BT-Drucksache 17/896

Mehr Netto für Geringverdienende

Vom 3. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/896
17. Wahlperiode 03. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin
Göring-Eckardt, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Birgitt Bender,
Alexander Bonde, Ekin Deligöz, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Maria
Klein-Schmeink, Agnes Krumwiede, Stephan Kühn, Monika Lazar, Lisa Paus,
Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel, Dr. Harald Terpe,
Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Netto für Geringverdienende

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Arbeit und Leistung sollen sich lohnen, das bezweifelt niemand. Die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von der Bundesregierung, dass sie so-
fort Maßnahmen ergreift, damit sich Arbeit mehr als bisher auch tatsächlich für
diejenigen lohnt, die nur geringe Einkommen erzielen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Lohnnebenkosten für Geringverdienende zu senken (Progressiv-Mo-
dell). Die Abgabenbelastung muss insbesondere für diejenigen verringert
werden, die mit ihrer Arbeit nur ein geringes Einkommen erzielen und we-
nig bis gar keine Steuern zahlen;

2. einen generellen Mindestlohn einzuführen. Wir fordern den Schutz vor
Lohndumping für alle Beschäftigten in allen Branchen. Die Existenz eines
Mindestlohns ist auch Voraussetzung dafür, die Zuverdienstmöglichkeiten
im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu verbessern;

3. die Rechte von Hilfebedürftigen und ihren Angehörigen im SGB II zu stär-
ken. Dazu gehört eine bessere Förderung, mehr qualifizierende Weiterbil-
dung und Motivation der Hilfebedürftigen.

Berlin, den 3. März 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Drucksache 17/896 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung zu den Regelsätzen
des Arbeitslosengelds II (ALG II) vom 9. Februar 2010 eine breite Debatte über
soziale Gerechtigkeit angestoßen und die Bundesregierung zum Handeln aufge-
fordert. Doch statt den Menschen im Lande zu sagen, wie mehr soziale Gerech-
tigkeit hergestellt werden soll, polemisiert der kleine und schweigt die große
Koalitionspartnerin. Mit falschen Zahlen und undifferenzierten Diskussionen
versucht die Fraktion der FDP davon abzulenken, dass ihre Steuersenkungsver-
sprechen klientelorientiert, sozial ungerecht und angesichts der enormen Staats-
verschuldung völlig unrealistisch sind. Getrieben von sinkenden Umfrage-
werten nutzt sie die Debatte über den Sozialstaat dazu, die Schwächsten der
Gesellschaft zu diffamieren und das solidarische Band zwischen steuerpflich-
tigen und hilfebedürftigen Bürgern zu zerschneiden. Besonders perfide ist es,
wie die Fraktion der FDP versucht, beim Thema Lohnabstand Geringverdie-
nende und Bezieherinnen und Bezieher von ALG II gegeneinander auszuspielen
und aufzubringen.

Wer mehr soziale Gerechtigkeit will, muss auch bereit sein, mehr Mittel dafür
zur Verfügung zu stellen. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat
wiederholt konkrete Vorschläge gemacht, wie mehr soziale Gerechtigkeit er-
reicht werden kann. Um eine menschenwürdige Existenz zu sichern, muss der
Regelsatz für Erwachsene sofort auf 420 Euro erhöht werden, wie dies auch die
anerkannten Sozialverbände fordern. Außerdem bedarf es einer wissenschaft-
lich fundierten und nachvollziehbaren Ermittlung eigenständiger Regelsätze für
Kinder und Jugendliche. Die Wohlfahrtsverbände gehen davon aus, dass die
Regelsätze zwischen 280 Euro für kleine Kinder und 360 Euro für Jugendliche
liegen müssen. Ziel der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist es, die be-
stehende Ehe- und Familienförderung gerechter zu gestalten und eine eigen-
ständige Kindergrundsicherung einzuführen.

