BT-Drucksache 17/9758

Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung

Vom 23. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9758
17. Wahlperiode 23. 05. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana
Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich,
Klaus Ernst, Katja Kipping, Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In ihrem Vorwort zum Nationalen Aktionsplan (NAP) der Bundesregierung zur
Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention – UN-BRK)
erklärt die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen:
„Ein zentraler Punkt ist die Teilhabe am Arbeitsleben. Arbeit stärkt das Selbst-
vertrauen, ist sinnstiftend, schafft Kontakte und Freundschaften.“

Praktisch werden jedoch viele Menschen mit Behinderung und/oder chroni-
schen Erkrankungen strukturell diskriminiert und durch bestehende Barrieren an
genau dieser Teilhabe am Arbeitsleben gehindert. Die Lage am Arbeitsmarkt für
Menschen mit schwerer Behinderung ist nach wie vor höchst dramatisch. Die
Arbeitslosenzahlen stagnieren auf hohem Niveau. Zudem ist nur bei rund jedem
sechsten Arbeitslosen mit schwerer Behinderung der Grund der Beendigung der
Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt, bei allen üb-
rigen in jedem dritten Fall (s. Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche
Frage der Abgeordneten Sabine Zimmermann vom 12. März 2012, Bundestags-
drucksache 17/9002). Mehr als 37 000 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber
beschäftigen überhaupt keine Menschen mit Behinderung (Bundesagentur für
Arbeit: „Arbeitsmarkt in Zahlen. Schwerbehinderte Menschen in Beschäftigung,
Deutschland 2010“).

Frauen, ältere Menschen und Migrantinnen und Migranten mit Behinderung
sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Auch junge
Menschen mit Behinderung, die eine Ausbildung oder ein Studium erfolgreich
abschlossen, finden – trotz z. T. hervorragender Zeugnisse – nur sehr schwer
feste Arbeitsplätze. Selbst Praktika werden ihnen noch schwerer ermöglicht als
gleichaltrigen und ähnlich ausgebildeten jungen Menschen ohne Beeinträchti-
gungen. Es fehlen gezielte Maßnahmen zur Unterstützung und Förderung junger

Menschen mit Behinderung.

Gleichzeitig beeinträchtigt die bestehende Arbeitswelt viele Menschen körper-
lich und seelisch in zunehmendem Maße. Abweichende Arbeitszeiten und
Arbeitsverdichtung sowie immenser psychologischer Druck wegen zu hoher
Anforderungen an Flexibilität und Umfang der Aufgaben lassen die Zahl von
Menschen mit Behinderung und/oder chronischen Erkrankungen direkt im Er-

Drucksache 17/9758 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

werbsprozess stark ansteigen. Europaweit ist ein massiver Anstieg von psychi-
schen Problemen im Arbeitsleben festzustellen. Die Repräsentativerhebung des
DGB-Index (DGB = Deutscher Gewerkschaftsbund) Gute Arbeit kommt 2011
zu der zentralen Erkenntnis, dass Stress eine immer größere Belastung am
Arbeitsplatz darstellt. Über die Hälfte der Beschäftigten arbeitete demnach sehr
häufig oder oft gehetzt und muss seit Jahren in der gleichen Zeit immer mehr
leisten.

Weder diverse Sonderregelungen und Sonderwege noch Einzelprogramme haben
in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig zu dauerhafter Beschäftigung von
Menschen mit Behinderung und zu einer Absenkung der Arbeitslosenquote
unter ihnen geführt. Ganz im Gegenteil: In europäischen Ländern ohne Förder-
schulen, Berufsbildungswerke und Werkstätten werden stärkere Effekte für eine
inklusive Arbeitswelt als in Deutschland erzielt.

