BT-Drucksache 17/9687

Verhalten der Bundesregierung in dem Rechtsstreit Kiobel versus Shell

Vom 11. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9687
17. Wahlperiode 11. 05. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz,
Katja Keul, Memet Kilic, Ute Koczy, Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln),
Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele, Josef Philip Winkler und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verhalten der Bundesregierung in dem Rechtsstreit Kiobel versus Shell

Gegenstand des Rechtsstreits Esther Kiobel et al. v. Royal Dutch Petroleum Co.
et al. vor dem Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika ist eine
Klage gegen die Königlich Niederländische Petroleum Co., Shell Transport &
Trading Co. und ihre hundertprozentige Tochtergesellschaft Shell Petroleum
Development Company of Nigeria Ltd (SPDC). Eingelegt wurde die Klage von
der Ehefrau des verstorbenen Dr. Barinem Kiobel, einem ehemaligen Sprecher
des im Nigerdelta ansässigen Ogonivolkes sowie von elf weiteren nigeriani-
schen Ogoni. Die Klägerinnen und Kläger werfen der Beklagten vor, zwischen
1992 und 1995 an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Folter und
außergerichtliche Hinrichtungen sowie an anderen Verstößen gegen das Völker-
recht gegen die Ogoni beteiligt gewesen zu sein. In einer gemeinsamen Sammel-
klage (class action) machen sie Entschädigungsansprüche geltend (vgl. hierzu
Center for Constitutional Rights unter http://ccrjustice.org/ourcases/current-
cases/kiobel).

Im Jahr 1994 wurden Dr. Barinem Kiobel sowie weitere führende Mitglieder der
Organisation „Movement for the Survival of the Ogoni People“ (MOSOP) – un-
ter ihnen Ken Saro-Wiwa – von nigerianischen Sicherheitskräften festgenom-
men und inhaftiert. Ohne Kontakt zur Außenwelt wurden sie in militärischem
Gewahrsam gefoltert und im Rahmen eines inszenierten Schauprozesses vor
einem militärischen Sondertribunal zum Tode verurteilt und im November 1995
hingerichtet. Die Klägerinnen und Kläger werfen der Beklagten unter anderem
vor, belastende und bewusst unwahre Zeugenaussagen erkauft zu haben, auf die
sich das Urteil des Tribunals im Wesentlichen stützt.

Das Volk der Ogoni litt damals und leidet bis heute unter der Ölförderung von
Shell im Nigerdelta (vgl. bspw. Amnesty International: „The true ‚tragedy‘ –
delays and failures in tackling oil spills in the niger delta“). Royal Dutch Shell

begann 1958 im Nigerdelta Öl zu fördern. Infolge der durch die Ölförderung
hervorgerufenen massiven Umweltverschmutzungen starben tausende Men-
schen, insbesondere aus dem Volk der Ogoni oder wurden ihrer Lebensgrund-
lagen beraubt. Erstmalig aufkommende Proteste wurden zwischen 1990 und
1995 durch nigerianische Soldaten mit massiver und tödlicher Gewalt auf
Wunsch und mit der finanziellen Unterstützung von Shell unterdrückt.

Drucksache 17/9687 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Klage gegen Shell wurde 2002 vor einem New Yorker Gericht in den USA
eingereicht, wurde zwischenzeitlich vor dem Second Circuit Court of Appeals
und seit 2011 vor dem U.S. Supreme Court verhandelt. Vor dem Supreme Court
besteht nunmehr die Möglichkeit, Stellungnahmen zu dem Fall (amicus curiae
brief) abzugeben, was die Bundesregierung am 2. Februar 2012 getan hat. Darin
bekräftigt sie insbesondere, dass sie es für falsch halte, wenn Verfahren mit
einem geringen Bezug zu den USA vor einem dortigen Gericht verhandelt wer-
den.

