BT-Drucksache 17/9962

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 17/9040, 17/9649, 17/9650, 17/9651 - Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012 (Nachtragshaushaltsgesetz 2012)

Vom 12. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9962
17. Wahlperiode 12. 06. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland Claus,
Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Thomas Lutze,
Kornelia Möller, Jens Petermann, Richard Pitterle, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert,
Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 17/9040, 17/9649, 17/9650, 17/9651 –

Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012
(Nachtragshaushaltsgesetz 2012)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der vorgesehene Nachtragshaushalt dient im Kern dazu, die Finanzierung
der für 2012 vorgesehenen Bareinlage Deutschlands für den Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM) in Höhe von 8,69 Mrd. Euro abzubilden. Der
ESM ist Teil des sogenannten Euro-Rettungsschirms und soll ab Mitte 2012
ohne zeitliche Befristung nach Einschätzung seiner Konstrukteure die Stabi-
lität des Euro-Raums sichern und Staatspleiten von Euro-Ländern abwenden
helfen. Außerdem bildet der Entwurf für ein Nachtragshaushaltsgesetz 2012
einen im Vergleich zur ursprünglichen Planung um 1,86 Mrd. Euro niedrige-
ren Bundesbankgewinn ab. Der niedrigere Bundesbankgewinn wird mehr
als ausgeglichen durch im Vergleich zur ursprünglichen Planung niedrigere
Zinsausgaben des Bundes: Bezogen auf seine Zinsausgaben ist der Bund
derzeit Krisengewinner.

2. Der ESM verletzt das Haushaltsrecht des Bundes. Bei der Abstimmung über
den ESM-Vertrag ist dem Deutschen Bundestag nicht bekannt, welche Haf-
tungssumme er letztlich bewilligt. Zwar sieht der ESM-Vertrag einen Deckel
von 700 Mrd. Euro vor. Wenn dieser Deckel jedoch nicht ausreichen sollte,
besteht faktisch eine Nachschusspflicht – unabhängig von dem in Artikel 2
des ESM-Ratifizierungsgesetzentwurfs auf Bundestagsdrucksache 17/9045

vorgesehenen Vetorecht des Deutschen Bundestages.

3. Der ESM höhlt die ohnehin schon kleiner werdenden Spielräume nationaler
Parlamente und des Europäischen Parlaments weiter aus, politisch zu gestal-
ten und dem demokratischen Wettstreit um politische Alternativen ein
Gesicht zu geben. Die Erfahrung der europäischen Bevölkerungsmehrheit ist,
dass sie in der Krise nicht gefragt wird. Nationale Parlamente werden ge-
nötigt, gegen den überwiegenden Willen ihrer Wählerinnen und Wähler

Drucksache 17/9962 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
sozial ungerechte und die Krise verschärfende Austeritätsprogramme zu be-
schließen sowie Steuergelder für als falsch empfundene Rettungsschirme
bereitzustellen.

4. Der ESM-Vertrag wird mit dem Fiskalvertrag (Vertrag über Stabilität, Koor-
dinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) verknüpft.
Dieser Vertrag verpflichtet zur Einführung nationaler Schuldenbremsen, die
die jeweilige, um Konjunktureffekte bereinigte Neuverschuldung auf 0,5 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) begrenzen sollen. ESM-Hilfen sollen
nur Euro-Länder erhalten können, die den Fiskalvertrag ratifiziert haben und
die mit dem Fiskalvertrag verbundenen Regeln befolgen. Die Kommission
der Europäischen Union wird ermächtigt, die Einhaltung der Regeln zu über-
wachen. Wenn die Schuldenbremse nicht eingehalten wird, sollen Strafzah-
lungen verhängt werden. Im Ergebnis verlieren Euro-Länder ihre Haushalts-
souveränität, Ausgabenkürzungen führen zu verschärftem Sozialabbau sowie
zur Privatisierung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Leistungen.

5. Die mit der Gewährung von „Rettungshilfen“ verbundenen Auflagen führen
in den betroffenen Ländern zu drastischen Einschnitten bei Löhnen, Renten
und öffentlichen Leistungen. Die Auswirkung solcher Auflagen zeigt sich
am Beispiel Griechenlands. 2010 ging das griechische BIP um 4,5 Prozent
zurück, 2011 um weitere 6,8 Prozent. Die Verursacher und Nutznießer der
Krise werden geschont, die Bevölkerungsmehrheit in Europa haftet mit um-
fassenden Garantien und bezahlt mit Sozialabbau. Die Ursachen der Schul-
denkrise in Europa – die fehlende Regulierung der Finanzmärkte und die
teure Bankenrettung, die unzureichende Besteuerung von Unternehmen und
hohen Vermögen sowie die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte in
Euro-Raum und EU und das deutsche Lohndumping – werden nicht be-
seitigt.

