BT-Drucksache 17/9410

Soziale Errungenschaften in der Europäischen Union verteidigen und ausbauen

Vom 25. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9410
17. Wahlperiode 25. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Alexander Ulrich,
Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Dr. Diether Dehm,
Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Andrej Hunko, Katja Kipping,
Cornelia Möhring, Wolfgang Neskovic, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und
der Fraktion DIE LINKE.

Soziale Errungenschaften in der Europäischen Union verteidigen und ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In der Europäischen Union (EU) sind über Jahrzehnte erkämpfte soziale Er-
rungenschaften in Gefahr. Auch nach vier Jahren sind die Finanz- und Wirt-
schaftskrise sowie ihre Ursachen ungelöst. Mehrere süd- und osteuropäische
Staaten stehen kurz vor dem finanziellen Ruin; ihre Bürgerinnen und Bürger
vor dem sozialen Absturz. Die Troika bestehend aus EU-Kommission, Euro-
päischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) fordert als
Gegenleistung für Kredite, den Sozialstaat abzubauen und soziale Standards
wie Tarifverträge und Mindestlöhne auszuhöhlen. Die Krise wird genutzt,
um sozialstaatliche Regelungen einzureißen und zwar in einem Tempo und
Ausmaß, das bis vor kurzen unvorstellbar gewesen wäre. Im Windschatten
der Krise bahnt sich ein gigantisches Umverteilungsprogramm seinen Weg.
In den Krisenländern werden die betroffenen Bürgerinnen und Bürger ihrer
sozialen Sicherheit beraubt und vielfach auch ihrer Existenzgrundlage. Zu-
dem werden in der gesamten Europäischen Union die Steuerzahlenden für
die Bankenrettung zur Kasse gebeten. Nun soll der soziale Kahlschlag mit
dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem sogenannten
Fiskalpakt auf Dauer festgeschrieben werden. Die Bundesregierung ist der
Motor für diese Entwicklung. Notwendig ist ein Kurswechsel: Die Verur-
sacher der Krise sind in die Pflicht zu nehmen, soziale Standards müssen er-
halten und ausgebaut werden. Die Europäische Union braucht wachstums-
und beschäftigungsschaffende Maßnahmen statt Kürzungen.

2. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union entwickeln sich im Zuge der
Finanz- und Wirtschaftskrise sehr ungleich. Einige Staaten sind unter enor-
men Druck der Finanzmärkte geraten und zum Spekulationsobjekt von
Hedgefonds und Investmentbankern geworden. Daraufhin werden sie sei-

tens der EU mit sogenannten Absichtserklärungen zu einem Sparkurs und
Sozialabbau getrieben, der die Gesellschaften in ihren Grundfesten erschüt-
tert. In Griechenland, Portugal, Spanien und in vielen anderen Ländern wer-
den die öffentlichen Dienste massiv abgebaut, Menschen entlassen und
Löhne gekürzt. Verbrauchsteuern werden erhöht. Schutzmechanismen wie
Mindestlohnregelungen und Leistungen der Arbeitslosenversicherung wer-

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den angegriffen und abgesenkt, Rentenzahlungen gekürzt und das Renten-
eintrittsalter heraufgesetzt. In Griechenland werden sogar Tarifverträge aus-
gehebelt, wodurch die Gewerkschaften und Beschäftigten nachhaltig
geschwächt und ein Absinken der Löhne befördert werden. In Italien ist
geplant, den Kündigungsschutz nicht nur für neue Arbeitsverträge abzu-
schwächen, sondern auch für Millionen bereits bestehender Arbeitsverträge.
Diese Vorgaben und ihre Umsetzung hebeln damit auch die Demokratie aus.
Sie sind ein Diktat der EU, des IWF und ihrer nationalen Erfüllungsgehilfen.

