BT-Drucksache 18/3552

Iguala ist kein Einzelfall - Zur Menschenrechtslage in Mexiko

Vom 17. Dezember 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3552
18. Wahlperiode 17.12.2014
Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg),
Hans-Christian Ströbele, Irene Mihalic, Luise Amtsberg, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger, Kai
Gehring, Dr. Tobias Lindner, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Cem
Özdemir, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen Trittin, Doris Wagner
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Iguala ist kein Einzelfall – Zur Menschenrechtslage in Mexiko

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

7 Tote und 42 verschwundene Studierende, vermutlich ebenfalls ermordet: Der Fall
der Ende September 2014 aus Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero ver-
schwundenen Studierenden hat landesweit Massenproteste und Verhaftungen aus-
gelöst. Er hat international große Aufmerksamkeit auf die aktuelle Menschenrechts-
lage in Mexiko gelenkt.

Rund 80 Studierende der Universität Ayotzinapa hatten in der Nacht vom 26. auf
den 27. September 2014 drei Busse besetzt, um mit ihnen zu einer Demonstration in
Gedenken an das Massaker von Tlatelolco vom 2. Oktober 1968 nach Mexiko-Stadt
zu fahren. Die örtliche Polizei beschoss die Busse, zwei Studierende und drei Unbe-
teiligte wurden getötet. Ein weiterer Student wurde am nächsten Tag gefoltert und
ermordet aufgefunden. Insgesamt 43 Studierende wurden seitdem vermisst. Sie sol-
len auf Geheiß des Bürgermeisters von Iguala und dessen Frau von der Polizei der
kriminellen Gruppe Guerreros Unidos übergeben und von dieser ermordet worden
sein. Gewissheit gibt es bislang jedoch nur über das Schicksal eines der 43 Studie-
renden: Er wurde ermordet und auf der Müllkippe von Cocula verbrannt. Ob auch
die sterblichen Überreste der übrigen 42 Vermissten – möglicherweise unter Betei-
ligung des früheren Polizeichefs – auf der Müllkippe von Cocula verbrannt wurden,
soll nun eine DNA-Analyse klären.

Der Fall von Iguala erschüttert. Er hat ein Schlaglicht auf die Menschenrechtslage
in Mexiko geworfen. Aber dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall, sondern
nur um die Spitze des Eisbergs: Der starke Einsatz des Militärs im Inneren, insbe-
sondere zur Bekämpfung der Drogenkriminalität, hat zahlreiche zivile Opfer gefor-
dert. Seit 2006 gibt es in Mexiko mindestens 70.000 Tote und über 26.000 Ver-
schwundene. Die Suche nach den Tätern bleibt entweder ganz aus oder ist nicht er-
folgreich, da die Grenzen zwischen Kriminellen, dem Militär und der Polizei immer
weiter verschwimmen. Willkürliche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen sowie
Polizeigewalt und Folter in (Untersuchungs-)Haft sind weit verbreitet. Im Jahr 2013

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registrierte die mexikanische Menschenrechtskommission 600 Prozent mehr Anzei-
gen wegen Folter und Misshandlungen als zehn Jahre zuvor. Innerhalb von Justiz,
Polizei und Militär gibt es eine Kultur der Toleranz gegenüber Folter. Nur sieben
Personen wurden in Mexiko je wegen Folter von Bundesgerichten verurteilt. Vor
Gericht werden unter Folter erzwungene Geständnisse oft als einziges Beweismittel
zugelassen. Den Ermittlungsbehörden fehlt es an zentralen Fähigkeiten, wie bei-
spielsweise in der Forensik.

Die staatlichen Strukturen sind von Korruption, Straflosigkeit und Intransparenz ge-
prägt. Korruption zieht sich durch alle Ebenen des Staates Mexiko. Staatliche Funk-
tionäre nehmen Geld von den Kartellen an, beispielsweise um ihre Wahlkämpfe zu
finanzieren. Die Kartelle sind heute in allen Bereichen aktiv, in denen transnational
Organisierte Kriminalität auftritt. Dies reicht vom Drogen- über den Waffen- bis
zum Menschen- und Organhandel und umfasst Prostitution und Geldwäsche. Profi-
killer und (oft ehemalige) Polizisten arbeiten Hand in Hand. In einigen Bundesstaa-
ten wie Chiapas oder Guerrero sind ganze Landstriche jeglicher rechtsstaatlichen
Kontrolle entzogen und damit zu einem rechtsfreien Raum verkommen. Die „Zu-
sammenarbeit“ von Politik, Sicherheitskräften und Organisierter Kriminalität hat in-
zwischen alle staatlichen Ebenen erfasst: die lokale, die der Bundesländer sowie die
bundesstaatliche. Entsprechend lassen sich die Opfer der Gewalt zum Teil nur noch
schwer als eindeutige Kriminalitätsopfer sehen. Oftmals trifft es inzwischen auch
Personen, die durch ihre politischen Aktivitäten ins Fadenkreuz der Killer geraten –
und damit in das der Politik. Es geht in Mexiko also zunehmend auch um einen Kon-
flikt, in dem Oppositionelle zu Opfern der unheimlichen Allianz von korrupten Po-
lizeibeamten, lokalen Politikern und Killern der Mafia werden. Das zeigt auch der
Fall von Iguala.