Es geht um Teilhabe in Arbeit und Teilhabe durch Arbeit, um reale Freiheit, sein
Leben selbst zu erarbeiten und unabhängig zu finanzieren. Eine solche Richtung
in eine inklusive Arbeitswelt ist durch die UN-Behindertenrechtskonvention,
insbesondere Artikel 27, vorgegeben und in Deutschland seit März 2009 gelten-
des Recht. Diese gesamtgesellschaftliche Selbstverpflichtung wird allerdings so
ungenügend umgesetzt, dass die Struktur dieser Umsetzung zu hinterfragen und
grundlegend zu verändern ist.

Eine Humanisierung der Arbeitswelt ist dringend geboten. Gute Arbeit macht
weder krank noch arm – sie verbindet Aus- und Weiterbildung, existenzsichernde
Bezahlung und dauerhafte Persönlichkeitsentfaltung miteinander. Entschleuni-
gung, umfassende Barrierefreiheit, diskriminierungsfreie Strukturen, nachhaltige
Förderung von Menschen mit Behinderung sowie wirksame Anreize für Arbeit-
geber, diese zu beschäftigen, sind Maßnahmen, die sowohl allen Beschäftigten
als auch Arbeitgebern zugutekommen.

Die Kürzungen der Bundesregierung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik verhin-
dern dauerhafte Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung und wirken den
eigenen Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention entgegen. Es
droht ein Abfall unter bereits erreichtes Niveau anstelle aktiver Schritte hin zu
inklusiver Arbeit und Ausbildung. Die Förderung von Menschen mit Behinde-
rung in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ist rückläufig und droht aufgrund
der Sparvorgaben im Haushalt weiter abzusinken.

Etliche Unternehmen verstoßen ohne ernste Konsequenzen gegen gesetzliche
Regelungen oder nutzen vorhandene Instrumentarien nicht, um Menschen mit
Behinderung dauerhaft zu beschäftigen. Die gesetzlich geregelte Beschäfti-
gungsquote von schwerbehinderten Menschen in Höhe von 5 Prozent wurde
auch im Berichtsjahr 2010 mit nur 4,5 Prozent von den Arbeitgebern nicht
erfüllt. Private Arbeitgeber lagen sogar nur bei 4 Prozent. Über 250 000 Pflicht-
arbeitsplätze blieben 2010 unbesetzt. Das Instrument der Ausgleichsabgabe ver-
fehlt gegenüber den Unternehmen seine Wirkung, ist in der Höhe zu gering und
durch viele Sonderregelungen auszuhebeln. Insbesondere sorgte die Absenkung
der Beschäftigungsquote im Jahr 2001 von 6 auf 5 Prozent für dauerhafte Min-
dereinnahmen, die den Handlungsspielraum bei der Beschäftigungsförderung
von Menschen mit Behinderung zusätzlich einengen.

Beschäftigung von Menschen mit Behinderung wird in hohem Maße aus der
Verletzung der gesetzlichen Pflicht zur Beschäftigung finanziert. Diese Logik
schreibt die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung letztendlich fest.

Die Gesamtsituation und die aktuelle Entwicklung entsprechen nicht den Vor-
gaben der UN-Behindertenrechtskonvention. Artikel 27 der Konvention sieht
vor, staatlich zu sichern und zu fördern, dass Menschen mit Behinderungen „in

einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen
Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei wählen können“ und gleichberechtigt mit

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9758

anderen sind, auch hinsichtlich des Entgelts. Aus Sicht vieler Betroffener und
ihrer Interessenverbände verändern auch die im Nationalen Aktionsplan der
Bundesregierung festgelegten Maßnahmen diese Situation nicht. In der „Initia-
tive Inklusion“ werden ohnehin zur Verfügung stehende Mittel lediglich um-
gewidmet, der Mittelumfang reicht nicht aus und ihre Bereitstellung aus der
Ausgleichsabgabe schließt notwendige Strukturveränderungen von vornherein
aus.