3. Mit diesen Maßnahmen werden die wirtschaftlichen Probleme in den Kri-
senländern und der Eurozone nicht gelöst. Im Gegenteil: die Kürzungen und
der Sozialabbau verschärfen die Krise. So ist im Jahr 2011 die Wirtschaft in
Portugal wiederholt geschrumpft, in Griechenland war dies sogar im vierten
Jahr in Folge der Fall. Mit Italien befindet sich inzwischen die drittgrößte
Volkswirtschaft der EU in der Rezession. Im Gegenzug nimmt die Zahl der
erwerbslosen und armen Menschen zu, wie der jüngste Bericht des EU-Aus-
schusses für Sozialschutz dokumentiert. Danach stieg die Arbeitslosigkeit
in der EU seit Krisenausbruch von 7 auf 10 Prozent. In Ländern wie Irland,
Griechenland und Spanien hat sich die Arbeitslosigkeit seit Krisenbeginn
annähernd verdoppelt. Jeder zweite bis dritte Jugendliche ist dort erwerbs-
los. Entgegen dem Ziel der „EU-2020-Strategie“ sind immer mehr Men-
schen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, im Jahr 2010 bereits
116 Millionen. In Griechenland ergreift die Obdachlosigkeit inzwischen so-
gar die Mittelschichten.

4. Die Proteste und Streiks der Menschen in Griechenland, Portugal, Spanien,
Italien und anderen Ländern sind deshalb verständlich und berechtigt. Sie
wehren sich gegen den eklatanten Raubbau an oft ohnehin nur geringen so-
zialen Schutzmechanismen. Ihr Kampf ist auch ein Kampf um den Erhalt
der Demokratie. Die Krisenproteste im Frühjahr in der Europäischen Union
und Deutschland sind eine richtige Antwort gegen diesen Angriff auf Demo-
kratie und Sozialstaat. Statt Vorurteile und den Versuch, die Bürgerinnen
und Bürger der Europäischen Union gegeneinander auszuspielen, braucht es
die Solidarität der Menschen in der EU gegen diese Kahlschlagpolitik. Die
internationalen Protest- und Aktionstage vom 17. bis 19. Mai 2012 in Frank-
furt am Main sind ebenso zu unterstützen wie der am 12. Mai 2012 stattfin-
dende internationale dezentrale Aktionstag der „Occupy“-Bewegung.

5. Die derzeitige Politik der Bundesregierung richtet sich nicht nur gegen die
Menschen in den Krisenländern, sondern auch gegen die Bevölkerung in
Deutschland. Schon heute werden die Steuerzahlenden für die Bankenret-
tung zur Kasse gebeten, während zugleich die Finanzmittel für öffentliche
Dienstleistungen wie etwa eine ausreichende Kinderbetreuung fehlen.
Würde der Fiskalpakt in Kraft treten, wäre Deutschland verpflichtet, seine
Staatsausgaben um jährlich 25 bis 30 Mrd. Euro zu kürzen. Das entspricht
jedem dritten Euro im Bereich Bildung und Forschung.

Zudem spielt die derzeitige Krisenpolitik mit dem Feuer: 1,5 Bio. Euro sol-
len die Euro-Länder mit dem Fiskalpakt in den nächsten fünf Jahren einspa-
ren. Wird mit den Kürzungsmaßnahmen die Krise in den europäischen
Nachbarländern weiter verschärft und sinken dort die Löhne, kann sich auch
Deutschland der Krise nicht entziehen. Deutschland ist seit Jahren der Motor
für Lohndumping innerhalb der EU. Heute arbeitet bereits ein Viertel aller
Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Durch die Krise droht eine weitere Ab-
wärtsspirale. Gibt es zum Abbau sozialer Standards und sozialer Rechte
keine wirkliche Alternative und Krisenlösung, besteht die Gefahr einer
neuen Welle von Lohn- und Sozialdumping in der EU.
6. Die Ursachen für die Krise liegen im Finanzmarktkapitalismus begründet
und hier vor allem in der unzureichenden Regulierung des Bankensektors.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9410