Möglich ist ein derartiges Verfahren, insbesondere aufgrund des Alien Tort
Claims Act (ATCA) oder auch Alien Tort Statute (ATS), 28 U.S.C. 1350, einem
in den USA geltenden Gesetz aus dem Jahr 1789, nach dem staatliche Akteure,
Privatpersonen und Unternehmen wegen der Verletzung von Menschenrechten
zu Schadensersatzzahlungen verurteilt werden können, selbst wenn nur ein sehr
geringer territorialer Zusammenhang zu den USA besteht. Der ATCA steht in
der Kritik, die internationalen Zuständigkeitsregelungen zu verletzen. Ein dem
Weltrechtsprinzip im internationalen Strafrecht vergleichbares Anknüpfungs-
prinzip im internationalen Privatrecht gibt es darüber hinaus nicht. Die deutsche
Rechtsordnung lässt solche Klagemöglichkeiten nicht oder nur sehr einge-
schränkt zu.

Der Sonderberichterstatter für Wirtschaft und Menschenrechte der UN, John
Ruggie, hat in seinem Bericht (A/HRC/17/31) unterstrichen, dass das Völker-
recht es Staaten erlaubt, auch Tatbestände bezüglich Unternehmen zu regeln
oder Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn kein Bezug zum eigenen Territorium
besteht.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was hat die Bundesregierung veranlasst, in dem Fall Esther Kiobel et al. v.
Royal Dutch Petroleum Co. et al. einen amicus curiae brief zu verfassen?

a) Wurde sie von dem zuständigen Gericht dazu aufgefordert?

b) Wurde sie von irgendeiner anderen Stelle dazu aufgefordert oder gebeten?

c) Welche inhaltliche Motivation verfolgt die Bundesregierung?

d) Welchen inhaltlichen Bezug hat die Bundesregierung zu dem Verfahren
oder seinen Beteiligten?

e) Handelt es sich bei dem vorliegenden Verfahren um einen „Ausnahme-
fall“, bei dem ein „besonderes öffentliches Interesse vorliegt (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/992, Antwort der Bundesregierung zu Frage 6), der
die Bundesregierung dazu bewogen hat, einen amicus curiae brief zu ver-
fassen?

Falls ja, worin ist dieses besondere öffentliche Interesse begründet?

Falls nein, warum ist die Bundesregierung von ihrem Grundsatz abge-
wichen und hat dennoch einen amicus curiae brief verfasst?

2. Welches Bundesministerium hatte die Federführung bei dem Verfassen und
Versenden des amicus curiae briefes, und welche Stelle dort konkret war für
das Verfassen verantwortlich?

3. Mit welchen Bundesministerien oder anderen Stellen der Bundesregierung
wurde die Position der Bundesregierung aus dem amicus curiae brief abge-
stimmt?

Gab es zwischen den beteiligten Bundesministerien eine übereinstimmende
politische Einschätzung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9687

4. Hat sich die Bundesregierung darüber hinaus mit Vertreterinnen oder Vertre-
tern anderer Institutionen oder Verbänden beim Verfassen des amicus curiae
brief beraten oder sich inhaltliche Anregungen bzw. Tipps diesbezüglich ge-
holt?

a) Wenn ja, von welchen Institutionen?

b) Hat sich die Bundesregierung zum Inhalt des amicus curiae briefes mit
dem Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI) abgestimmt?

c) Hat sich die Bundesregierung zum Inhalt des amicus curiae briefes mit
Vertreterinnen oder Vertretern der Industrie- und Handelskammern abge-
stimmt?

5. Beabsichtigt die Bundesregierung, in diesem Verfahren einen weiteren ami-
cus curiae brief zu verfassen?

Falls ja, mit welchen zusätzlichen oder abgeänderten Inhalten im Vergleich
zu dem vom 2. Februar 2012?

6. Sieht die Bundesregierung – wie in dem Fall der Klage von Opfern des süd-
afrikanischen Apartheidregimes gegen Daimler AG, Rheinmetall AG und
andere (vgl. Bundestagsdrucksache 17/992), indem sie ebenfalls einen ami-
cus curiae brief verfasste – durch das Verfahren Esther Kiobel et al. v. Royal
Dutch Petroleum Co. et al. deutsche Interessen beeinträchtigt?

7. Warum hat die Bundesregierung in einem anderen Klageverfahren (Bauman
et al. v. Daimler-Chrysler) auf Grundlage des ATCA wegen des Verschwin-
denlassens und der Folterung von Gewerkschaftern aus Mercedes-Benz Wer-
ken in Argentinien explizit erklärt, dass sie keine Einwände gegen eine solche
Klage erhoben habe (vgl. dazu: www.gabyweber.com/dwnld/email_AA.pdf)?

