BT-Drucksache 17/9174

Flughafenasylverfahren abschaffen

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9174
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, Cornelia
Behm, Viola von Cramon-Taubadel, Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag,
Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth (Augsburg), Hans-Christian Ströbele,
Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Flughafenasylverfahren abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem das in § 18a des Asylverfahrens-
gesetzes (AsylVfG) vorgesehene Flughafenasylverfahren abgeschafft wird;

2. entsprechende Vorbehalte gegen die Vorschläge der Europäischen Kommis-
sion zur Änderung der Aufnahmerichtlinie und der Verfahrensrichtlinie fallen
zu lassen.

Berlin, den 27. März 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Das Flughafenverfahren (§ 18a AsylVfG) kann insbesondere auf Asylsuchende
angewendet werden, die bei ihrer Einreise am Flughafen Asyl beantragen und
aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ stammen oder keinen gültigen Reisepass
besitzen. Die Asylsuchenden werden dann während des Asylverfahrens vor der
Einreise auf dem Gelände des Flughafens im Transitbereich untergebracht. Über
den Asylantrag soll das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bin-
nen zwei Tagen nach Ankunft entscheiden. Gegen eine negative Entscheidung
des BAMF kann der Asylsuchende – in einer gegenüber dem regulären Asylver-
fahren nochmals verkürzten – Frist von nur drei Tagen das Verwaltungsgericht
anrufen, das in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Die sich daraus ergebende maximale Unterbringungsdauer am Flughafen von

19 Tagen wird in der Praxis allerdings häufig deutlich überschritten.

Flughafenverfahren werden derzeit in nennenswertem Umfang nur in Frankfurt
am Main durchgeführt; die Zahl der Flughafenverfahren in Hamburg, Düssel-
dorf, München und Berlin-Schönefeld ist äußerst gering. Nunmehr werden
jedoch auf dem neuen Berliner Flughafen Berlin Brandenburg (BBI) in großem
Stile die Voraussetzungen für die Durchführung von Flughafenverfahren geschaf-

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fen – darunter auch eine Unterbringungseinrichtung, in der durchschnittlich bis
zu 30 Asylsuchende zumindest bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag ver-
bleiben sollen –. Dabei sind die geschätzten Fallzahlen – die Bundesregierung
geht von ca. 300 Flughafenverfahren jährlich am Standort „BBI“ aus – nirgends
belegt und völlig überzogen. Diese Zahlen sowie die Tatsache, dass die Bundes-
regierung gegenüber dem Land Brandenburg trotz der hohen Kosten für die
Baumaßnahmen auf der sofortigen Einführung eines Flughafenverfahrens am
Flughafen „BBI“ bestanden hat, dienen offensichtlich dem Zweck, ihre Ver-
handlungsposition gegenüber der Europäischen Kommission und den anderen
Mitgliedstaaten bei der Neuverhandlung der EU-Richtlinien zum Asylverfahren
zu stützen. Die Bundesregierung hat selbst ausgeführt, dass „ein auch nur
vorübergehender Verzicht auf das Flughafenverfahren die deutsche Verhand-
lungsposition schwächen könnte“ (Bundestagsdrucksache 17/8095, Antwort zu
Frage 19).

Das Flughafenverfahren wurde 1993 zu einem Zeitpunkt eingeführt, als in
Deutschland jährlich über 400 000 Asylanträge gestellt wurden. Seitdem haben
sich die tatsächlichen Verhältnisse erheblich geändert. Haben im Jahr 1995 ins-
gesamt 4 590 Personen in einem Flughafenverfahren um Asyl nachgesucht bzw.
nachsuchen müssen, sind dies 2010 nur noch 735 Flüchtlinge, von denen 57 in
das Flughafenverfahren übernommen wurden (BAMF, Das Bundesamt in Zah-
len 2010, Nr. 6, Flughafenverfahren). Die Anzahl derjenigen, die aus sicheren
Herkunftsstaaten stammt, die eigentliche Hauptzielgruppe, schwankt zwischen
null und fünf Personen jährlich (Ines Welge: Hastig, unfair, mangelhaft, Frank-
furt am Main, April 2009, S. 19).

Seit der Einführung des Flughafenverfahrens in Deutschland haben sich aber
auch die europarechtlichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Denn
nunmehr gibt es zu den Bereichen Asylverfahren, Aufnahmebedingungen und
Rückführungsbedingungen mit den Richtlinien 2003/09/EG (Aufnahmericht-
linie), 2005/85/EG (Verfahrensrichtlinie) sowie 2008/115/EG (Rückführungs-
richtlinie) europäische Vorgaben, in deren Bild das deutsche Flughafenverfahren
nicht mehr passt.

Schon bei seiner Einführung wurde das Flughafenverfahren von Wohlfahrtsver-
bänden, Menschenrechtsorganisationen und Kirchen heftig kritisiert; die grund-
sätzlichen Bedenken gegen dieses Verfahren und seine gravierenden Folgen für
die Schutzsuchenden bestehen unverändert fort. Sie wurden zuletzt in einer Stel-
lungnahme des Deutschen Anwaltvereins (DAV) e. V. vom März 2012 dar-
gestellt. Auch das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) hält das Flughafen-
verfahren für äußerst problematisch (Pressemitteilung vom 20. Januar 2012).