Die Bundesregierung macht dennoch die Staatsschulden für die Krise ver-
antwortlich. Die gestiegenen Staatsschulden seit 2007/2008 gehen aber
maßgeblich darauf zurück, dass der Staat die Banken rettet und die Kosten
und die Risiken des Finanzsektors der Gesellschaft aufbürdet. Hinzu kom-
men enorme Steuererleichterungen für hohe Einkommen und Vermögen, die
dazu beitragen, in Deutschland wie in der EU die öffentlichen Kassen auszu-
trocknen. Die Kehrseite der Einnahmeverluste und leeren Kassen des Staa-
tes ist der enorme Anstieg der privaten Vermögen einiger weniger: In
Deutschland stiegen die öffentlichen Schulden in den vergangenen zehn Jah-
ren um 800 Mrd. Euro, die privaten Nettovermögen gleichzeitig um mehr als
1 100 Mrd. Euro. Ganz ähnlich verhält es sich in Europa: Etwa 1 Prozent der
Europäer besitzt ein Geldvermögen von 10 Bio. US-Dollar. Dies ist mehr als
doppelt so viel wie alle Staatsschulden der fünf Krisenländer Griechenland,
Irland, Portugal, Spanien und Italien zusammen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich in der Europäischen Union für einen politischen Kurswechsel einzusetzen,
der darauf abzielt, soziale Standards zu erhalten und auszubauen sowie die Kri-
senverursacher zur Rechenschaft zu ziehen. Ein solcher Kurswechsel umfasst
folgende Punkte:

1. Deutschland ratifiziert weder den Fiskalpakt noch den Europäischen Stabili-
tätsmechanismus (ESM). Die Bundesregierung wirbt für diese Position bei
den Regierungen und Parlamenten der anderen EU-Staaten. Soziale Ziele
müssen in der Politik der EU und ihrer Mitgliedsländer Vorrang haben.

2. Darlehen an notleidende Staaten werden nicht mehr an den Abbau sozialer
Standards, das Aushöhlen von Tarifvertragssystemen und das Absenken von
Mindestlöhnen gekoppelt. Stattdessen sind die öffentlichen Haushalte der
Eurozone von den Finanzmärkten abzuschirmen, indem Kredite über eine
öffentliche Bank vergeben werden, um Zinsaufschläge zu verhindern. Be-
reits durchgeführte Maßnahmen werden zurückgenommen. Das gilt auch für
Einschnitte im öffentlichen Dienst, der Arbeitslosen- und Rentenversiche-
rung sowie erhöhte Verbrauchsteuern und eingeleitete Privatisierungen.

3. Statt Bankenrettung und Sparpakete initiiert die Politik in der EU beschäfti-
gungsschaffende und sozialpolitische Maßnahmen. Dazu gehören ein effek-
tives, europaweites Zukunftsinvestitionsprogramm zum sozialökologischen
Umbau, kurzfristig Konjunkturpakete in den Krisenstaaten und sanktions-
freie Mindestsicherungssysteme. Zur Krisenbewältigung wird eine EU-
weite Vermögensabgabe und eine echte Bankenabgabe in der EU eingeführt
sowie zur Begrenzung der Spekulation eine europaweite Finanztransaktions-
steuer.

4. Das deutsche Lohn- und Sozialdumping des vergangenen Jahrzehnts ist ein
maßgeblicher Faktor für die Entstehung von außenwirtschaftlichen Un-
gleichgewichten und damit der Krise. Es gilt diese Ungleichgewichte zu
reduzieren. In Deutschland sind ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von
10 Euro pro Stunde und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsiche-
rung einzuführen. Hierdurch wird ein weiteres Ausfransen des Lohnsystems
nach unten und Armut verhindert sowie die private Kaufkraft gestärkt. Zur
Stärkung der Binnennachfrage ist zudem in Deutschland eine Ausweitung
der öffentlichen Investitionen um 125 Mrd. Euro jährlich erforderlich.

Berlin, den 25. April 2012
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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