8. Welche Argumente führen bei der Bundesregierung zu der in dem amicus
curiae brief generell geäußerten Überzeugung: „The Federal Republic of
Germany believes that overbroad exercises of jurisdiction are contrary to
international law and create a substantial risk of jurisdictional conflicts with
other countries.”?

a) Welche Risiken erkennt die Bundesregierung im konkreten Fall?

b) Hat die Bundesregierung Kenntnis über alternative Rechtswege, die die
Klägerinnen und Kläger in dem konkreten Fall hätten wählen können, um
mit den Rechtsauffassungen der Bundesregierung nicht zu kollidieren?

Wenn ja, welche sind das?

9. Welche(r) konkrete(n) Anlass/Anlässe führen die Bundesregierung zu der in
dem amicus curiae brief geäußerten Besorgnis: „The Federal Republic of
Germany is concerned that the failure by some United States courts to take
into account limitations on the exercise of their jurisdiction when construing
the Alien Tort Statute, 28 U.S.C. § 1350 („ATS“), has resulted in the assertion
of subject matter jurisdiction over suits by foreign plaintiffs against foreign
corporate defendants for conduct that took place entirely within the territory
of a foreign sovereign and lack sufficient nexus to the United States. Such
assertions of jurisdiction are likely to interfere with foreign sovereign inte-
rests in governing their own territories and subjects and in applying their own
laws in cases which have a closer nexus to those countries.“?

a) In welchen Fällen hat die Bundesregierung die staatliche Souveränität
Deutschlands durch eine weitgehende Inanspruchnahme von Gerichtsbar-
keit in den USA durch den ATCA bislang verletzt gesehen?

b) Welche Grundsätze des internationalen Zivilverfahrensrechts sprechen
aus Sicht der Bundesregierung dagegen?

Drucksache 17/9687 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

c) Welche Staaten teilen die o. g. Befürchtung der Bundesregierung und
haben diese auch bereits in Verfahren auf Basis des ATCA durch das Ver-
fassen eines amicus curiae briefes zum Ausdruck gebracht?

d) Wie vereinbart die Bundesregierung diese Sorge vor weitgehender extra-
territorialer Rechtsanwendung durch die USA mit dem Umstand, dass
auch im deutschen Zivilrecht sogenannte anknüpfungsarme Gerichts-
stände vorgesehen sind, wie z. B. in § 23 der Zivilprozessordnung (ZPO),
insbesondere angesichts der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,
dass selbst eine weite Auslegung des § 23 ZPO nicht gegen internationa-
les Recht oder Verfassungsrecht verstoße (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil
vom 2. Juli 1991, XI ZR 206/90, S. 92f.: „In der nur am Wortlaut orien-
tierten Auslegung ist § 23 ZPO […] weder verfassungs- noch völker-
rechtswidrig, […].“)?

10. Welche Erkenntnisse oder Erfahrungen führen die Bundesregierung zu ihrer
Auffassung aus dem amicus curiae brief, dass ausländische Opfer etwaiger
Menschenrechtsverletzungen deutscher Unternehmen im Ausland gemäß
§ 823 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) i. V. m. den §§ 13, 17 und 32
ZPO vor deutschen Gerichten auf Schadensersatz klagen könnten?

a) Hat es einen solchen Fall nach den Erkenntnissen der Bundesregierung
bereits einmal gegeben?

b) Falls es einen solchen Fall noch nicht gegeben haben bzw. ein solcher
Fall der Bundesregierung nicht bekannt sein sollte, was ist nach Ansicht
der Bundesregierung die Ursache hierfür?

c) Falls die Bundesregierung keine Erkenntnisse über ein Verfahren haben
sollte, in dem ausländische Opfer etwaiger Menschenrechtsverletzungen
deutscher Unternehmen im Ausland gemäß § 823 BGB i. V. m. den §§ 13,
17 und 32 ZPO vor deutschen Gerichten auf Schadensersatz klagen bzw.
geklagt haben, wieso stellt sie diesen Weg dann trotz des Fehlens jegli-
cher Gerichtspraxis als mögliche Alternative dar?

