BT-Drucksache 18/12087

Die Erwerbsminderungsrente stärken und den Zugang erleichtern

Vom 25. April 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12087
18. Wahlperiode 25.04.2017
Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus
Ernst, Sigrid Hupach, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Susanna Karawanskij,
Katja Kipping, Jutta Krellmann, Thomas Lutze, Cornelia Möhring, Norbert Müller
(Potsdam), Thomas Nord, Richard Pitterle, Michael Schlecht, Dr. Petra Sitte,
Azize Tank, Dr. Axel Troost, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner,
Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Die Erwerbsminderungsrente stärken und den Zugang erleichtern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Rund 1,8 Millionen Frauen und Männer sind in Deutschland auf eine Erwerbsminde-
rungsrente angewiesen (Rentenversicherung in Zeitreihen, Oktober 2016, Seite 192).
Die Betroffenen sind im Schnitt 51 ½ Jahre alt, wenn sie in Erwerbsminderungsrente
gehen müssen. Der Verlust der Arbeitsfähigkeit bedeutet für die Betroffenen zumeist
den direkten Weg in die Armut: Die durchschnittliche Rente bei Erwerbsminderung
(vollständig Erwerbsgeminderte) lag bei Renteneintritt im Jahr 2015 bei 711 Euro.
Wer dagegen im Jahr 2000 volle Erwerbsminderungsrente beantragen musste, erhielt
im Schnitt noch 738 Euro. Damit liegt die Erwerbsminderungsrente sogar deutlich un-
ter dem schon viel zu niedrig bemessenen Bruttobedarf der Grundsicherung für Er-
werbsgeminderte mit 756 Euro (Dezember 2015); (Quellen: destatis; Rentenversiche-
rung in Zeitreihen, Oktober 2016, Seite 126).
Gute und finanzierbare Absicherung gegen existenzielle Risiken ist für abhängig Be-
schäftigte unerlässlich und nur von der gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten.
Bei Vorerkrankungen oder in Risikobranchen (z. B. Gerüstbauer oder Dachdecker) ist
bei privaten Versicherungen ein Schutz oft gar nicht oder nur gegen hohe Risikozu-
schläge möglich.
Mit den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderungen durch den Gesetzent-
wurf zur Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähig-
keit und anderer Gesetze (Drucksache 18/11926) soll die Situation von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern verbessert werden, die künftig Erwerbsminderungsrente
beantragen müssen, weil sie wegen einer Beeinträchtigung oder durch Unfall oder Er-
krankung nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt arbeiten können. Das betrifft
immerhin in jedem Jahr mehr als 170.000 Erwerbstätige (Rentenversicherung in Zah-
len, Oktober 2016, Seite 62). Für diejenigen jedoch, die bereits jetzt Erwerbsminde-
rungsrente beziehen, sieht der vorliegende Gesetzentwurf keinerlei Verbesserungen
vor.

Drucksache 18/12087 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung versäumt zudem, die zum 1. Januar 2001 ein-
geführten Rentenabschläge bei Erwerbsminderung (§ 77 Absatz 3 des Sechsten Bu-
ches Sozialgesetzbuch – SGB VI) zurückzunehmen, die regelmäßig zu einem Renten-
abschlag von bis zu 10,8 Prozent führen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
1. die geltende Regelung, nach der in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Er-

werbsminderung drei Jahre mit Pflichtbeiträgen liegen müssen, so ändert, dass
darin lediglich zwei Jahre mit Pflichtbeiträgen liegen müssen,

2. als alternative Zugangsvoraussetzung für die Rente bei Erwerbsminderung eine
Mindestbeitragszeit von 20 Jahren einführt,

3. die Abschläge bei Renten wegen Erwerbsminderung für gegenwärtige Empfän-
gerinnen und Empfänger ebenso wie für Neuzugänge der Erwerbsminderungs-
rente zum 1. Januar 2018 abschafft (Zugangsfaktor nach § 77 Absatz 3 SGB VI),

4. die Zurechnungszeit für Erwerbsminderungsrenten zum 1. Januar 2018 in einem
Schritt vom 62. auf das 65. Lebensjahr verlängert.