Das Ausmaß der Straflosigkeit ist immens: nur 2 Prozent aller Delikte führen zu
einer Verurteilung. 90 Prozent der Verbrechen werden gar nicht juristisch verfolgt.
Unter den restlichen 10 Prozent gibt es viele Fehlurteile. Diese Gemengelage aus
starker Korruption, schwachen Institutionen und einem hohen Grad an Straflosigkeit
führt zu Verbrechen wie dem von Iguala.

AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen müssen um ihr
Leben fürchten. Wer sich für KritikerInnen einsetzt, ist selbst gefährdet. „In unserem
Land stirbt es sich schnell und leicht“, so drückt es ein führender mexikanischer
Menschenrechtsaktivist aus. Sprachlosigkeit und Selbstzensur sind die Folge. Dies
gilt insbesondere für MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen, die die
Verflechtungen von Politik und Organisierter Kriminalität anprangern. Dringend ge-
boten ist daher die Stärkung der Zivilgesellschaft. Was den Fall von Iguala angeht
sind dies insbesondere die Familienangehörigen der Opfer, ihre AnwältInnen, Opfer-
und Menschenrechtsorganisationen, Studierende, AktivistInnen und immer mehr
BürgerInnen, die sich nicht mehr länger mit den Zuständen in ihrem Land abfinden
wollen. Die daraus entstandenen Massenproteste werden jedoch zunehmend krimi-
nalisiert. Willkürliche Verhaftungen bei Großdemonstrationen sollen ein Klima der
Unsicherheit schüren, um die Menschen davon abzuhalten, ihren Protest auf die
Straße zu tragen.

Die verschiedenen Bundesstaaten Mexikos werden von verschiedenen EU-Mitglied-
staaten konsularisch betreut. Deutschland ist für den Bundesstaat Guerrero mit der
Stadt Iguala zuständig. Mit klaren Worten in Richtung Mexiko oder innerhalb der
EU ist Deutschland bislang jedoch nicht aufgefallen. Im Statement der EU-Delega-
tion wird die Verantwortung der Zentralregierung nicht benannt. Klare Worte sind
jedoch dringend nötig, denn die mexikanische Regierung ist selbst tief in den Fall
der Studierenden von Iguala verstrickt. Sie kann sich nicht mit bloßem Verweis auf
die Verstrickungen von Politik und Polizei in das Organisierte Verbrechen auf loka-
ler Ebene für machtlos erklären.

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Die deutsche Bundesregierung hält währenddessen an ihrer „Absicht fest, das in Ver-
handlungen befindliche Sicherheitsabkommen mit Mexiko zum Abschluss zu brin-
gen“, welches auf die Bekämpfung von schwerer und Organisierter Kriminalität
durch die mexikanische Bundesregierung abziele. Das Verbrechen von Guerrero un-
terstreiche „die Richtigkeit der Zielrichtung dieses Abkommens“ (Staatsministerin
im Auswärtigen Amt, Dr. Maria Böhmer in der parlamentarischen Fragestunde vom
15.10.2014, Protokoll der 59. Sitzung des Deutschen Bundestages, Seite 5466).

Sicherheitsabkommen enthalten keinerlei menschenrechtlichen Garantien. Schwerer
wiegt im Fall von Mexiko aber die Zurverfügungstellung von technischem Know
How an staatliche Institutionen in einer Situation, in der diese zum Teil mit der Or-
ganisierten Kriminalität aktiv verquickt, zum Teil von ihr unterwandert sind. In ei-
ner solchen Situation ist die geplante Zusammenarbeit mit den mexikanischen Si-
cherheitsbehörden höchst problematisch. Es besteht ein nicht unerhebliches Risiko,
dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht gegen, sondern für kriminelle Belange ein-
gesetzt werden könnten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Verantwortung der mexikanischen Regierung für Menschenrechtsverletzun-
gen wie im Fall der Studierenden von Iguala bilateral und im Rahmen von EU
und VN klar zu benennen;

2. sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft Mexikos einzusetzen, im Fall der Stu-
dierenden von Iguala insbesondere durch Unterstützung der Familienangehöri-
gen der Opfer, ihrer AnwältInnen, von Opfer- und Menschenrechtsorganisatio-
nen und durch Zurverfügungstellung von Expertise beispielsweise im Bereich
der Forensik;

3. sich gemäß der EU-Leitlinien aktiv für den Schutz von Menschenrechtsvertei-
digern zu engagieren, beispielsweise durch Reisen in die Region und durch öf-
fentliche Stärkung von Opfern von Diffamierungskampagnen;