Seit der Ratifizierung der BRK wird in Deutschland öffentlich viel über Inklu-
sion gesprochen. Der Begriff Inklusion wird jedoch mit sehr unterschiedlichen
Inhalten gefüllt und verkommt zunehmend zum Sparkonzept. In Wahrheit gibt
es mehr Sondereinrichtungen, mehr bürokratische Hürden, mehr Ausgrenzung:
Die Zahl der Personen in Sondereinrichtungen wie „Werkstätten für behinderte
Menschen“ (WfbM) steigt seit Jahren stetig an. 1994 waren 152501 Menschen
mit Behinderung in anerkannten WfbM beschäftigt, zurzeit sind es nach Anga-
ben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales circa 275 000 in rund 700
Werkstätten. Im Jahr 2009 verdiente ein Beschäftigter im so genannten Arbeits-
bereich der Werkstätten monatlich 170 Euro. Auch Kinder und Jugendliche mit
Behinderung werden viel zu schnell, viel zu früh und viel zu regelmäßig auf
Sonderwegen aus einem selbstbestimmten Leben weg-„gefördert“. Selbstvertre-
tungs- und Mitbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderung und ihren
gewählten Vertretungen wie Betriebsräten, Schwerbehindertenvertretungen und
insbesondere von Werkstatträten bleiben hinter dem Menschenrechtsanspruch
der UN-Behindertenrechtskonvention zurück.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. bis zum Ende der Wahlperiode ein umfassendes Gesetzesscreening durchzu-
führen und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen mit dem Ziel, die
gesetzlichen Beschränkungen zu beseitigen, die die Teilhabe durch Arbeit für
Menschen mit Behinderung erschweren. So ist der Behinderungsbegriff im
Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) gemäß Artikel 1 Satz 2 UN-BRK
zu fassen. Gesetze, Verordnungen und Regelungen sind auf den Weg zu brin-
gen, die einen Politikwechsel gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention
einleiten, vor allem ihres Artikels 27, um Menschen mit Behinderung ein
selbstbestimmtes Leben auch durch eigene existenzsichernde Berufstätigkeit
zu ermöglichen und zu sichern. Dazu sind Maßnahmen zu entwickeln, die
Diskriminierungen wirksam sanktionieren, Sonderlösungen schrittweise ab-
bauen, bestehende Unterstützungsleistungen erhalten und ausbauen sowie
neue Unterstützungsformen entwickeln, verbindlich dem personenzentrier-
ten Ansatz im Leistungsrecht folgen, bürokratische Hemmnisse beseitigen,
soziale Rechte stärken und vor allem eine existenzsichernde Entlohnung
garantieren;

2. ein beschäftigungspolitisches Rahmenprogramm für Menschen mit Behinde-
rung aufzulegen, das dem Grundsatz folgt, so wenig Sonderarbeitswelten wie
möglich so regulär wie möglich auszugestalten und schrittweise Rahmenbe-
dingungen für eine inklusive Arbeitswelt für alle Beschäftigten – mit und
ohne Behinderung – zu schaffen. Die Umsetzung dieses Programms ist ver-
bindlich im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über
die Rechte von Menschen mit Behinderung festzuschreiben;

3. das System der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe umzuge-
stalten und dazu entsprechende gesetzliche Regelungen vorzulegen. Dazu ge-
hört:

a) Die Absenkung der Beschäftigungsquote im SGB IX ist sofort zurückzu-
nehmen und in einem ersten Schritt wieder auf 6 Prozent anzuheben.

