BT-Drucksache 17/8874

Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen

Vom 6. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8874
17. Wahlperiode 06. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Yvonne Ploetz, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Christine Buchholz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge, Dr. Dagmar
Enkelmann, Annette Groth, Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Katja Kipping, Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Cornelia Möhring, Petra Pau,
Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Katrin Werner, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen

Im November 2011 wurden die ersten Teilergebnisse einer von der Bundes-
regierung bereits 2007 beauftragten Studie zum Thema „Lebenssituation und
Belastungen von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung in Deutsch-
land“ vorgelegt. Eine entsprechende Expertinnen- und Expertengruppe wurde
unter der Ägide des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechter-
forschung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Biele-
feld zusammengeführt. Bereits die jetzt vorliegenden Resultate der Studie geben
einen Einblick über das Ausmaß der Gewalterfahrungen von Frauen und
Mädchen mit Behinderung. Die Studie zeigt zugleich den wechselseitigen Zu-
sammenhang von Gewalt und gesundheitlicher Beeinträchtigung bzw. Behinde-
rung im Leben der betroffenen Frauen und Mädchen. Bereits im Kindes- und
Jugendalter sind diese zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch ausge-
setzt als im weiblichen Bevölkerungsdurchschnitt. Gleiches gilt auch im Er-
wachsenenleben dieser Frauen. Die Gewalt geschieht überwiegend im sozialen
Nahraum von Familie oder Partnerschaft sowie in Einrichtungen und am Ar-
beitsplatz.

Insgesamt macht die Studie deutlich, „dass Frauen mit Behinderungen bislang
unzureichend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt geschützt und
darüber hinaus vielfältigen Formen von Diskriminierung und struktureller Ge-
walt ausgesetzt sind.“ (Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behin-
derung und Beeinträchtigungen in Deutschland. Eine repräsentative Unter-
suchung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend – BMFSFJ. Zusammenfassung, November 2011, S.12). Die betroffenen
Frauen können die erlittene Gewalt und Diskriminierung häufig nicht thema-
tisieren. Solches gilt ebenso im institutionellen Kontext – sei es in Heimen,
Werkstätten, Gesundheitseinrichtungen, bei Ämtern und Behörden. Zugleich
gibt es kaum Beschwerdemöglichkeiten oder einen Zugang zu Schutzeinrich-

tungen. So sind der überwiegende Anteil der bestehenden Frauenhäuser und
Frauenberatungsstellen sowie deren Informationsangebote nicht barrierefrei er-
reichbar. In Einrichtungen für behinderte Frauen (und Männer) fehlt es oft an
einer ausreichenden Sensibilisierung des Personals. Die betroffenen Frauen und
Mädchen geraten vielmehr in ein strukturelles Abhängigkeitsverhältnis zu Ver-
treterinnen und Vertretern der verschiedenen Institutionen.

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Seit März 2009 ist das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Be-
hinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) in der Bundesrepublik Deutsch-
land geltendes Recht. Diese betont in Artikel 6 die besondere Benachteiligung von
Frauen und Mädchen mit Behinderung und fordert „Maßnahmen zur Sicherung
der vollen Entfaltung, der Förderung und des Empowerments von Frauen“.

Um dieser Forderung nachzukommen, finanzierte das BMFSFJ ein Pilotprojekt
„Frauenbeauftragte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und
Wohneinrichtungen“ (verantwortlich Weibernetz e. V., Laufzeit Ende 2008 bis
Mai 2011). In diesem Projekt wurden insgesamt 16 Frauen mit Lernschwierig-
keiten (die Projektverantwortlichen nutzen diese Bezeichnung aus der Behin-
dertenbewegung statt der Bezeichnung „geistige Behinderung“) und deren
aktive Unterstützerinnen geschult. 14 Frauen sind auch nach Auslaufen des
Projektes weiterhin als Frauenbeauftragte in Werkstätten oder Wohneinrichtun-
gen tätig. Das Projekt hat gezeigt, dass die Förderung von Frauenbeauftragten
in Einrichtungen Teil einer aktiven Präventionsarbeit gegen Gewalt sein kann
und der Gleichstellungsarbeit neue Impulse gibt. Frauenbeauftragte stärken das
Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein von Frauen mit Behinderung und
fördern notwendige Veränderungen in den Einrichtungen, um Gewalt zu ver-
hindern oder wirksam zu ahnden.

