BT-Drucksache 17/9411

Internetfähige Computer gehören zum soziokulturellen Existenzminimum

Vom 25. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9411
17. Wahlperiode 25. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Diana Golze, Jan Korte, Agnes Alpers,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring,
Petra Pau, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer,
Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Internetfähige Computer gehören zum soziokulturellen Existenzminimum

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass ein inter-
netfähiger Computer in Form eines Sonderbedarfs nach § 24 Absatz 3 des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) als Bestandteil des soziokulturellen
Existenzminimums anerkannt wird und über den jeder Mensch orts- und zeit-
unabhängig sowie unpfändbar verfügen kann.

Berlin, den 25. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Der technologische Fortschritt in den letzten 20 Jahren hat vor allem in der
Medien- und Telekommunikationstechnologie Entwicklungen in Gang gesetzt,
die bereits jetzt die gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der
Bürgerinnen und Bürger nachhaltig beeinflussen. Dieser Prozess der Digitali-
sierung in der Gesellschaft prägt schon heute viele Bereiche des Lebens unter-
halb der Wahrnehmungsschwelle des Alltäglichen und durchdringt Handlungen
des Alltags auf der Stufe der Selbstverständlichkeit. Obschon sich die Entwick-
lung erst am Anfang befindet, sind die damit verbundenen Möglichkeiten und
Chancen für die Gesellschaft insgesamt und jede einzelne Bürgerin und jeden

einzelnen Bürger unüberschaubar.

Die markanteste Ausprägung dieser durch technologischen Fortschritt beding-
ten gesellschaftlichen Veränderung sind das Internet und die diese weltweit ein-
malige, homogene Infrastruktur nutzenden Dienste. Waren es zu Beginn der
Entwicklung zum allgemeinen (kommerziellen) Massenmedium hauptsächlich
Einzelhändler, die ihre Angebote online und dann teilweise unter vollständiger
Aufgabe ihres stationären Filialgeschäfts verfügbar gemacht haben, erfasste der

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Trend zunehmend alle Lebensbereiche und Branchen wie Versicherungen, Ban-
ken, Stromanbieter, Telekommunikationsdienstleister, Tageszeitungen, Fern-
und Weiterbildungsinstitute. Dabei ist inzwischen insgesamt eine deutliche
Verschiebung bis hin zur Auflösung klassischer Handlungs- und Informations-
alternativen zugunsten digitaler Angebote zu beobachten.

Die stets präsente, grenzenlose, vielfach ungefilterte und unzensierte Verfüg-
barkeit von Kultur, Wissen und Informationen, die Möglichkeiten des Aus-
tauschs bei der Meinungs- und Willensbildung, die Bildung regional unbe-
grenzter sozialer Netzwerke bis hin zur politischen Teilhabe prägen das Internet
und dessen Nutzung durch Bürgerinnen und Bürger im Privat- und Berufsleben
inzwischen dominanter als die primär von wirtschaftlichen Interessen geleiteten
Angebote. Es haben sich Strukturen gebildet, die gar kein oder jedenfalls kein
qualitatives oder quantitatives Äquivalent mehr zu Angeboten und Möglichkei-
ten außerhalb des Internets haben.

Auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung, der Justiz und der Gesetzgebung
lässt sich diese Entwicklung beobachten. Verwaltungen stellen Informationen,
Formulare und Kontaktdaten sowie die Möglichkeit zur elektronischen Kon-
taktaufnahme außerhalb von Sprechzeiten zur Verfügung. Schon jetzt werden
bestimmte elektronisch übermittelte Anfragen bis hin zur Steuererklärung be-
vorzugt bearbeitet. Gesetze und Verordnungen werden nicht nur online aktuell
bereitgestellt, auch die Verkündung und Veröffentlichung wird schrittweise auf
elektronische Medien, wie den elektronischen Bundesanzeiger, und zu Lasten
der Druckfassung umgestellt. Der elektronische Mahnantrag, Justiz-Auktions-
plattformen für Zwangsversteigerungen, abgesicherte elektronische Kommuni-
kation mit Behörden durch Projekte wie „De-Mail“ und das Elektronische Ge-
richts- und Verwaltungspostfach (EGVP) oder die Möglichkeit, Petitionen beim
Deutschen Bundestag online einzureichen, demonstrieren eine deutliche Ten-
denz zur verstärkten Nutzung elektronischer Kommunikationswege, die lang-
fristig klassische Mittel und Wege zurückdrängen. Auch öffentlich-rechtliche
Rundfunkanstalten, die einen besonderen Informations- und Aufklärungsauf-
trag haben, verweisen zunehmend auf ihre weiterführenden Onlineangebote.
Entsprechende Initiativen und Bestrebungen finden sich ebenso auf europäi-
scher Ebene.