Drucksache 17/9758 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

b) Die Praktiken und gesetzlichen Möglichkeiten sind zu beseitigen, die es
Unternehmen ermöglichen, die Zahlung der Ausgleichsabgabe zu redu-
zieren und so die Beschäftigungspflicht auszuhebeln.

c) Die Ausgleichsabgabe ist so anzuheben, dass sich für Arbeitgeberinnen
und Arbeitgeber mehr Anreize für die Beschäftigung von Menschen mit
Behinderung ergeben, als sich von der Beschäftigungspflicht freizukau-
fen.

d) Versicherungspflichtige Beschäftigung von Menschen mit Behinderung
ist durch dauerhafte Nachteilsausgleiche und Kompensation von Minder-
leistungen zu fördern. Für Arbeitgeber ist ein Anreizsystem zu schaffen,
einen möglichst hohen Anteil der Arbeitsplätze mit Menschen mit Behin-
derung zu besetzen.

e) Unternehmen, die mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von Men-
schen mit Behinderung beschäftigen, sind bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge in einem Stufensystem besonders zu berücksichtigen.

f) Steuerliche Vergünstigungen, insbesondere für kleine und mittlere Unter-
nehmen, als zusätzliche Anreize sind zu prüfen;

4. Barrierefreiheit im Sinne von Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention
zu sichern. Dazu gehört:

a) In § 3a der Arbeitsstättenverordnung sind umfassende Barrierefreiheit und
„Universelles Design“ als Prinzipien der Arbeitsstättengestaltung grund-
sätzlich, das heißt unabhängig davon, ob Menschen mit Behinderung be-
schäftigt werden, festzuschreiben. Diese Festschreibung erfolgt sowohl
für bauliche und kommunikative als auch kognitive Bedingungen des Ar-
beitsprozesses, einschließlich erforderlicher Arbeitsassistenz. Es geht um
eine gesundheitsfördernde Arbeitsraumgestaltung für die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter.

b) Entsprechende Förderungen an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die
Menschen mit Behinderung beschäftigen möchten, sollen erhöht und er-
weitert werden. Insbesondere sind nachhaltige Lösungen, die präventiv
gesundheitsfördernd den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nützen, zu
fördern.

c) Diese Förderungen werden zunächst aus dem Ausgleichsfonds finanziert,
jedoch bei dessen Absinken infolge steigender Beschäftigungsquoten aus
Steuermitteln des Bundes aufgestockt.

d) Für die Schaffung von barrierefreien Arbeitsstätten sind auf Bundesebene
verstärkt Forschungen und Entwicklungen sowie technische Lösungen
nach dem Prinzip „Universelles Design“ finanziell zu fördern;

5. Förderungen für Menschen mit Behinderung langfristig sicherzustellen und
dazu gesetzliche Regelungen vorzulegen. Dazu gehört:

a) Den personenzentrierten Ansatz als Instrument ohne Kostenvorbehalt aus-
zugestalten. Dafür sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bedarfs-
gerecht auf der Grundlage eines bundeseinheitlichen, am Lebenslagenan-
satz orientierten Bedarfsfeststellungsverfahrens auszugestalten. Die
Beweislast liegt beim Leistungsträger.

b) Für Verlässlichkeit und Planbarkeit sind Förderungen trägerübergreifend
und langfristig zu gewähren, auch in Form von dauerhaften Lohn-, Ge-
halts- sowie Mobilitätszuschüssen.

c) Übergangswege in reguläre Beschäftigung wie der „Öffentlich geförderte
Beschäftigungssektor“ und die „Unterstützte Beschäftigung“ sind zu er-

weitern, z. B. durch dauerhafte Berufsbegleitung, und aus Bundesmitteln
langfristig zu sichern.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9758

d) Assistenzleistungen sind aus Steuermitteln zu finanzieren und von den
Versorgungsämtern oder von neu zu schaffenden Teilhabeämtern zu ge-
währen. Ein gesetzlicher Mindestlohn auch für Assistenzkräfte ist einzu-
führen. Dies gilt auch für die Zeit während einer Ausbildung und eines
Praktikums;

6. besonders benachteiligte Gruppen stärker zu fördern. Dazu gehört:

a) Spezifische Förderprogramme auf Basis einer Analyse der tatsächlichen
Lebenslage genderspezifisch auszugestalten und zu finanzieren. Das
betrifft insbesondere junge und ältere Menschen sowie Migranten und
Migrantinnen mit Behinderung als auch zusätzliche Bedarfe infolge be-
sonderer Behinderungsarten.