Die Betroffenen werden für einen nicht genau definierten Zeitraum in einer haft-
ähnlichen Lage gehalten. Das widerspricht Artikel 6 der Rückführungsrichtlinie,
die für eine Inhaftierung zum Zwecke der Rückführung eine vorherige Rück-
kehrentscheidung verlangt. Vor einer solchen Entscheidung ist eine Freiheits-
entziehung unzulässig. Auch Artikel 18 der Verfahrensrichtlinie schließt eine
Freiheitsentziehung nur aus dem Grunde, dass eine Person Asylbewerber ist,
aus.

Die Anhörung der Asylsuchenden findet unmittelbar nach der Ankunft am Flug-
hafen in einer außergewöhnlich schwierigen und stressbeladenen Situation statt.
Eine Anhörung unter den Bedingungen einer haftähnlichen Situation kann den
Anforderungen an eine ordnungsgemäße Anhörung nach Artikel 12 der Verfah-
rensrichtlinie nicht gerecht werden. Eine unabhängige Rechtsberatung vor der
Anhörung ist nicht vorgesehen.

Extrem kurze Rechtsbehelfs- und Begründungsfristen erschweren die Wahr-
nehmung des Rechtsschutzes. Ermittlungen und Nachfragen sind unter diesem

extremen Zeitdruck kaum möglich. Der Europäische Gerichtshof für Menschen-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9174

rechte (EGMR) sieht in fehlendem effektiven Rechtsschutz eine Verletzung des
Rechts auf eine wirksame Beschwerde gemäß Artikel 13 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EGMR, Urteil vom 2. Februar 2012 – 9152/09 –
I.M. ./. Frankreich).

Auch Kinder und unbegleitete Minderjährige müssen das Flughafenverfahren
durchlaufen und werden in der Flughafenunterkunft untergebracht. Gleiches gilt
für andere besonders schutzbedürftige Personen wie etwa Opfer von Folter und
Gewalt. Doch gerade Folteropfer, Traumatisierte und Minderjährige benötigen
besondere Unterstützung und Hilfe, um die wichtigen Befragungen durch die
Bundespolizei und das BAMF zu bewältigen, sowie angemessene Unterbrin-
gung und Betreuung, welche im Transitbereich von Flughäfen nicht gewährleis-
tet sind. Vielmehr stellen die haftähnliche Unterbringung, die Isolierung von der
Außenwelt und die ungewisse Situation eine massive psychische Belastung dar,
die auch immer wieder zu Suizidversuchen führt.

Nach der Rücknahme der Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention
ist nun die Bundesregierung dringend angehalten, jenseits symbolischer Gesten
endlich die substanziellen, bundesrechtlichen Konsequenzen durch Gesetzesan-
passungen insbesondere im Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz zu ziehen
(siehe Bundestagsdrucksache 17/2138).

Am Flughafen werden zudem ohne klare rechtliche Grundlagen Verfahren im
Rahmen der europäischen Zuständigkeitsregelung für die Behandlung von Asyl-
anträgen (Dublin-II-Verordnung) durchgeführt. Der Europäische Gerichtshof
(EuGH) hat am 21. Dezember 2011 entschieden, dass es im Rahmen von
Dublin-II-Verfahren keine automatischen Rückschiebungen in denjenigen Staat
geben darf, der formal für die Behandlung von Asylgesuchen zuständig ist,
wenn es dort systemische Mängel gibt. Derartige Defizite im Asylverfahren oder
drohende unmenschliche Behandlung können im Flughafenverfahren im Einzel-
fall nicht wirksam vorgebracht werden. Rechtsschutz gegen eine Überstellung
im Dublin-II-Verfahren ist in der Kürze der Zeit praktisch nicht möglich.

Während der Gesetzgeber bei der Einführung des Flughafenverfahrens noch von
einer maximalen Verweildauer in der Flughafenunterkunft von wenigen Tagen
ausging, wird dieser Zeitraum in vielen Fällen dramatisch überschritten, seit
eine Gesetzesänderung vom August 2007 auch das Festhalten von abgelehnten
Asylsuchenden, deren Zurückweisung nicht vollzogen werden kann, über län-
gere Zeiträume ermöglicht. Dies führt dazu, dass Personen, die mangels gültiger
Reisedokumente auch nicht freiwillig ausreisen können, teils über Wochen und
Monate faktisch inhaftiert sind.

Die gravierenden menschlichen Härten und substanziellen rechtsstaatlichen De-
fizite sprechen auch vor dem Hintergrund der seit der Einführung des Flugha-
fenverfahrens deutlich zurückgegangenen Flüchtlingszahlen für die Abschaf-
fung dieses Sonderverfahrens.

So hat sich auch der Landtag Brandenburg im Februar 2012 für die Abschaffung
des Flughafenverfahrens ausgesprochen (Bundestagsdrucksache 5/4765).

Das deutsche Flughafenverfahren ist auch nicht mit den zwischenzeitlich wei-
terentwickelten europäischen Verpflichtungen zum internationalen Schutz ver-
einbar. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wehrt sich die Bundesregierung bei den
Verhandlungen zur Änderung der Aufnahmerichtlinie und der Verfahrensricht-
linie gegen Vorschläge für verbesserte Schutznormen. Die Bundesregierung
muss endlich eine konstruktive Verhandlungsposition einnehmen und diese Vor-
behalte fallen lassen.

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