BT-Drucksache 17/9595

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit

Vom 9. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9595
17. Wahlperiode 09. 05. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Alexander Ulrich, Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Dr. Diether Dehm, Heidrun
Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Andrej Hunko, Katja Kipping, Cornelia
Möhring, Wolfgang Neskovic, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-
Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und der Fraktion
DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundesminister des Auswärtigen

Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In Frankreich und Griechenland haben die Wählerinnen und Wähler die
derzeitige EU-Krisenpolitik abgewählt. Die Bürgerinnen und Bürger sind
nicht länger bereit, mit drastischen Sparmaßnahmen, Sozialkürzungen und
einer Einschränkung ihrer demokratischen Rechte für die Finanz- und Wirt-
schaftskrise zu zahlen. Das falsche Krisenmanagement verschärft das soziale
Gefälle in der Europäischen Union. Die derzeitigen Maßnahmen, die ein-
seitig auf Ausgabenkürzung und marktradikale Strukturreformen gerichtet
sind, treiben immer mehr Staaten tiefer in die Rezession.

2. In der Europäischen Union sind über Jahrzehnte erkämpfte soziale Errun-
genschaften in Gefahr. Auch nach vier Jahren sind die Finanz- und Wirt-
schaftskrise sowie ihre Ursachen ungelöst. Mehrere süd- und osteuropäische
Staaten stehen kurz vor dem finanziellen Ruin; ihre Bürgerinnen und Bürger
vor dem sozialen Absturz. Die Troika, bestehend aus EU-Kommission, Euro-
päischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), fordert als
Gegenleistung für Kredite, den Sozialstaat abzubauen und soziale Standards
wie Tarifverträge und Mindestlöhne auszuhöhlen. Die Krise wird genutzt,
um sozialstaatliche Regelungen einzureißen, und zwar in einem Tempo und
Ausmaß, das bis vor Kurzem unvorstellbar gewesen wäre. Im Windschatten

der Krise bahnt sich ein gigantisches Umverteilungsprogramm seinen Weg.
In den Krisenländern werden die betroffenen Bürgerinnen und Bürger ihrer
sozialen Sicherheit beraubt und vielfach auch ihrer Existenzgrundlage. Zu-
dem werden in der gesamten Europäischen Union die Steuerzahlenden für
die Bankenrettung zur Kasse gebeten. Nun soll der soziale Kahlschlag mit
dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem sogenannten
Fiskalpakt auf Dauer festgeschrieben werden. Die Bundesregierung ist der

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Motor für diese Entwicklung. Notwendig ist ein Kurswechsel: Die Ver-
ursacher der Krise sind in die Pflicht zu nehmen, soziale Standards müssen
erhalten und ausgebaut werden. Die Europäische Union braucht wachstums-
und beschäftigungsschaffende Maßnahmen statt Kürzungen.

3. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union entwickeln sich im Zuge der
Finanz- und Wirtschaftskrise sehr ungleich. Einige Staaten sind unter
enormen Druck der Finanzmärkte geraten und zum Spekulationsobjekt von
Hedgefonds und Investmentbankern geworden. Daraufhin werden sie seitens
der EU mit sogenannten Absichtserklärungen zu einem Sparkurs und zu
Sozialabbau getrieben, der die Gesellschaften in ihren Grundfesten erschüt-
tert. In Griechenland, Portugal, Spanien und in vielen anderen Ländern wer-
den die öffentlichen Dienste massiv abgebaut, Menschen entlassen und
Löhne gekürzt. Verbrauchsteuern werden erhöht. Schutzmechanismen wie
Mindestlohnregelungen und Leistungen der Arbeitslosenversicherung wer-
den angegriffen und abgesenkt, Rentenzahlungen gekürzt und das Renten-
eintrittsalter wird heraufgesetzt. In Griechenland werden sogar Tarifverträge
ausgehebelt, wodurch die Gewerkschaften und Beschäftigten nachhaltig ge-
schwächt werden und ein Absinken der Löhne befördert wird. In Italien ist
geplant, den Kündigungsschutz nicht nur für neue Arbeitsverträge abzu-
schwächen, sondern auch für Millionen bereits bestehende Arbeitsverträge.
Diese Vorgaben und ihre Umsetzung hebeln damit auch die Demokratie aus.
Sie sind ein Diktat der EU, des IWF und ihrer nationalen Erfüllungsgehilfen.

