BT-Drucksache 18/2694

Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und Gewährung eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe

Vom 29. September 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2694
18. Wahlperiode 29.09.2014
Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Claudia Roth (Augsburg), Marieluise Beck
(Bremen), Katja Dörner, Dr. Tobias Lindner, Luise Amtsberg, Katja Keul, Renate
Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen
begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und Gewährung
eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor über 70 Jahren, im Juni 1941, begann der vom NS-Regime befohlene Angriff
der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Geplant und durchgeführt wurde
dieser Angriff als rassistisch motivierter Vernichtungs- und Eroberungskrieg unter
Missachtung aller völkerrechtlichen Normen.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen zählen zu einer der größten Opfergruppen nati-
onalsozialistischer Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Bis 1945 starben in deut-
schem Gewahrsam von insgesamt etwa 4,5 bis 6 Millionen sowjetischen Kriegsge-
fangenen mehr als 60 Prozent. Bereits in den ersten Kriegsmonaten starben in den
besetzten Gebieten 2 Millionen von ihnen elend an Hunger, Seuchen und Erfrierun-
gen. Hunderttausendfach – wie Millionen von Zivilisten aus der Sowjetunion – wur-
den sie in das Deutsche Reich deportiert, in der Regel in sog. Russenlagern unterge-
bracht und später zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die Ursache für den Tod so vieler
Menschen waren nicht die „allgemeinen Kriegsumstände“ oder die mangelnde Ver-
sorgung, sondern Tod und Vernichtung in den Lagern wurden vom NS-Regime bil-
ligend in Kauf genommen und waren damit Folge der nationalsozialistischen Ideo-
logie.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren rechtlos und der rassistischen Ideologie
des NS-Regimes ausgesetzt. Sie galten – wie die zivilen sowjetischen Zwangsarbei-
ter – in dem NS-Regime als „Untermenschen“. Der Schutzstatus des Kriegsgefange-
nen nach der Genfer Konvention, der ihnen ein Minimum an menschlichen Bedin-
gungen garantiert hätte, wurde den sowjetischen Kriegsgefangenen (im Gegensatz
zu den Kriegsgefangenen aus den westalliierten Streitkräften) vom NS-Regime be-
wusst verwehrt.

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den „Russenlagern“ (in den Durchgangsla-
gern – Dulags – und Stammlagern – Stalags) waren unmenschlich und vergleichbar
mit denen in Konzentrationslagern. Hier wurde eine große Anzahl der Kriegsgefan-
genen zur Zwangsarbeit herangezogen.

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Die Kriegsgefangenen, die die Verfolgung und den unmenschlichen Einsatz über-
lebt hatten, leiden bis heute unter den gesundheitlichen, sozialen und moralischen
Auswirkungen der genannten Verfolgung. Dazu gehört, dass ihnen ein Status als
Verfolgte des NS-Regimes und eine Berücksichtigung im dem System der Entschä-
digung von NS-Unrecht durch Deutschland verwehrt blieb. Schätzungen gehen da-
von aus, dass von ihnen heute noch etwa 4 000 am Leben sind.

Es ist dokumentiert, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen unter dem NS-Regime
ein Schicksal zu erleiden hatten, das sie von allen anderen von Deutschland im Zwei-
ten Weltkrieg inhaftierten Kriegsgefangenen unterschied.

Diejenigen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben, wurden nach der
Rückkehr in die Sowjetunion der Kollaboration verdächtigt, 13 Prozent kamen in
Lagerhaft, viele kamen in „Arbeitsbataillone“. Mehrheitlich wurden sie gesellschaft-
lich diskriminiert und erst 1995 vollständig rehabilitiert.

Der Deutsche Bundestag nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Kriegsgefan-
genen, die überlebt hatten und nach Kriegsende in die Sowjetunion zurückgekehrt
sind, von Stalin nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt, sondern seinerseits als
Feiglinge und Vaterlandsverräter verleumdet wurden. Soweit sie nach Deutschland
deportiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren, wurde ihnen nach Rück-
kehr sogar „Kollaboration mit dem Feind“ zur Last gelegt. Nicht wenige von ihnen
unterlagen in der Sowjetunion jahrzehntelang deshalb vielfältigen Repressionen bis
hin zur Lagerhaft in sibirischen Straflagern.