Die seit Jahren von der Bundesregierung aufgelegten Projekte (siehe Bundes-
tagsdrucksachen 16/11603 und 16/9934) haben am Ausmaß sexualisierter Ge-
walt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen wenig geändert.

Die Studie jedoch zeigt dringenden Handlungsbedarf insbesondere im Lichte
von Artikel 16 der UN- Behindertenrechtskonvention. (Übereinkommen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen, Schattenübersetzung des NETZ-
WERK ARTIKEL 3 Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter
e. V.). In ihm verpflichten sich die Vertragsstaaten „alle geeigneten Gesetz-
gebungs-, Verwaltungs- Sozial-, Bildungs- und sonstigen Maßnahmen“ zu
ergreifen, „um Menschen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch außer-
halb der Wohnung vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch,
einschließlich ihrer auf der Geschlechtszugehörigkeit basierenden Aspekte, zu
schützen“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Anzeigen gegen häusliche und sexualisierte Gewalt wurden in den
Jahren von 2005 bis 2011 erstattet, und wie hoch war der jeweilige Anteil
von Anzeigen, die Frauen und Mädchen mit Behinderungen betreffen?

2. Wie viele Ermittlungsverfahren zu sexualisierter und/oder häuslicher Gewalt
gegenüber Frauen und Mädchen wurden – jeweils auf die Jahre von 2005 bis
2011 bezogen – aufgenommen, wie viele wurden eingestellt, und wie hoch
ist jeweils der Anteil von aufgenommenen und eingestellten Ermittlungsver-
fahren, die Frauen und Mädchen mit Behinderungen betreffen?

3. Wie viele Gerichtsverfahren zu sexualisierter und/oder häuslicher Gewalt
wurden jährlich zwischen den Jahren 2005 und 2011 eröffnet, wie viele
davon betrafen Frauen und Mädchen mit Behinderungen, und wie hoch ist
die Verurteilungsquote insgesamt und bezogen auf Frauen und Mädchen mit
Behinderungen?

4. Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um sicherzustellen, dass
Fälle von sexualisierter und/oder häuslicher Gewalt gegen Frauen und
Mädchen mit Behinderungen bei der Polizei und Justiz von speziell geschul-
ten Expertinnen und Experten bearbeitet werden?

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5. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über Ergebnisse des – in
einigen Regionen der Bundesrepublik Deutschland bereits erprobten – Ver-
fahrens der anonymen Beweissicherung vor, und welche Maßnahmen plant
die Bundesregierung zum bundesweiten Ausbau dieses Verfahrens auch für
Frauen und Mädchen mit Behinderungen?

6. Wie begründet die Bundesregierung die noch immer fehlende Klarstellung
in § 179 des Strafgesetzbuchs, dass „behindert“ nicht gleichbedeutend ist
mit „widerstandsunfähig“, und welche Schritte wurden unternommen, um
diese gesetzliche Hintertür zu schließen, die es erlaubt, sexualisierte Ge-
walt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen als Vergehen und
nicht als Verbrechen zu behandeln?

7. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um das Pilotprojekt von
Frauenbeauftragten in Einrichtungen wie Werkstätten und Wohnheimen
weiter zu fördern und auszubauen?

8. Befürwortet die Bundesregierung, Frauenbeauftragte in Werkstätten und
Wohnheimen als verbindlichen Standard rechtlich zu verallgemeinern?

Wenn nein, mit welcher Begründung?

9. Welchen gesetzlichen Änderungsbedarf sieht die Bundesregierung, ins-
besondere für die Werkstättenverordnung, die Werkstättenmitwirkungs-
verordnung, um vor allem den Schutz von Frauen vor sexualisierter Gewalt
zu verbessern, die Aufdeckung von Missbrauch und Gewalt zu erleichtern
sowie nachhaltige Sanktionen gegen Täter verbindlich vorzuschreiben?

10. Welche gesetzgeberischen Initiativen will die Bundesregierung im Sinne
der Verbesserung des Schutzes von Frauen und Mädchen mit Behinderun-
gen im Rahmen der Heimgesetzgebung ergreifen?
Wie könnte die Position von Frauenbeauftragten hier verankert und mit
entsprechenden Standards ausgestattet werden?
Welche Mitwirkungsrechte sollen den Frauenbeauftragten eingeräumt
werden?
Welche Sanktionsmöglichkeiten sollten in Fällen von Gewalt verankert
werden?