11. Gibt es nach Auffassung der Bundesregierung neben der in dem amicus
curiae brief beschriebenen Form der Klageeinreichung über die §§ 13, 17
und 32 ZPO weitere verfahrensrechtliche Möglichkeiten, um im Falle einer
Klage von Opfern etwaiger Menschenrechtsverletzungen deutscher Unter-
nehmen im Ausland einen deutschen Gerichtsstand herbeizuführen?

a) Wenn ja, welche?

b) Wenn ja, wieso führt sie diese in dem amicus curiae brief nicht an?

c) Wieso lässt sie insbesondere unerwähnt, dass Artikel 2 der Brüssel-I-
Verordnung für einen solchen Fall einschlägig wäre?

12. Ist der Bundesregierung bekannt, dass im Falle einer Klage von Opfern
etwaiger Menschenrechtsverletzungen deutscher Unternehmen im Ausland
vor einem deutschen Gericht in materieller Hinsicht nicht § 823 BGB zur
Anwendung käme, sondern das über Artikel 4 Rom-II-Verordnung zu er-
mittelnde Deliktsstatut, wonach die lex loci delicti commissi – also im Re-
gelfall das Recht desjenigen Staates, in dem die behauptete Menschen-
rechtsverletzung begangen wurde – Anwendung fände?

Wenn ja, wieso lässt die Bundesregierung in dem amicus curiae brief dies
unerwähnt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9687

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Annahme
des Supreme Court, dass der ATCA grundsätzlich auf Unternehmen An-
wendung finden kann?

a) Folgt sie diesbezüglich der Auffassung der Regierung der USA, die diese
Annahme des Supreme Court in einem eigenen amicus curiae brief zu
dem Fall ausdrücklich begrüßt?

b) Wenn nein, warum nicht?

14. Sieht die Bundesregierung in dem Verfahren Esther Kiobel et al. v. Royal
Dutch Petroleum Co. et al. ebenso einen „Schaden für den internationalen
Handel“ (vgl. Bundestagsdrucksache 17/992, Antwort der Bundesregierung
zu Frage 7), wie in dem Verfahren Klage von Opfern des südafrikanischen
Apartheidregimes gegen die Daimler AG, die Rheinmetall AG und andere?

Wenn nein, was unterscheidet die beiden Verfahren nach Ansicht der Bun-
desregierung voneinander?

15. Hat die Bundesregierung zur Wahrung „deutscher Interessen“, zur Abwen-
dung von Verletzungen der deutschen Gerichtsbarkeit (vgl. Bundestags-
drucksache 17/992, Antwort zu Frage 1) sowie zur Abwendung eines
„Schadens für den internationalen Handel“ (vgl. Bundestagsdrucksache 17/
992, Antwort der Bundesregierung zu Frage 7) die Klägerinnen und Kläger
in dem Fall von Opfern des südafrikanischen Apartheidregimes gegen die
Daimler AG, die Rheinmetall AG und andere darauf hingewiesen oder sie
darin unterstützt, ihre etwaigen Ansprüche vor einem Gericht in der Bun-
desrepublik Deutschland geltend zu machen?

a) Wenn ja, in welcher Weise, und mit welchem Ergebnis?

b) Wenn nein, warum nicht?

c) Wenn nein, schadet die Bundesregierung durch diese Untätigkeit nicht
ihren eigenen, selbst formulierten Interessen?

16. Erachtet es die Bunderegierung grundsätzlich als nicht wünschenswert,
wenn Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der Grundlage des ATCA
vor einem Gericht in den USA auf Entschädigungszahlungen klagen
können, wenn ihnen in ihrem Heimatstaat, dem Staat des Tatorts oder dem
Heimatstaat der Schädigerin/des Schädigers eine Klage aus tatsächlichen,
rechtlichen oder finanziellen Mitteln nicht möglich ist bzw. aussichtslos er-
scheint?

Falls ja, wie ist dies vereinbar mit der Forderung des UN-Sonderbeauftragten
John Ruggie, Opfern von Menschenrechtsverletzungen einen besseren Zu-
gang zu Rechtsmitteln zu ermöglichen (A/HRC/17/31: „Access to remedy“)?

Berlin, den 11. Mai 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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