b) Dem noch immer geltenden „Ernährermodell“ in Beratung und Bewilli-
gung von Leistungen und der diskriminierenden Entlohnung von Frauen
mit und ohne Behinderung ist entgegenzuwirken.

c) Die Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen ist vorrangig zu för-
dern, die berufsbegleitende Fortbildung zu entwickeln. Verbindlichere
Festlegungen für die betriebliche Ausbildung behinderter und schwerbe-
hinderter Jugendlicher sind dringend erforderlich. Eine verbindliche Aus-
bildungsplatzquote und eine Ausbildungsplatzausgleichsabgabe sind zu
prüfen.

d) Fortbildungsprogramme in Unternehmen, Verwaltungen und Hochschu-
len zu Inklusionsanforderungen sind finanziell zu unterstützen;

7. Integrationsunternehmen und Integrationsabteilungen auszubauen. Dazu ge-
hört:

a) Integrationsunternehmen sind durch Investitionsförderungen und bevor-
zugte Vergabe von öffentlichen Aufträgen und bei Ausschreibungen sowie
durch zusätzliche Steuerentlastungen in der Gründungsphase zu stärken.

b) Ein Anreizsystem, um die Mindestbeschäftigungsquote in Integrationsun-
ternehmen und -betrieben in Höhe von 25 Prozent zu überbieten, ist zu
entwickeln und langfristig zu prüfen, ob die Quote angehoben werden
kann.

c) Eine Mindestquote für die Auftragsvergabe von Bundesbehörden an Inte-
grationsunternehmen und -betriebe ist festzulegen. Entsprechend ist § 141
SGB IX zu präzisieren und eine allgemeine Verwaltungsvorschrift zu
erlassen.

d) Besondere Förderungen für Integrationsunternehmen und -betriebe zur
Berufsausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen sind zu entwickeln;

8. Beratung und Vermittlung für Menschen mit Behinderung zu garantieren.
Dazu gehört:

a) Die Bundesagentur für Arbeit muss einheitliche Anlaufstelle für die Bera-
tung und Vermittlung von Menschen mit Behinderung sowohl für den
Rechtskreis SGB III als auch SGB II sein. Die bestehende Schnittstellen-
problematik und wechselnde Zuständigkeiten für Empfängerinnen und
Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Behinderung
müssen überwunden werden;

b) Das Recht auf eine unabhängige Beratung – im Sinne von „Betroffene
beraten Betroffene“ – durch Selbsthilfeinitiativen und Interessenverbände
von Menschen mit Behinderung ist festzuschreiben. Selbstberatungsstruk-
turen sind institutionell zu fördern.

Drucksache 17/9758 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

c) Die Integrationsämter werden als begleitende Umsetzungsbehörde wei-
terentwickelt. Die Integrationsfachdienste sind zu stärken. Die Aus-
schreibungspflicht für Leistungen durch die Bundesagentur für Arbeit
und durch Rehabilitationsträger muss zurückgenommen werden, um die
Einheit von Vermittlung und Begleitung zu erhalten;

9. Werkstätten weiterzuentwickeln und die Rechte der Beschäftigten zu stär-
ken und dafür gesetzliche Regelungen zu schaffen. Dazu gehört:

a) Beschäftigte in Werkstätten haben ein Recht auf ein reguläres Arbeitsver-
hältnis mit tariflicher Entlohnung. Der „arbeitnehmerähnliche Status“ ist
perspektivisch aufzuheben; sie sollen Arbeitnehmer/-innen bei Beibehal-
tung der erforderlichen Nachteilsausgleiche sein.

b) Menschen mit Behinderung auf sogenannten Außenarbeitsplätzen in
Unternehmen und bei öffentlichen Arbeitgebern sind tariflich nach dem
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zu entlohnen.

