BT-Drucksache 17/9194

Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9194
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Dr. Barbara Höll, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Risiken der Riester-Rente offenlegen – Altersvorsorge von Finanzmärkten
entkoppeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Altersvorsorge muss von den Finanzrisiken an den Geld- und Kapitalmärk-
ten entkoppelt werden. Dies macht die seit 2007/2008 ungelöste Finanzkrise
immer deutlicher. Allein in Deutschland haben die Lebensversicherer aktuell
rund 750 Mrd. Euro an den Finanzmärkten angelegt. Ein Gutteil davon dient der
Altersvorsorge. Trotz Einlagensicherung muss bezweifelt werden, dass privat
angelegte Ruhegelder auf Dauer gesichert werden können. Zumal ohne die staat-
liche Bankenrettung schon längst auch die private Alterssicherung in Schwierig-
keiten geraten wäre. Folglich wird auch die private Altersvorsorge durch die
Bankenrettung von allen Steuerzahlenden und kommenden Generationen mit-
finanziert und somit subventioniert.

In den vergangenen Monaten stand die Riester-Rente erneut verstärkt öffentlich
in der Kritik. Die nach wie vor berechtigten Zweifel an der generellen Effizienz
und Sinnhaftigkeit der kapitalgedeckten Altersvorsorge werden immer deut-
licher. Denn der Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge ist
vor allem für die Versicherungswirtschaft ein lukratives Geschäft. Für viele
Versicherte wird sich dagegen die Riester-Rente auch langfristig nicht lohnen.

Das Problem ist hausgemacht. Seit den rot-grünen Rentenreformen sinkt das
Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung stetig. So wurde und
wird Finanzdienstleistern ein neuer Absatzmarkt eröffnet. Die Leistungsminde-
rungen im Bereich der Altersrenten, der Erwerbsminderungsrenten sowie der
Hinterbliebenenrenten sollten durch private Vorsorge ausgeglichen und nach
der Erklärung des damaligen Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung
Walter Riester sogar überkompensiert werden (Plenarprotokoll 14/133 vom
16. November 2000).
Dieses Versprechen ist unhaltbar. Die Höhe der privaten Altersvorsorge kann
die Leistungsminderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung nie kom-
pensieren. Zum Beispiel wird das Risiko der Erwerbsminderung in den Riester-
Verträgen gar nicht abgesichert. Geringverdienende, die eine Ergänzung ihrer
Alterseinkommen am nötigsten hätten, können sich die private Altersvorsorge
gar nicht leisten und sind deshalb auch unter den Riester-Sparenden unterreprä-
sentiert.

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Die Gesamtbeitragsbelastung für alle Versicherten liegt bei gleichem Leistungs-
niveau trotz erheblicher Subventionen höher als es ohne die Leistungskürzungen
in der gesetzlichen Rentenversicherung der Fall gewesen wäre. Die Riester-
Rente bleibt damit nur ein zusätzliches Geschäftsfeld für Banken und Versiche-
rungen. Sie allein profitieren, was sich in den hohen und meist versteckten
Kosten ausdrückt. Während die Verwaltungskosten bei Riester-Renten bis zu
20 Prozent betragen, liegen sie in der gesetzlichen Rentenversicherung bei nicht
einmal 2 Prozent. Durch die immensen Sparbeiträge wird außerdem die Speku-
lation an den Finanzmärkten zusätzlich angeheizt.

Zehn Jahre nach der von der rot-grünen Bundesregierung zur Jahrhundertreform
stilisierten Rentenreform ist es überfällig, das System der privaten, kapitalgeck-
ten Altersvorsorge kritisch zu überprüfen. Hat sie die behaupteten Vorteile? Sind
die staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe sozialpolitisch und volkswirt-
schaftlich sinnvoll und gerecht? Letztlich gilt es also zu prüfen, ob das umlage-
finanzierte System der gesetzlichen Rentenversicherung nicht weit vorteilhafter
und sicherer ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

analog zum jährlichen Rentenversicherungsbericht nach § 154 des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) einmal jährlich einen umfassenden Bericht
über die Entwicklung, Verbreitung und Kosten der geförderten privaten Alters-
vorsorge – Riester-Renten und Rürup-Renten – zu erstatten. Der Bericht soll
mindestens