4. die mexikanische Regierung zu einer wirksamen Umsetzung (insbesondere zü-
gige Fallbearbeitung und lokale Bekanntmachung) des 2012 in Mexiko geschaf-
fenen Schutzmechanismus für MenschenrechtsverteidigerInnen und Journalis-
tInnen zu drängen;

5. angesichts der gegenwärtigen Verstrickungen von staatlichen Institutionen mit
der Organisierten Kriminalität und angesichts von Menschenrechtsverletzun-
gen, Korruption und Straflosigkeit in Politik, Justiz- und Polizeiwesen die der-
zeit stattfindenden Verhandlungen über ein Sicherheitsabkommen mit Mexiko
auszusetzen;

6. bei künftigen Verhandlungen über das Sicherheitsabkommen die mexikanische
Regierung zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards, die sich aus interna-
tionalen bzw. europäischen Menschenrechtsabkommen ergeben, sowie zur Be-
achtung rechtsstaatlicher Prinzipien zu verpflichten und klare und vorab ver-
bindlich festgelegte Kriterien zu definieren, anhand derer Fort- oder Rück-
schritte in den Bereichen Menschenrechtsschutz und Bekämpfung von Straflo-
sigkeit und Korruption sicht- und nachprüfbar gemacht werden und die Ergeb-
nisse einer solchen Prüfung dem deutschen Parlament halbjährlich vorzulegen;

7. sich bilateral und im Rahmen der EU und der Vereinten Nationen für eine Kon-
solidierung des Rechtsstaates und eine Reform der Justiz, der Polizei und des
Strafvollzugs in Mexiko einzusetzen, damit deren Unabhängigkeit und Effizienz
verbessert, die weit verbreitete Straflosigkeit für Gewaltverbrechen und Men-
schenrechtsverletzungen eingedämmt und das Vertrauen der BürgerInnen in das
Rechtssystem und die Sicherheitskräfte wiederhergestellt werden kann;
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8. sich im Rahmen der Vereinten Nationen für die Schaffung einer Kommission

der VN zur Bekämpfung der Straflosigkeit, wie sie derzeit in Guatemala mit der
Comision Internacional contra la Impunidad en Guatemala (CICIG) existiert,
einzusetzen;

9. sich für die Umsetzung der Empfehlungen des Sonderberichterstatters der Ver-
einten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten, der
Ausschüsse der Vereinten Nationen über das Verschwindenlassen, gegen Folter
und des VN-Menschenrechtsausschusses einzusetzen;

10. demokratische Kontrolle durch die Parlamente und die Zivilgesellschaft im Hin-
blick auf Menschenrechte, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Re-
chenschaftslegung zu stärken, durch Unterstützung
a) lokaler zivilgesellschaftlicher Partnerorganisationen und -instanzen, die zu

mehr Transparenz und Einhaltung des Rechts sowie zum Schutz transparen-
ter und vielfältiger Berichterstattung beitragen (beispielsweise Watchdog-
NGOs, Ombudsmännern und -frauen, unabhängigen JournalistInnen und
BloggerInnen );

b) lokaler Organisationen und Initiativen, die die Opfer von Gewalt und Re-
pression und ihre Angehörigen durch psychosoziale Hilfe, Traumaarbeit,
Rechtshilfe, Suche nach Verschwundenen, Öffentlichkeitsarbeit etc. unter-
stützen;

11. sich in der Region und auch im Rahmen der EU, für einen präventiven, men-
schenrechtsbasierten und entwicklungsorientierten Ansatz im Umgang mit Or-
ganisierter Kriminalität einzusetzen, der mehr Mittel für soziale Sicherungs-,
Bildungs- und Beschäftigungsprogramme, insbesondere für Jugendliche, bereit-
stellt;

12. sich im Rahmen der EU für die Aussetzung der Neuverhandlungen des Global-
abkommens zwischen Mexiko und der EU einzusetzen, da eine Vereinbarung
aus dem im Jahr 2000 geschlossenen Abkommen, wonach die Grundlage jeder
Kooperation die Einhaltung der Menschenrechte ist, bis heute nicht gewährleis-
tet ist;

13. entsprechend der Ankündigung von Staatsministerin Böhmer im Auswärtigen
Amt keine Waffen an Militär- oder Polizeieinheiten in Mexiko mehr zu liefern,
denen Menschenrechtsverletzungen oder Korruption vorgeworfen werden, Ex-
porte dieser Art nicht zu genehmigen und ihre Lieferung – auch über Drittstaaten
– zu unterbinden;

14. anzuerkennen, dass der Export von Kleinwaffen und leichten Waffen nach Me-
xiko nicht mit den Kriterien der Rüstungsexportrichtlinien und dem gemeinsa-
men Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten vereinbar ist und deswegen ge-
stoppt werden muss.

Berlin, den 16. Dezember 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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