6. Wie bereits bei Krediten auf der Grundlage der Europäischen Finanzstabili-
sierungsfazilität (EFSF) sollen mit Hilfe der ESM-Kredite private Gläubiger
von Staatsanleihen durch öffentliche Gläubiger ersetzt, Risiken aus
Staatspleiten und Schuldenschnitten auf die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler übergewälzt werden. ESM und EFSF helfen nicht den Menschen,
sondern den Banken. Ihre Geschäfte werden weiterhin staatlich subventio-
niert. Bei der Europäischen Zentralbank (EZB) können sie sich zu einem
Jahreszinssatz von 1 Prozent Geld leihen und es für einen vervielfachten
Zinssatz an Staaten weiterverleihen. Die Euro-Länder brauchen eine euro-
päische Bank für öffentliche Anleihen zur kostengünstigen und finanzmarkt-
unabhängigen Staatsfinanzierung. Eine europäische Bank für öffentliche
Anleihen könnte sich zinsgünstig bei der EZB refinanzieren. Die Privatban-
ken verlören dadurch die Möglichkeit, im Zusammenspiel mit den Rating-
agenturen Staaten zu erpressen. Der Bankensektor muss auf seine Kernfunk-
tionen Zahlungsverkehr, Ersparnisbildung und Finanzierung zurückgeführt
und entsprechend geschrumpft, private Großbanken vergesellschaftet wer-
den. Behoben werden müssen die Ursachen der Finanzkrise: die fehlende
Regulierung der Finanzmärkte und die teure Bankenrettung, die unzurei-
chende Besteuerung von Unternehmen und hohen Vermögen sowie die au-
ßenwirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum und in der EU insge-
samt. Nur wenn auf diese Weise umgesteuert wird, können die Demokratie
geschützt und der Vorrang der Politik gegenüber den Erpressungsversuchen
der Finanzmärkte durchgesetzt werden.

7. Mit dem Einsatz des Druckmittels Schuldenbremse soll europaweit ein an-
geblicher Sachzwang für Sozialabbau geschaffen werden. Statt Europa in
einen Abwärtsstrudel hinein zu sparen und die Perspektiven insbesondere

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9962

junger Menschen zu zerstören, ist eine Richtungsänderung einer auf Außen-
handelsüberschüsse und das Niederkonkurrieren anderer Volkswirtschaften
abzielenden Wirtschaftspolitik notwendig. Bestandteile einer sinnvollen
Sanierungsstrategie sind gemeinschaftlich getragene Maßnahmen, die eine
ökologisch anspruchsvolle Wirtschaftsstruktur stärken. Ein europäisches In-
vestitionsprogramm nach dem Vorbild des Marshall-Plans kann dazu beitra-
gen, die Wachstumsschwäche der Krisenländer zu überwinden. Ein solches
Investitionsprogramm sollte sowohl konjunkturfördernde Projekte als auch
längerfristig wirkende Strukturhilfen enthalten. Notwendig sind die Einrich-
tung einer europäischen Ausgleichsunion zur Eindämmung von Leistungs-
bilanzungleichgewichten, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die
wirksame Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Korruption, eine
Deutschland- und EU-weite Vermögensabgabe und eine Millionärsteuer. Die
Umverteilung von oben nach unten ist ein demokratisches Gebot, denn sie ist
notwendige Voraussetzung für eine soziale Grundsicherung und für annä-
hernd gleiche Chancen und Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger.

8. Aus den genannten Gründen lehnt der Deutsche Bundestag den vorgelegten
Entwurf für ein Nachtragshaushaltsgesetz 2012 ab.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Ratifizierung des ESM- und des Fiskalvertrags nicht weiter zu verfolgen;

2. auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten, deren Regierungen den ESM- und
den Fiskalvertrag unterzeichnet haben, dafür zu werben, dass deren Parla-
mente die Verträge nicht ratifizieren;

3. sich für ein sofortiges Ende der krisenverschärfenden Kürzungspolitik, für
eine einmalige EU-weite Vermögensabgabe zur Krisenfinanzierung einzu-
setzen und parallel dazu einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vorsieht, in
Deutschland die Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder einzuführen;

4. unverzüglich Gesetzentwürfe für geeignete Maßnahmen wie einen gesetz-
lichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde vorzulegen, die die Inlands-
nachfrage erhöhen und Leistungsbilanzungleichgewichte abbauen;

5. sich in der EU einzusetzen für ein Investitionsprogramm nach dem Vorbild
des Marshall-Plans insbesondere für Südeuropa, das den sozialökologischen
Umbau befördert und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit abbauen hilft;

6. sich in der EU dafür einzusetzen, dass die öffentlichen Haushalte der Euro-
Zone von den Finanzmärkten abgeschirmt werden, indem eine zu gründende
europäische Bank für öffentliche Anleihen ohne den Umweg über private
Banken und ohne Zinsaufschlag den Staaten Kredite einräumt und sich bei
der EZB refinanziert;

7. sich dafür einzusetzen, die Finanzmärkte streng zu regulieren und einen Ge-
setzentwurf vorzulegen, der eine Verkleinerung und Vergesellschaftung der
Großbanken vorsieht und diese Banken auf die Kernfunktionen Zahlungs-
verkehr, Ersparnisbildung und Finanzierung zurückführt;

8. insbesondere in der Gruppe der Euro-Länder auf eine zügige Vereinbarung
zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer hinzuwirken und parallel
dazu einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Einführung dieser Steuer auf
alle Wertpapier-, Derivate- und Devisenumsätze in Deutschland regelt;

9. sich international für ein geordnetes Insolvenzverfahren für überschuldete
Staaten einschließlich der Möglichkeit eines Schuldenschnitts einzusetzen;

Drucksache 17/9962 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
10. sich in der EU einzusetzen für eine gemeinsame europäische Steuerpolitik,
die Steuerhinterziehung und Schattenfinanzplätze wirksam bekämpft sowie
Steuerdumping insbesondere bei Unternehmen und hohen Vermögen ver-
hindert.

Berlin, den 12. Juni 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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