1. auf der Grundlage aktueller Daten zur Struktur der Versicherten, des Neu-
geschäfts, der Vertragsauflösungen und der Leistungsbeziehenden, der durch-
schnittlichen effektiven Rendite auf die Sparbeiträge, der aktuellen Sterbe-
tafel der Deutschen Aktuarvereinigung e. V. (DAV) sowie der wirtschaft-
lichen Entwicklung Modellrechnungen zur realistischen Entwicklung der
Einnahmen und Ausgaben, der Rentenhöhe, der Deckungsrückstellungen,
der Leistungszusagen sowie der notwendigen Eigenbeiträge in Prozent des
Durchschnittsverdiensts für die künftigen 15 Kalenderjahre,

2. valide Aussagen zur Entwicklung der Finanzlage der Anbieter einschließlich
des Verhältnisses zwischen garantierten Leistungsansprüchen und Kapital-
rücklagen in den vergangenen fünf und den künftigen fünf Kalenderjahren
anhand der aktuellen Einschätzung der mittelfristigen Wirtschaftsentwick-
lung und belastbare Aussagen zur Entwicklung der Finanzmarktrisiken,

3. detaillierte Modellrechnungen für die Rentenzugänge der nächsten 15 Jahre,
über die Entwicklung des Nettorentenniveaus nach Steuern und Sozialab-
gaben aus gesetzlicher Rente und Riester-Rente sowie die Entwicklung
dieses Nettosicherungsniveaus über eine Rentenbezugsdauer von 20 Jahren
mit und ohne Dynamisierung der privaten Vorsorge sowohl für Altersrenten
als auch für Renten wegen voller Erwerbsminderung anhand der aktuellen
tatsächlichen Verbreitungsgrade, der durchschnittlichen Beitragshöhen, des
Versicherungsumfangs und des aktuellen durchschnittlichen Zugangsalters,

4. einen Vergleich aller direkten wie indirekten Kosten und Einnahmeausfälle
für den Staat, alle Zweige der Sozialversicherungen sowie die Versicherten
und Unternehmen bei gleichem Gesamtleistungsniveau und Leistungsum-
fang zwischen dem aktuell geltenden Drei-Säulen-Vorsorgesystem und dem
gesetzlichen Rentensystem, wie es im Jahr 2000 bestand,

5. ausführliche Angaben zu den durchschnittlichen Kosten, der effektiven Ren-
dite, den Gewinnanteil der Anbieter, der durchschnittlichen Förderung durch
Zulage und Steuervergünstigung nach Versicherungsprodukten, der Anzahl

der unmittelbar und mittelbar zulagenberechtigten Personen, deren Sparver-
halten und dem Verbreitungsgrad der privaten Vorsorge,

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6. umfassende Aussagen zu den Auswirkungen der privaten und betrieblichen
Vorsorge über die Rentenanpassungsformel auf den aktuellen Rentenwert
und damit die Höhe der gesetzlichen Rente,

7. bis zur Angleichung der Lohn- und Gehaltssituation in den neuen Bundes-
ländern an die Lohn- und Gehaltssituation der alten Bundesländer eine ge-
sonderte Darstellung dieser Entwicklungen im Beitrittsgebiet

enthalten.

Berlin, den 28. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Vor rund zehn Jahren beschloss der Deutsche Bundestag das Leistungsniveau
der gesetzlichen Rentenversicherung zu Gunsten der privaten Vorsorge zu min-
dern. Das Ziel war der Aufbau eines sogenannten Drei-Säulen-Modells. Den
Lebensstandard im Alter kann danach nur sichern, wer zusätzlich privat vorsorgt.
Das solidarische staatliche Rentensystem wird also zurückgedrängt, stattdessen
wird die Altersvorsorge vermehrt über private gewinnorientierte Unternehmen
abgewickelt. Die Annahme für diesen Umbau war, dass das Kapitaldeckungs-
verfahren renditeträchtiger sei und die Alterseinkommen dadurch insgesamt so-
gar höher ausfallen würden. Im Rahmen der Reform wurde daher die sogenannte
Riester-Rente eingeführt, eine spezielle private Altersvorsorge, die in erheb-
lichem Umfang mit Steuergeldern auf Dauer subventioniert wird.