Wie in Deutschland galten die sowjetischen Kriegsgefangenen deshalb auch in vie-
len Nachfolgestaaten der Sowjetunion noch als „vergessene Opfer“. Dieses Unrecht
des Stalinismus relativiert jedoch nicht das Unrecht, das diesen Menschen durch das
NS-Regime zugefügt wurde; es verdoppelt dieses Unrecht.

Der Sächsische Landtag kommt in seiner Erklärung zu dem Gedenktag für die Opfer
des Nationalsozialismus am 27. Januar 2013 bezüglich der sowjetischen Kriegsge-
fangenen zu der Erkenntnis:

„Sie wurden Opfer verbrecherischer Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht,
das die auf dem geltenden Völkerrecht basierenden eigenen Richtlinien für die Be-
handlung von Kriegsgefangenen für die Rotarmisten in weiten Teilen durch Son-
derbefehle außer Kraft setzte. Der von den Nationalsozialisten propagierte antisla-
wische Rassismus prägte ihre Behandlung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.
In der Folge verursachten die katastrophalen Lebensbedingungen in den Kriegsge-
fangenenlagern der Wehrmacht und den dazu gehörenden Arbeitskommandos ein
Massensterben.“

Im August des Jahres 2000 ist das Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“ (EVZStiftG) in Kraft getreten. Dadurch konnten vor
allem ehemalige zivile Zwangsarbeiter als humanitäre Geste Einmalleistungen für
ihr erlittenes Schicksal als NS-Opfer erhalten. Kriegsgefangene wurden jedoch
grundsätzlich nicht als Leistungsberechtigte in das Gesetz aufgenommen. Eine Aus-
nahme galt nach § 11 Absatz 1 EVZStiftG auf Grundlage einer rechtlichen Bewer-
tung der Bundesregierung nur für solche Kriegsgefangene – unabhängig von ihrer
Nationalität und Herkunft –, die Zwangsarbeit in Konzentrationslagern (KZ) abge-
leistet hatten.

Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen ist wie das der zivilen Zwangsar-
beiter aus Osteuropa in der deutschen Erinnerungskultur nicht angemessen gewür-
digt. Auch eine symbolische finanzielle Geste für die letzten noch lebenden sowje-
tischen Kriegsgefangenen, so sehr sie moralisch und politisch geboten ist, kommt
für Millionen von ihnen zu spät. Dieses Schicksal teilen sie mit vielen anderen Grup-
pen von NS-Opfern. Die meisten der Verstorbenen in den Russenlagern sind anonym
beerdigt, sie sind nach wie vor „namenlose Opfer“. Ihrer wurde in den jährlichen

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Gedenkveranstaltungen des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozi-
alismus am 27. Januar bislang nicht eigenständig und dem Ausmaß dieses Unrechts
angemessen gedacht. Allein dies illustriert, dass von einer angemessenen Würdigung
ihres Verfolgungsschicksals bis heute nicht gesprochen werden kann. Erforderlich
ist auch eine Entscheidung, wie zukünftig die Gedenkstätten, die sich dieser Opfer-
gruppe widmen, ausgestattet werden. Es existiert bislang auch kein Denkmal, das
diesen Opfern und dem anderer slawischer NS-Opfer in Deutschland gewidmet ist.
Der Deutsche Bundestag spricht sich dafür aus, Anstrengungen zu diesen Erinne-
rungsaufgaben beim Bund und in den Ländern zu intensivieren.

Der Deutsche Bundestag erkennt das schwere Unrecht, das an den sowjetischen
Kriegsgefangenen begangen wurde, ausdrücklich als nationalsozialistisches Unrecht
an.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a) den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen einmalig einen individuellen
Anerkennungsbetrag für das erlittene NS-Unrecht in Höhe von 2 500 Euro im
Rahmen einer eigenständigen außergesetzlichen Regelung zu verschaffen. Auf
diese Leistung besteht kein Rechtsanspruch;

b) die dafür erforderlichen Mittel im Bundeshaushalt bereitzustellen. Nicht in An-
spruch genommene Leistungen können für humanitäre Hilfen zugunsten von be-
dürftigen NS-Opfern eingesetzt werden. Die Regelung soll über die Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ umgesetzt werden;

c) Vorschläge für eine Intensivierung der Erinnerungskultur an das Leidensschick-
sal der sowjetischen Kriegsgefangenen und anderer slawischer NS-Opfer zu un-
terbreiten und die weitere Förderung von Gedenkstätten, die sich mit den Ver-
folgungsschicksalen beschäftigen, in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes
sicherzustellen.

Berlin, den 29. September 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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