4. Mit diesen Maßnahmen werden die wirtschaftlichen Probleme in den Krisen-
ländern und der Eurozone nicht gelöst. Im Gegenteil: Die Kürzungen und der
Sozialabbau verschärfen die Krise. So ist im Jahr 2011 die Wirtschaft in
Portugal wiederholt geschrumpft, in Griechenland war dies sogar im vierten
Jahr in Folge der Fall. Neun der 17 Euro-Staaten befinden sich inzwischen
in der Krise, davon ebenfalls Italien als drittgrößte Volkswirtschaft der EU.
Im Gegenzug nimmt die Zahl der erwerbslosen und armen Menschen zu, wie
der jüngste Bericht des EU-Ausschusses für Sozialschutz dokumentiert.
Danach stieg die Arbeitslosigkeit in der EU seit Krisenausbruch von 7 auf
10 Prozent. In Ländern wie Irland, Griechenland und Spanien hat sich die
Arbeitslosigkeit seit Krisenbeginn annähernd verdoppelt. Jeder zweite bis
dritte Jugendliche ist dort erwerbslos. Entgegen dem Ziel der „EU-2020-
Strategie“ sind immer mehr Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung
betroffen, im Jahr 2010 bereits 116 Millionen. In Griechenland ergreift die
Obdachlosigkeit inzwischen sogar die Mittelschichten.

5. Die Proteste und Streiks der Menschen in Griechenland, Portugal, Spanien,
Italien und anderen Ländern sind deshalb verständlich und berechtigt. Sie
wehren sich gegen den eklatanten Raubbau an oft ohnehin nur geringen
sozialen Schutzmechanismen. Ihr Kampf ist auch ein Kampf um den Erhalt
der Demokratie. Die Krisenproteste im Frühjahr in der Europäischen Union
und Deutschland sind eine richtige Antwort auf diesen Angriff auf Demokra-
tie und Sozialstaat. Statt Vorurteilen und des Versuchs, die Bürgerinnen und
Bürger der Europäischen Union gegeneinander auszuspielen, braucht es die
Solidarität der Menschen in der EU gegen diese Kahlschlagpolitik. Die inter-
nationalen Protest- und Aktionstage vom 17. bis 19. Mai 2012 in Frankfurt
am Main sind ebenso zu unterstützen wie der am 12. Mai 2012 stattfindende
internationale dezentrale Aktionstag der „Occupy“-Bewegung.

6. Die derzeitige Politik der Bundesregierung richtet sich nicht nur gegen die
Menschen in den Krisenländern, sondern auch gegen die Bevölkerung in
Deutschland. Schon heute werden die Steuerzahlenden für die Banken-
rettung zur Kasse gebeten, während zugleich die Finanzmittel für öffentliche

Dienstleistungen wie etwa eine ausreichende Kinderbetreuung fehlen.
Würde der Fiskalpakt in Kraft treten, wäre Deutschland verpflichtet, seine

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9595

Staatsausgaben um jährlich 25 bis 30 Mrd. Euro zu kürzen. Das entspricht
jedem dritten Euro im Bereich Bildung und Forschung.

Zudem spielt die derzeitige Krisenpolitik mit dem Feuer: 1,5 Bio. Euro
sollen die Euroländer mit dem Fiskalpakt in den nächsten fünf Jahren einspa-
ren. Wird mit den Kürzungsmaßnahmen die Krise in den europäischen
Nachbarländern weiter verschärft und sinken dort die Löhne, kann sich auch
Deutschland der Krise nicht entziehen. Deutschland ist seit Jahren der Motor
für Lohndumping innerhalb der EU. Heute arbeitet bereits ein Viertel aller
Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Durch die Krise droht eine weitere Ab-
wärtsspirale. Gibt es zum Abbau sozialer Standards und sozialer Rechte
keine wirkliche Alternative und Krisenlösung, besteht die Gefahr einer
neuen Welle von Lohn- und Sozialdumping in der EU.