Selbst zehn Jahre nach Einführung der Förderung hat nur etwa jeder/jede dritte
Zulagenberechtigte einen Riester-Vertrag abgeschlossen, die Zahl der ruhenden
oder nicht voll besparten Verträge eingeschlossen. Neben vielen anderen Stu-
dien und Veröffentlichungen zur Riester-Rente hat unter anderem das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung e. V. (DIW Berlin) in seinem Wochenbericht
47/2011 ein vernichtendes Urteil gefällt: „Angesichts der Defizite des Riester-
Systems spricht vieles für ein grundsätzliches Überdenken in der Altersvorsor-
gepolitik. Dabei darf auch eine zielgerichtete Reduktion oder gar ein Wegfall
der besonderen öffentlichen Förderung kein Tabu sein. Die eingesparten Steu-
ergelder könnten zur Stärkung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenver-
sicherung verwendet werden“ (DIW Wochenbericht 47/2011, S. 3).

Exemplarisch verweist der DIW-Bericht auf die sehr hohe Lebenserwartung,
welche den Riester-Verträgen zu Grunde gelegt wird. Alleine um die in der
Erwerbsphase eingezahlten Beiträge und Zulagen im Ruhestand wieder zu
bekommen, müssen die Personen demnach rund 90 Jahre alt werden. Sterben sie
vorher, gehen 25 Prozent der nicht ausgezahlten Renten als zusätzlicher Gewinn
in die Bilanzen der Versicherungswirtschaft ein. Dieser gravierende Skandal
bemüßigt selbst die amtierende Bundesregierung zum Handeln und so sollen
diese Sterbefallgewinne auf 10 Prozent sinken. Der DIW-Bericht verweist auch
darauf, dass die Umstellung auf Unisex-Tarife dazu genutzt wurde, die Lebens-
erwartung in den Berechnungen noch einmal höher anzusetzen.

Zum 1. Januar 2012 wurde der Garantiezins (Höchstrechnungszins) auf 1,75 Pro-
zent gesenkt. Damit liegt dieser Zinssatz unter der Zielinflationsrate der Europä-
ischen Zentralbank von 2 Prozent. Die Riester-Verträge garantieren also nicht
einmal mehr langfristig einen Inflationsausgleich. Gerade neu abgeschlossene

Riester-Verträge verlieren so jeden Tag an Wert. Das DIW Berlin kommt daher

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zum logischen Ergebnis: ,„Riestern“ ist oft nicht besser als das Geld in den Spar-
strumpf zu stecken‘ (DIW Wochenbericht 47/2011, S.13).

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-
Böckler-Stiftung kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die Umstellung der
Alterssicherung auf mehrere Säulen weder aus volkswirtschaftlicher Perspek-
tive noch aus individueller Sicht sinnvoll ist (Logeay, Camille/Meinhardt,
Volker/Rietzler, Katja/Zwiener, Rudolf: Gesamtwirtschaftliche Folgen des kapi-
talgedeckten Rentensystems. Zwischen Illusion und Wirklichkeit, IMK.Report
Nr. 43, 11/2009, www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_43_2009.pdf). Die einzel-
nen Sparerinnen und Sparer müssten eine höhere Beitragslast für eine ausrei-
chende Altersvorsorge tragen als es unter Beibehaltung des alten Systems auch
in Zukunft der Fall gewesen wäre. Der durch das Riester-Sparen unmittelbar be-
dingte Konsumverzicht hemme gleichzeitig das gesamtwirtschaftliche Wachs-
tum, so dass die erwarteten Entlastungen der Rentenkasse nicht realisiert werden
können.