c) Werkstattbeschäftigten muss im Fall des Übergangs in ein versicherungs-
pflichtiges Beschäftigungsverhältnis ein unbefristetes Rückkehrrecht
eingeräumt werden, das ihre besonderen Zugangsvoraussetzungen zu
einer vollen Erwerbsminderungsrente nicht beeinträchtigt.

d) Mittelfristig sind Werkstätten als Integrationsbetriebe mit sozialen
Dienstleistungsangeboten weiterzuentwickeln.

e) Die Unterscheidung zwischen „werkstattfähigen“ und „nicht werkstatt-
fähigen Menschen“ ist aufzuheben. Damit entfällt auch die Zugangs-
bedingung in eine Werkstatt: das Mindestmaß an wirtschaftlich verwert-
barer Leistung (§ 136 Absatz 2 SGB IX).

f) Ein bundeseinheitliches prozessorientiertes Feststellungsverfahren – un-
abhängig von den institutionellen Leistungserbringern – ist zu entwickeln.

g) Der gesetzliche Unfallversicherungsschutz ist auch auf Werkstattbe-
schäftigte im Förder- und Betreuungsbereich auszudehnen.

h) Das Modellprojekt „Frauenbeauftragte in Werkstätten“ ist zu erhalten,
bundesweit fortzuführen und auf Integrationsunternehmen sowie Inte-
grationsbetriebe auszudehnen;

10. Selbstvertretung und Mitbestimmung zu stärken:

a) Mitbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung sind zu
verbessern und entsprechende Rechte von Betriebsräten, Schwerbehin-
dertenvertretungen (SBV) und Werkstatträten sind zu erweitern. Für
SBV ist ein Stimmrecht in den Angelegenheiten, die besonders Men-
schen mit Behinderung betreffen, im Betriebsverfassungsgesetz, Perso-
nalvertretungsgesetz und im SGB IX zu verankern.

b) Ein Verbandsklagerecht ist im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zu
verankern. Die Verbandsklagemöglichkeit in § 63 SGB IX ist so zu er-
weitern, dass ein Verband gegen einen Gesetzesverstoß auch dann Klage
erheben kann, wenn kein konkreter Einzelfall zugrunde liegt.

c) Praktikablere Freistellungs- und erleichterte Heranziehungsmöglichkei-
ten von Stellvertreterinnen und Stellvertretern der SBV sind gesetzlich zu
gewährleisten. Das betrifft auch den Anspruch auf Schulung und Weiter-
bildung für die Stellvertreter/-innen der SBV.

d) Da das Recht der SBV auf unverzügliche Unterrichtung und Anhörung
in den Angelegenheiten, die schwerbehinderte Menschen berühren, oft
durch Arbeitgeber/-innen nicht beachtet wird, ist eine Verschärfung der

entsprechenden Formulierungen im SGB IX und in anderen Gesetzen
zugunsten von betrieblichen Interessenvertretungen vorzunehmen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9758

e) § 83 SGB IX ist dahingehend zu ändern, dass Arbeitgeber nicht nur zu
Verhandlungen über eine Integrationsvereinbarung, sondern zum Ab-
schluss einer solchen Vereinbarung verpflichtet sind.

f) Mitbestimmungsrechte für Werkstatträte sind als Sofortmaßnahme ein-
zuführen. Diese sollen die Werkstattordnung, Beschäftigungszeiten, Ar-
beitsentgelte, Grundsätze für Fort- und Weiterbildung und soziale Ange-
legenheiten wie Pausenräume, Mittagessen und anderes ausdrücklich
betreffen.

g) Um die Selbstvertretung der Werkstätten zu stärken, ist die Finanzierung
der Bundesvereinigung der Werkstatträte auf Bundesebene dauerhaft zu
sichern und in der Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO) festzu-
schreiben.

Berlin, den 23. Mai 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.