11. Wie soll die finanzielle Sicherung der „notwendigen Bedingungen“ für
Frauenbeauftragte entsprechend den Empfehlungen von Weibernetz e. V.
erfolgen (Frauenbeauftragte in Einrichtungen – Projektergebnisse und
Empfehlungen, Weibernetz e. V., November 2011)?

12. Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, damit Frauen und
Mädchen mit Behinderungen, die von Gewalt betroffen sind, einen barrie-
refreien Zugang zu Hilfs- und Schutzeinrichtungen entsprechend der Forde-
rung des CEDAW-Ausschusses der Vereinten Nationen zur Beseitigung
jeder Form von Diskriminierung der Frau in seinen abschließenden Bemer-
kungen zum sechsten Staatenbericht der Bundesregierung vom 10. Februar
2009, erhalten?

13. Welchen weiteren Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung angesichts
des Ausmaßes von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderung,
um ein flächendeckendes Hilfs- und Unterstützungssystem für die Betrof-
fenen zu schaffen, sei es in Einrichtungen oder im familiären Umfeld?

14. Wie stellt sich für das Haushaltsjahr 2012 die finanzielle und personelle
Absicherung der Frauenhäuser dar?
Wie viele Frauenhäuser sind mit speziellen Angeboten für Frauen und
Mädchen mit Behinderung barrierefrei?
Welche weiteren Programme zur Entwicklung barrierefreier Frauenhäuser

sind geplant?

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15. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung eines Sofortprogrammes
zur Schaffung barrierefreier Beratungsstellen sowie zur Fortbildung von
Beraterinnen und Beratern sowie Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mit-
arbeitern, um sachkundiger und im Sinne der Selbstbestimmung der betrof-
fenen Frauen und Mädchen auf sexualisierte und/oder häusliche Gewalt
reagieren zu können?

16. Welche finanziellen Ressourcen stellt die Bundesregierung 2012 den Selbst-
hilfeinitiativen von Frauen mit Behinderung zur Verfügung, um präventiv
und juristisch gegen sexualisierte und/oder häusliche Gewalt vorzugehen?

17. Welche bundesweit nutzbaren Informationsangebote stellt die Bundesregie-
rung gegenwärtig in leichter Sprache bereit, und welche weiteren Informa-
tionsangebote barrierefreier Kommunikation bestehen und sollen entwickelt
werden?

18. Wie sichert die Bundesregierung die barrierefreie Nutzungsmöglichkeit des
bundesweiten Hilfetelefons, insbesondere für die in der Studie als beson-
ders von Gewalt betroffen hervorgehobenen gehörlosen und sehbehinder-
ten Frauen, sowie Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen und Lern-
schwierigkeiten?

19. Wie ist – angesichts des Umfangs der Gewaltformen, zu denen das bundes-
weite Hilfetelefon nutzbar sein soll (häusliche Gewalt, Stalking, Zwangs-
verheiratung, Gewalt im Namen der „Ehre“, Frauenhandel, Zwangsprosti-
tution, Genitalverstümmelung, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder
im öffentlichen Raum sowie Gewalt gegen Migrantinnen und Frauen mit
verschiedenen Behinderungen) – die jeweilige Spezifik als auch die Mehr-
dimensionalität der notwendigen Beratungsleistungen gesichert, vor allem
vor dem Hintergrund, dass ebenso Migrantinnen mit Behinderungen dieses
Hilfsangebot nutzen können?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Studie „Le-
benssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderung und Beein-
trächtigungen …“ die Forderung der Antidiskriminierungsstelle des Bun-
des, ein Klagerecht bei Antidiskriminierungsfällen sowie Sanktionsmög-
lichkeiten für den Fall zu erhalten, dass ihr notwendige Informationen vor-
enthalten werden?

21. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung für die personelle und
finanzielle Ausstattung der Antidiskriminierungsstelle angesichts der Tat-
sache, dass die Studie auf eine erhebliche Dunkelziffer von sexualisierten
und/oder häuslichen Gewaltakten gegenüber Frauen mit Behinderung ver-
weist und angesichts der Forderung des CEDAW-Ausschusses zur Beseiti-
gung jeder Form von Diskriminierung der Frau, „eine Erweiterung des Man-
dats der Antidiskriminierungsstelle in Betracht zu ziehen und sie mit zusätz-
lichen Untersuchungs- und Sanktionsbefugnissen auszustatten“ (CEDAW-
Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau,
43. Sitzung, CEDAW/C/DEU/CO/6 vom 10. Februar 2009, S. 9)?

Berlin, den 5. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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