7. Die Ursachen für die Krise liegen im Finanzmarktkapitalismus begründet
und hier vor allem in der unzureichenden Regulierung des Bankensektors.
Die Bundesregierung macht dennoch die Staatsschulden für die Krise ver-
antwortlich. Die gestiegenen Staatsschulden seit 2007/2008 gehen aber maß-
geblich darauf zurück, dass der Staat die Banken rettet und die Kosten und
die Risiken des Finanzsektors der Gesellschaft aufbürdet. Hinzu kommen
enorme Steuererleichterungen für hohe Einkommen und Vermögen, die dazu
beitragen, in Deutschland wie in der EU die öffentlichen Kassen auszu-
trocknen. Die Kehrseite der Einnahmeverluste und leeren Kassen des Staates
ist der enorme Anstieg der privaten Vermögen einiger Weniger: In Deutsch-
land stiegen die öffentlichen Schulden in den vergangenen zehn Jahren um
800 Mrd. Euro, die privaten Nettovermögen gleichzeitig um mehr als
1,1 Mrd. Euro. Ganz ähnlich verhält es sich in Europa: Etwa 1 Prozent der
Europäer besitzt ein Geldvermögen von 10 Bio. US-Dollar. Dies ist mehr als
doppelt so viel wie alle Staatsschulden der fünf Krisenländer Griechenland,
Irland, Portugal, Spanien und Italien zusammen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich in der Europäischen Union für einen politischen Kurswechsel einzusetzen,
der darauf abzielt, soziale Standards zu erhalten und auszubauen sowie die
Krisenverursacher zur Rechenschaft zu ziehen. Ein solcher Kurswechsel um-
fasst folgende Punkte:

1. Deutschland ratifiziert weder den Fiskalpakt noch den ESM. Die Bundes-
regierung wirbt für diese Position bei den Regierungen und Parlamenten der
anderen EU-Staaten. Soziale Ziele müssen in der Politik der EU und ihrer
Mitgliedsländer Vorrang haben.

2. Darlehen an notleidende Staaten werden nicht mehr an den Abbau sozialer
Standards, das Aushöhlen von Tarifvertragssystemen und das Absenken von
Mindestlöhnen gekoppelt. Stattdessen sind die öffentlichen Haushalte der
Eurozone von den Finanzmärkten abzuschirmen, indem Kredite über eine
öffentliche Bank vergeben werden, um Zinsaufschläge zu verhindern. Be-
reits durchgeführte Maßnahmen werden zurückgenommen. Das gilt auch für
Einschnitte im öffentlichen Dienst, der Arbeitslosen- und Rentenversiche-
rung sowie erhöhte Verbrauchsteuern und eingeleitete Privatisierungen.

3. Statt Bankenrettung und Sparpaketen initiiert die Politik in der EU beschäfti-
gungsschaffende und sozialpolitische Maßnahmen. Dazu gehören ein effek-
tives, europaweites Zukunftsinvestitionsprogramm zum sozialökologischen
Umbau, kurzfristig Konjunkturpakete in den Krisenstaaten und sanktions-
freie Mindestsicherungssysteme. Zur Krisenbewältigung werden eine EU-
weite Vermögensabgabe und eine echte Bankenabgabe in der EU eingeführt

sowie zur Begrenzung der Spekulation eine europaweite Finanztransaktions-
steuer.

Drucksache 17/9595 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
4. Das deutsche Lohn- und Sozialdumping des vergangenen Jahrzehnts ist
ein maßgeblicher Faktor für die Entstehung von außenwirtschaftlichen
Ungleichgewichten und damit der Krise. Es gilt diese Ungleichgewichte zu
reduzieren. In Deutschland sind ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von
10 Euro pro Stunde und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindest-
sicherung einzuführen. Hierdurch werden ein weiteres Ausfransen des Lohn-
systems nach unten und Armut verhindert und die private Kaufkraft wird ge-
stärkt. Zur Stärkung der Binnennachfrage ist zudem in Deutschland eine
Ausweitung der öffentlichen Investitionen um 125 Mrd. Euro jährlich erfor-
derlich.

Berlin, den 9. Mai 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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