Berlin, den 25. April 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/12087
Begründung

Zu 1.:
Die gegenwärtige Zugangsregel, der zufolge in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung min-
destens drei Jahre Pflichtbeiträge geleistet worden sein müssen, engt den Zugang zur Erwerbsminderungsrente
zu stark ein. Da für Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (sog. Hartz IV) seit 2011 keine
Versicherungspflicht in der Rentenversicherung mehr vorliegt und entsprechend von den zuständigen Jobcentern
keine Beiträge mehr an die Rentenversicherung abgeführt werden, haben Menschen im SGB-II-Bezug oder mit
unregelmäßiger Beschäftigung kaum die Möglichkeit, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Mit der Ver-
kürzung der obligatorischen Pflichtbeitragszeit auf zwei Jahre innerhalb der fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbs-
minderung wird der Zugang zur Erwerbsminderungsrente für Betroffene erheblich erleichtert.
Zu 2.:
Die ergänzende alternative Zugangsvoraussetzung von 20 Mindestbeitragsjahren nimmt einen Änderungsantrag
des Ausschusses für Arbeit, Integration und Sozialpolitik des Bundesrates auf (Bundesratsdrucksache 156/1/17).
Unter Nummer 3 Buchstabe b schlägt der Ausschuss vor, eine alternative Zugangsvoraussetzung einzuführen,
durch die Versicherte mit insgesamt 20 Beitragsjahren grundsätzlich Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente
hätten. Dabei spielt die Anzahl der Beitragsjahre in den fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung keine
Rolle.
Damit wird Umbrüchen in der Sozialstruktur und einem wechselnden Beschäftigungsstatus Rechnung getragen.
Bei nicht abgesicherten Selbstständigen, Solo-Selbstständigen und Personen mit unterbrochenen Erwerbsbiogra-
fien kann die sogenannte „Drei aus Fünf“-Regelung derzeit zum Verlust des Erwerbsminderungsschutzes führen.
Zu 3.:
Die zum 1. Januar 2001 unter anderem auf Erwerbsminderungsrenten ausgeweiteten Rentenabschläge (Zugangs-
faktor) für Renteneintritte vor dem 65. Geburtstag führen fast zwangsläufig in die Armut und sind systematisch
nicht zu begründen: Die Erwerbsminderungsrente soll – zumindest theoretisch – das Risiko eingeschränkter Er-
werbsfähigkeit absichern, die Altersrente dagegen die materielle Absicherung im Alter gewährleisten. Dennoch
werden die Rentenabschläge nach Zugangsfaktor parallel für Erwerbsminderungs- und Altersrenten angewandt
und führen zu Rentenabschlägen für jeden Monat, den der Renteneintritt vor Vollendung des 65. Lebensjahrs
liegt. Das trifft auf nahezu alle Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner zu: Das durchschnittliche Alter des
Eintritts in Erwerbsminderung liegt regelmäßig zwischen 50 und 52 Jahren (Rentenversicherung in Zahlen, Ok-
tober 2016, Seite 137). Diese Abschläge erhöhen das Armutsrisiko in der Erwerbsminderungsrente und im Alter.
Zu 4.:
Der Vorschlag der Bundesregierung sieht die Verlängerung der Zurechnungszeit auf das vollendete 65. Lebens-
jahr erst für den 1. Januar 2024 vor. Die Zurechnungszeit gilt als Berechnungsgrundlage für die Höhe der Rente
bei Eintritt in die Erwerbsminderungsrente: Für die Berechnung wird angenommen, dass der Erwerbsminde-
rungsrentner oder die Erwerbsminderungsrentnerin bis zum Ende der Zurechnungszeit die gleichen Beiträge zur
Rentenversicherung geleistet hätte wie vor Eintritt der Erwerbsminderung. Zur Zeit liegt das Ende der Zurech-
nungszeit bei 62 Jahren, der Gesetzentwurf sieht eine zeitlich gestreckte Anhebung auf 65 Jahre bis zum Jahr
2024 für Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente vor.
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