Gerechtigkeit hat für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viele Dimen-
sionen. Die tatsächliche Gewährleistung des sozio-kulturellen Existenzmini-
mums ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Chancengerechtigkeit und zu mehr
sozialer Gerechtigkeit. Darüber hinaus will die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN selbstverständlich, dass sich Arbeit auch finanziell lohnt. Damit dies
auch im Bereich niedriger Einkommen der Fall ist, müssen Mindestlöhne ein-
geführt und die Sozialabgaben für Geringverdienende gesenkt werden. Dann
bleibt mehr Netto vom Brutto für diejenigen, die von Steuersenkungen nicht
oder nur geringfügig profitieren.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will einen allgemeinen Mindest-
lohn, der mindestens 7,50 Euro pro Stunde beträgt und von einer Mindestlohn-
Kommission festgelegt und jährlich angepasst werden soll. Die festgelegte
Untergrenze muss für alle verbindlich sein und darf von keinem Betrieb und in
keinem Beschäftigungsverhältnis unterschritten werden. Mit dieser Unter-
grenze würde zukünftig Lohndumping zu Lasten der Beschäftigten und Steuer-
zahler wirksam verhindert. Durch Einführung von branchen- und regional-
spezifischen Mindestlöhnen müssen Mindestarbeitsentgelte für einzelne Wirt-
schaftszweige bundesweit oder regional auch oberhalb der Lohnuntergrenze
festgesetzt werden können und allgemeine Gültigkeit erhalten. Dafür ist die
Aufnahme aller Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz notwendig. Eine
Beschränkung auf Tarifverträge einzelner Branchen – wie dies bisher der Fall
ist – ist weder europarechtlich geboten noch inhaltlich gerechtfertigt.

Mit dem Progressiv-Modell der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden
gezielt Geringverdienende entlastet. Für Einkommen bis 2 000 Euro sollen die
Beitragssätze von einem Sockelbeitragssatz aus langsam und stufenlos auf die

normale Höhe der Sozialversicherungsabgaben von gegenwärtig insgesamt
rund 40 Prozent ansteigen. Die bisherigen Mini- und Midi-Job-Regelungen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/896

sollen in diesem Progressiv-Modell aufgehen. Mini-Jobber erhalten anders als
bisher eine Absicherung bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit
und im Alter. Durch das Progressiv-Modell steigen die Nettoeinkommen der
Geringverdiener. Gleichzeitig werden die Betriebe entlastet. Im Handwerk, bei
Dienstleistungen und in vielen anderen Bereichen können so neue Arbeitsplätze
entstehen. Schwarzarbeit wird weniger attraktiv und kann zurückgedrängt
werden.

In der Arbeitsverwaltung muss Fördern und Qualifizieren höchste Priorität be-
kommen. Statt bürokratischer Zumutungen und Gängelung braucht es faire
Spielregeln zur Motivation und Vermittlung der Hilfebedürftigen. Die Hilfe-
bedürftigen müssen das Recht haben, zwischen Maßnahmen zu wählen. Vor-
schläge der Betroffenen müssen Vorrang in der Hilfeplanung haben. Solange
dieses Wunsch- und Wahlrecht nicht verwirklicht ist, dürfen im Rahmen eines
Sanktionsmoratoriums keine Sanktionen verhängt werden. Ombudsstellen sol-
len bei allen Trägern des SGB II eingerichtet werden, um in Konfliktfällen zwi-
schen Hilfebedürftigen und Trägern zu vermitteln.

Um Auswege aus der Armut zu schaffen, müssen Geringverdienende und ihre
Familien die Möglichkeit haben, gute Bildungsangebote nutzen zu können.
Denn Bildung ist die Voraussetzung für individuellen Aufstieg und gerechte
Startchancen. Statt durch Steuersenkungen Länder und Kommunen die finan-
zielle Basis für gute Bildungsangebote zu entziehen, müssen alle staatlichen
Ebenen ihre Investitionen in die Bildungsinfrastruktur erhöhen. Gleichzeitig
muss die Weiterbildungsbeteiligung gerade bei Geringverdienenden und Ge-
ringqualifizierten durch ein Erwachsenen-BAföG und überproportionale För-
derung beim Bildungssparen gesteigert werden.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.