Schließlich gäbe es bei der Riester-Förderung erhebliche Mitnahmeeffekte
(Böckler-Impuls 16/2011, www.boeckler.de/38106.htm). Zum identischen Be-
fund kommen mehrerer Studien von Prof. Dr. Dr. Giacomo Corneo u. a. „Er-
höht die Riester-Förderung die Sparneigung von Geringverdienern?“ Freie Uni-
versität Berlin 2007 sowie „The Effect of Saving Subsidies on Household
Saving, Evidence from Germany“ FU Berlin, School of Business and Econom-
ics Discussion Paper 2010/03. Demnach erhöht die Zulagenförderung in der
Gruppe der Niedrigeinkommensbeziehenden weder den Anteil der sparenden
Haushalte noch deren Sparquote. Viele Förderberechtigte würden nicht wie er-
wartet zusätzlich sparen, sondern lediglich ihr Sparverhalten so umschichten,
um die staatlichen Zulagen und Steuervorteile in Anspruch nehmen zu können.
Dadurch würden die Reformziele teilweise konterkariert. Berechnungen des
DIW Berlin (Geyer, Johannes: Riester-Rente: Rezept gegen Altersarmut?, in:
DIW Wochenbericht 47/2011) zeigen zudem, dass trotz der bei Geringverdie-
nenden erzielbaren hohen Förderquoten die Bezieherinnen und Bezieher niedri-
ger Einkommen bei den Riester-Verträgen unterrepräsentiert sind.

Vor diesem Hintergrund sind Zweifel an der ökonomischen Sinnhaftigkeit der
Riester-Rente mehr als berechtigt. Allerdings ist die Datenlage in diesem zentra-
len Politikbereich weiterhin erschreckend lückenhaft. Diesen Zustand konstatie-
ren übereinstimmend das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI)
der Hans-Böckler-Stiftung (www.boeckler.de/38106.htm) und das DIW Berlin
(DIW Wochenberichte Nr. 8/2010 sowie Nr. 47/2011).

Um die Effekte des vor zehn Jahren eingeschlagenen Weges überhaupt umfas-
send bewerten zu können, bedarf es einer ausführlichen Berichtspflicht der
Bundesregierung. Denn nach den bisher vorliegenden Berechnungen erreicht
das Gesamtleistungsniveau aus gesetzlicher Rente und privater Riester-Rente
nicht das vormals allein durch die gesetzliche Rentenversicherung gewährte
Leistungsniveau (vgl. Rentenversicherungsberichte der Bundesregierung sowie
Dedring, Klaus-Heinrich/Deml, Jörg/Döhring, Dieter/Steffen, Johannes/Zwiener,
Rudolf: Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente, Wiso-
Diskurs August 2010, S. 14). Gleichzeitig ist der Umbau hin zur Kombination
aus gesetzlichen und privaten Alterseinkommen (das sogenannte Drei-Säulen-
Modell) mit höheren Beiträgen für alle Versicherten verbunden. So liegt der
Beitragssatz zurzeit bei knapp 20 Prozent für die gesetzliche Rentenversicherung
– je 10 Prozent von den Versicherten und Arbeitgebern. Die Versicherten sollen
aber auch noch zusätzlich 4 Prozent für die Riester-Verträge und noch rund 3 Pro-
zent für eine weitere kapitalgedeckte Vorsorge, etwa eine Betriebsrente, auf-
bringen. Für die Versicherten macht dies zusammen 17 Prozent Beitragslast –

für die Arbeitgeber bleibt es bei 10 Prozent. Rechnet man die staatlichen Sub-
ventionen für die Riester-Rente gegen, werden die Versicherten effektiv immer

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9194

noch mit 15 bis 16 Prozent belastet. Wäre die lebensstandardsichernde Funktion
der gesetzlichen Rente beibehalten worden, läge der Beitragssatz zur gesetzlichen
Rentenversicherung heute bei rund 22 Prozent. Also paritätisch bei jeweils
11 Prozent für Arbeitgeber und Beschäftigte. Bis 2030 würde der Beitragssatz
auf 26 bis 28 Prozent steigen. Auch dann müssten die Versicherten nur 13 bis
14 Prozent ihres Einkommens für eine lebensstandardsichernde Rente samt
Erwerbsminderungsschutz und Hinterbliebenenversorgung aufbringen und nicht
wie heute schon 15 bis 16 Prozent für die in Teilen um diese Bestandteile redu-
zierte Alterssicherung.

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