Die Teilhabe an diesen Möglichkeiten durch Bürgerinnen und Bürger und die
damit verbundenen Chancen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung set-
zen indes voraus, dass der Zugang zu digitalen Angeboten und damit deren
Nutzung allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen, also diskriminierungs-
frei, eröffnet ist. Die aktuelle Situation in Deutschland zeichnet jedoch ein Bild
der digitalen Spaltung in der Gesellschaft. Zwar sind die absoluten Nutzerzah-
len stetig steigend, nach der seit 2001 regelmäßig durch die Initiative D21 unter
Mitwirkung von TNS Infratest Shared Services erstellten Studie „(N)Onliner
Atlas“ zur Onlinenutzung in Deutschland* ist aber ersichtlich, dass der Zugang zu
online verfügbaren Angeboten vor allem eine Frage der sozialen Herkunft und
Stellung ist. Bei Haushaltseinkommen unter 1 000 Euro sind lediglich 53 Prozent
der Bürgerinnen und Bürger regelmäßig online. Mit steigendem Haushalts-
einkommen nimmt der Anteil signifikant zu. Bei Haushaltseinkommen über
3 000 Euro liegt der Anteil bereits bei 92,3 Prozent.

Diese Entwicklung ist Besorgnis erregend. Die fehlende Teilhabemöglichkeit,
die ihre Wurzeln in der sozialen Herkunft hat, wirkt beschleunigend und selbst-
verstärkend zurück auf die soziale Spaltung der Gesellschaft. Wissen und Infor-
mation, Kultur, Bildung und politische Teilhabe kommen überproportional den-
jenigen zugute, die darüber bereits verfügen können. Dies wirkt sich auch in
den Bereichen Bildung und Arbeit aus. Die zunehmend geforderte Kompetenz
* www.nonliner-atlas.de

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im Umgang mit modernen Medien und Kommunikationsmitteln, die Möglich-
keiten, die sich aus vernetztem Lernen oder der Auflösung klassischer Arbeits-
strukturen ergeben, erreichen gerade diejenigen nicht, die darauf im besonderen
Maße angewiesen sind und davon profitieren könnten. Auch Stellenausschrei-
bungen sind vielfach ausschließlich in Onlineportalen oder -ausschreibungen
zu finden. Bewerbungen werden immer öfter ausschließlich per E-Mail akzep-
tiert. Verschärft wird dieses Ungleichgewicht in strukturschwachen und ländli-
chen Regionen, in denen es kaum Ausweichmöglichkeiten und Alternativen
gibt, wie sie in starken Ballungsräumen noch vorhanden sind.

Generell sichern die Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozial-
gesetzbuch nicht die gesellschaftliche Teilhabe ab. Daher fordert die Fraktion
DIE LINKE. in einem ersten Schritt zur sanktionsfreien Mindestsicherung, die
die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen absichert, eine Re-
gelleistungserhörung auf 500 Euro.

Es besteht auch kaum Zweifel daran, dass insbesondere Bürgerinnen und
Bürger und Familien, die Leistungen nach dem SGB II und dem Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII) beziehen müssen, überproportional von der digita-
len Spaltung betroffen sind. In der Ermittlung der Regelsatzhöhe für den Leis-
tungsbezug nach dem „Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“ (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz), das für
die Bestimmung des Leistungsbezuges nach § 20 Absatz 5 SGB II ebenfalls
maßgeblich ist, findet die Anschaffung von Technik zur Nutzung des Internets
keine nennenswerte Berücksichtigung. Zwar wird die Anschaffung von Daten-
verarbeitungsgeräten und Software als regelsatzrelevant anerkannt, die ermit-
telten 3,44 Euro pro Monat (Bundestagsdrucksache 17/3404, S. 85 – lfd.
Nr. 54) reichen aber für den Fall einer Neuanschaffung ganz offensichtlich
nicht aus. Es ist auch nicht ersichtlich, wie durch einen „internen Ausgleich“
bei den verschiedenen Verbrauchsausgaben die Neuanschaffung eines internet-
fähigen Computers realisiert werden könnte.

Die staatliche Unterstützung bei der Anschaffung internetfähiger Technik ist
verfassungsrechtlich geboten. Dies ergibt sich in besonderer Deutlichkeit aus dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, Urteil vom 9. Februar 2010, – 1 BvL
1/09 – (= NZS 2010, 270), wonach Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) „das
gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie
[…], die auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschli-
cher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaft-
lichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, gewährleistet“ und diese
Gewährleistung „durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein“ muss.
Die Wahrnehmung der grundrechtlich verbürgten Freiheiten und die diskrimi-
nierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind bereits jetzt ohne
einen Zugang zum Internet nicht mehr gewährleistet. Dabei ist es aufgrund
der vielfältigen Möglichkeiten und Chancen, die die Nutzung des Internets
birgt, nicht ausreichend, vereinzelt in öffentlich zugänglichen Bereichen den
Zugang zum Internet zu ermöglichen. Damit mag im Einzelfall eine Recher-
che ermöglicht werden, die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und
politischen Leben kennt jedoch keine Öffnungszeiten und Nutzungsordnun-
gen. Nur die Gewährleistung dieser Teilhabe in der eigenen Wohnung und
vergleichbaren Räumen gewährleistet wirksam den von Artikel 1 GG erfass-
ten Menschenwürdegehalt des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
(Artikel 2 Absatz 1 GG).

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