungen zur jahrelangen
Speicherung von Fluggastdaten vorzusehen. Dass derartige Speicherungen die Grundlagen unserer freien
Gesellschaft untergraben, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung
eindrücklich dargelegt. Die Speicherung sei geeignet, „ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins
hervorzurufen“ und könne „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beein-
trächtigen“.
Die Aufhebung der Richtlinie 2006/24/EG wäre die politisch richtige, bürgerrechtsorientierte Konsequenz
aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. In den engen Grenzen ihrer verfassungsrechtlichen Zuläs-
sigkeit ist ein sicherheitspolitisch sinnvoller und damit verhältnismäßiger Einsatz der Vorratsdatenspeiche-
rung von Telekommunikationsverbindungsdaten kaum denkbar. Dass nach Auffassung des Bundesverfas-
sungsgerichts „ausnahmsweise“ eine Vorratsdatenspeicherung unter engen gesetzlichen Vorgaben zulässig
sein kann, darf kein Grund sein, an der bestehenden Richtlinie festzuhalten, da die negativen Folgen auch
dann unabsehbar bleiben. Das Gericht hat sie wie folgt beschrieben: „Allerdings handelt es sich bei einer
solchen Speicherung um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsord-
nung bisher nicht kennt: Erfasst werden über den gesamten Zeitraum von sechs Monaten praktisch sämtli-
che Telekommunikationsverkehrsdaten aller Bürger ohne Anknüpfung an ein zurechenbar vorwerfbares
Verhalten, eine – auch nur abstrakte – Gefährlichkeit oder sonst eine qualifizierte Situation. Die Speiche-
rung bezieht sich dabei auf Alltagshandeln, das im täglichen Miteinander elementar und für die Teilnahme
am sozialen Leben in der modernen Welt nicht mehr verzichtbar ist […]. Adressaten (deren Zugehörigkeit
zu bestimmten Berufsgruppen, Institutionen oder Interessenverbänden oder die von ihnen angebotenen
Leistungen), Daten, Uhrzeit und Ort von Telefongesprächen erlauben, wenn sie über einen längeren Zeit-
raum beobachtet werden, in ihrer Kombination detaillierte Aussagen zu gesellschaftlichen oder politischen
Zugehörigkeiten sowie persönlichen Vorlieben, Neigungen und Schwächen derjenigen, deren Verbin-
dungsdaten ausgewertet werden. Einen Vertraulichkeitsschutz gibt es insoweit nicht.“
Die geplante Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung würde auch die Telekommunikationsanbieter in
nicht unerheblichem Maße mit zusätzlichen Kosten der Bereitstellung und der Aufrechterhaltung der Da-
tenspeicherungskapazitäten belasten. Die Unternehmen weisen zu Recht auf die damit für sie gegenwärtig
verbundene Rechts- und Planungsunsicherheit hin.
Sowohl der europäische als auch der nationale Gesetzgeber sollten diese grundlegenden Erkenntnisse zum
Anlass nehmen, auf jegliche Erhebung von Vorratsdaten zu verzichten. Es ist originäre Aufgabe und verfas-
sungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung, auch und gerade auf EU-Ebene auf eine Aufhebung der Richt-
linie hinzuwirken.

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